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Die STERN VON ANDHAKLEIA Ozean des Morgens, 7o Seemeilen östlich von Coleopa, an Bord der Karavelle Stern von Andhakleia, zur selben Stunde

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Ein leises Knarren ging durch den Rumpf des Schiffes. Kapitänin Surjadora hielt inne und legte das harte Maisbrot, mit dem sie eben noch gegen die Tischplatte geklopft hatte, um die darin befindlichen Maden zu vertreiben, neben die flache Suppenschüssel. Sie lauschte ... und wurde in Gedanken eins mit dem Schiff, von dessen Planken aus sie bereits die Wunder der halben Ehernen Liga erblickt hatte. Stumm betete sie um Wind. Doch das Knarren wiederholte sich nicht.

Surjadora erhob sich unruhig und trat an das Fenster ihrer Kajüte. Ihr Blick fiel durch die bunte Bleiglasscheibe auf das hinter dem Heckkastell hängende Beiboot. Die Bänder am Rande des Segeltuchs, mit dem es abgedeckt war, hingen schlaff herab. Kein Lüftchen regte sich. Die See war glatt wie ein riesiger Spiegel, der sich von Horizont zu Horizont spannte.

Von der Bavakuleos, der zweiten Karavelle unter ihrem Oberkommando, war nichts zu sehen. Sie mußte ein Stück voraus liegen, jenseits des engen Blickwinkels, den das Fenster gewährte, genauso unbeweglich mit der gläsernen Oberfläche der See verschmolzen wie die Stem von Andhakleia. Dennoch, das Knarren von vorhin konnte nur eines bedeuten: Eine leichte Brise war über das Schiff gestrichen und hatte sich in den Segeln gefangen.

Diese verdammte Flaute mußte endlich ein Ende haben!

Surjadora verharrte am Fenster und lauschte. Über ihr, auf dem Deck des Heckkastells, waren die Schritte von Lakshapheus, ihrem Steuermann, zu hören, und auf dem Hauptdeck erklangen gedämpft die Rufe einiger Seeleute. Sicher hatten sie den Wind ebenso gespürt wie sie. Am liebsten wäre sie an Deck gestürmt, um gleich den anderen hoffnungsvoll nach weiteren Anzeichen einer aufkommenden Brise Ausschau zu halten. Doch ein solches Getue wäre mit der Würde eines Kapitäns unvereinbar. Also würde sie kühle Gelassenheit wahren. Wenn sie eines in den siebenundvierzig Jahren ihres Lebens gelernt hatte, dann war es die schlichte Tatsache, daß eine Mannschaft nur mit eisenharter Disziplin und der Zurschaustellung vollkommener Selbstbeherrschung in den Griff zu bekommen war. Je mehr Respekt die Besatzung vor dem Kapitän hatte, desto besser war es für das Schiff. Das galt insbesondere für sie, Surjadora, die einzige Frau im Kapitänsrat von Andhakleia.

Surjadora war sich sehr wohl des Umstandes bewußt, daß die Männer an Bord – ebenso wie die Kapitäne und Würdenträger der Hauptstadt – nur auf ein Zeichen ihrer Schwäche warteten, um dann hinter ihrem Rücken mit bitterem Spott über sie herzufallen. Man verzieh ihr nicht, daß sie nie in den Stand der Ehe getreten war. Als Trägerin des Kontorschlüssels der Familie Kerishades galt sie schließlich als gute Partie. Jedenfalls damals, als sie noch jung war.

Bewerber hatte es genug gegeben; sie hatten sich um sie geschart wie Kaufleute um eine Ladung kurjamäischer Glaskaraffen. Doch hätte sie einen von ihnen zum Gemahl erwählt, wäre er als Familienoberhaupt zum neuen Träger des Kontorschlüssels ernannt worden. Sie hätte nicht länger zur See fahren können, sondern hätte daheim langweilige Repräsentationspflichten übernehmen müssen. Wenn es aber eine Sache gab, der ihre ganze Leidenschaft galt, dann war es die endlose Weite des Meeres. Die Weite des Meeres und ...

Aufgeregtes Rumpeln ertönte auf der Treppe vor der Kajütentür, dem Augenblicke später ein zaghaftes Klopfen folgte. Surjadora nahm Haltung an und zog ihren Sari glatt, der im strengen Blau der kurjamäischen Handelsmarine gehalten war. Sie trat zurück an den Tisch, so daß es aussehen mußte, als hätte sie sich gerade erst von ihrem kärglichen Mahl erhoben.

»Herein!«

Die Tür öffnete sich, und Tvashi, der zehnjährige Schiffsjunge, betrat mit geröteten Wangen den Raum. Sein dunkelbraunes Haar war zerstrubbelt und die Stupsnase in seinem sommersprossigen Gesicht mit Pech verschmiert. Das übergroße graue Hemd, in dem er herumlief, seit Surjadora den Jungen vor gut sechs Monden aus dem Waisenhaus des ordo nostrae dominae myrea in Andhakleia aufs Schiff geholt hatte, hing an der Seite aus der schmutzigen Pluderhose heraus.

»Kapitänin, Bootsmann Brahthos schickt mich. Wind! Seit fünf Tagen hat eben das erste Mal wieder ein Lüftchen geweht!«

Surjadora mochte die Art des Jungen. Sie fuhr mit der Hand zum Mund und räusperte sich leise, so als hätte sie sich an dem trockenen Maisbrot verschluckt, damit er ihre Belustigung nicht bemerkte. Dann hatte sie sich wieder in der Gewalt, und ihr Gesicht ähnelte dem Antlitz einer der ernst dreinblickenden Statuen im pompösen Palastgarten von Maharadscha Mahatargos III., in dessen Auftrag sie unterwegs war.

»Es ist nicht so, daß mir das entgangen wäre, Schiffsjunge Tvashareo. Hat dir der Bootsmann noch etwas anderes mit auf den Weg gegeben?«

Tvashi blickte die Kapitänin aus großen Augen an und grübelte verzweifelt darüber nach, ob er irgend etwas vergessen hätte. Seine Stimme hatte etwas Verzagtes, als er fortfuhr.

»Bei der Galeere des heiligen Myriander, hat Bootsmann Brahthos zu mir gesagt. Tvashi, lauf mal eben zur Kapitänin und sag ihr, daß da ein Furz von Wind aufgekommen ist. Das war alles.«

»Soso, das war also alles?« Surjadora hatte wiederum Mühe, ihren strengen Gesichtsausdruck zu wahren. »Ich vermute mal, daß dies ein paar mehr Einzelheiten waren, als Bootsmann Brahthos mir zukommen lassen wollte ... Gut. Richte ihm aus, daß ich an Deck kommen werde.«

»Mach ich!« Tvashi drehte sich um und wollte schon die Tür hinter sich zuschlagen, als Surjadora ihn noch einmal zurückrief. »Schiffsjunge Tvashareo!«

Der Kleine drehte sich ängstlich um.

»Wie heißt das?«

Tvashi bemühte sich, Haltung einzunehmen »Jawoll, Kapitänin Surjadora.«

»Jetzt darfst du gehen. Ach ja, wenn du bitte dein Hemd richtig in die Hose stecken würdest. Dein Äußeres ist nicht dazu angetan, die Disziplin an Bord zu stärken.«

»Jawoll, Kapitänin Surjadora.« Verlegen stopfte sich Tvashi sein Hemd in die Hose, und der Blick der Kapitänin fing ein kleines, halbmondförmiges Muttermal ein, das sich auf der Bauchdecke des Jungen abzeichnete. Vorsichtig schloß er die Kajütentür hinter sich, und Surjadora hörte, wie ihr Schiffsjunge in großen Sätzen die Treppe hinaufeilte.

Die Kapitänin schob ihr Essen beiseite. Jetzt endlich erlaubte sie sich, unbefangen zu lächeln. Sorgfältig wickelte sie ihren Turban und überprüfte seinen Sitz mit einem kritischen Blick in den kleinen Spiegel, der neben dem leomannischen Zierdolch hing, den sie auf einer ihrer Reisen erworben hatte. Surjadora runzelte die Stirn. Einst mochte sie eine gute Partie gewesen sein. Doch jetzt zeugten tiefe Linien in ihrem Gesicht von dem rauhen Leben auf See. Das war der Preis dafür, daß sie ein Leben nach ihren eigenen Vorstellungen geführt hatte. Dennoch überfielen sie in Zeiten wie diesen, da sie nichts tun konnte, um auf die Ereignisse um sich herum Einfluß zu nehmen, auch Zweifel ...

Ihre Mannschaft erwartete sie an Deck. Surjadora setzte wieder die Maske unerschütterlichen Gleichmuts auf. Ihre Züge glätteten sich; so sah sie sogar ein wenig jünger aus. Dies war das Gesicht, das sie der Welt zu zeigen gedachte! Niemals würde sie klein beigeben. Sie würde dem Buckligen, dem unheiligen Zweifler, Zauderer und Unglücksbringer, bis zu ihrem Todestag tapfer die Stirn bieten und ihn im Namen aller Hochheiligen verhöhnen – gleich welche Schwierigkeiten er noch für sie und ihre Männer ausbrütete.

Mit festem Schritt machte sich die Kapitänin auf den Weg nach oben.

Als Surjadora das Zwischendeck betrat, verstummten die Seeleute auf dem Hauptdeck und hielten gespannt in ihren Tätigkeiten inne. Es war heiß, und den Männern floß der Schweiß in Strömen über die nackten Oberkörper. Das einzige Geräusch, das die Ruhe störte, war das Kreischen zweier Möwen, die die Karavelle seit ihrem Vorstoß in den Ozean des Morgens begleitet hatten.

Surjadora bedauerte es, daß sie gut einen Kopf kleiner war als die meisten Männer an Bord. Aus diesem Grund schätzte sie es, ihre Kommandos von oben vom Achterdeck aus zu erteilen. Aber natürlich ließ sie sich diesen Gedanken auch heute nicht anmerken. Sie schlug die Hände hinter dem Rücken zusammen. »Weitermachen!«

Umgehend kam wieder Bewegung in die Mannschaft.

Zwischen Fock- und Großmast hatten die Männer ein großes Sonnensegel aufgespannt. Der Geruch heißen Teers hing in der Luft. Auf der Steuerbordseite des Vorderkastells, knapp unterhalb der Galionsfigur mit dem großen, sich aufbäumenden Elefanten, waren vier Seeleute unter Anleitung von Schiffszimmermann Tarjixes damit beschäftigt, die Außenplanken des Schiffes zu kalfatern. Andere Seeleute schrubbten das Deck, besserten das Tauwerk aus oder ölten die Rundhölzer ein. Geschützmeister Bashorides hatte derweil sechs seiner Leute auf dem Vorderkastell Aufstellung nehmen lassen, um mit ihnen an den Siebener-Elephantinen zu exerzieren, Torsionsgeschützen, die in einer leichteren Version auch auf den Rücken der kurjamäischen Kriegselefanten eingesetzt wurden. An den Anblick von Soldaten auf ihrem Schiff hatte sich Surjadora noch immer nicht gewöhnen können. Aber bei einer Expedition ins Unbekannte durfte man auf eine solche Vorsichtsmaßnahme nicht verzichten.

Sie schüttelte unmerklich den Kopf und musterte wieder ihre Mannschaft. Die Aufmerksamkeit der Männer an Deck galt eher dem eigenartigen Stern am Himmel, der seit zwei Tagen dicht über dem Horizont sichtbar war, als ihren eigentlichen Aufgaben.

Kapitänin Surjadora merkte sich die Namen der diensthabenden Offiziere. Sie würde sie am Abend in der Messe auf ihre nachlässige Art ansprechen, wie sie die Mannschaft führten. Dann trat auch sie an die Reling, um den fernen Wanderer am Horizont zu betrachten. Surjadora hatte über dieses Himmelsphänomen schon ausführlich mit den Navigatoren der beiden Karavellen gesprochen, doch man war sich nicht einig geworden, wie das Erscheinen des Sterns zu deuten war. Sicher wußten die Kosmographen daheim an der andhakleischen Himmelswarte, was es damit auf sich hatte. Vielleicht gehörte der fremde Gast am Himmel ja auch lediglich zu den Merkwürdigkeiten, mit denen man so weit westlich der bekannten Schiffahrtswege rechnen mußte? Niemand auf den beiden Schiffen wußte das Omen zu deuten. Bootsmann Brahthos in seinem Aionarseifer fand sich bereits dreimal am Tag auf dem Vorderkastell zum Gebet ein und faselte ständig von göttlichen Vorzeichen. Bisher belächelten die Männer seine Aufregung.

Die Kapitänin erklomm über eine Treppe das Achterkastell, wo Steuermann Lakshapheus, ihr Erster Offizier, seinen Dienst versah. Neben ihm standen Bootsmann Brahthos und Garuleos, der Schiffskoch, dem man ansah, daß er noch lieber aß als kochte. Brahthos rieb wie immer geistesabwesend über den achtzackigen kupfernen Gottesstern. Surjadora konnte sich nicht erinnern, den stämmigen Mann jemals ohne das schützende Medaillon gesehen zu haben, das er an einem roten Seidenband um den Hals trug.

Alle drei grüßten die Kapitänin knapp, und Lakshapheus deutete nach achtern. Von dort rollte dumpf das rhythmische Wummern einer Kriegstrommel über die See, dem die Schmerzensschreie eines Mannes folgten. Die Kapitänin blickte ausdruckslos zu der Bavakuleos hinüber, die keine sechs Mastlängen entfernt auf dem spiegelglatten Meer lag. Kapitän Vanakinos ließ wieder einmal einen seiner Männer auspeitschen.

Surjadora konnte es sich nicht leisten, gegenüber ihren Untergebenen ein Urteil über den Kapitän abzugeben. Doch jeder wußte, daß Vanakinos ein überheblicher Seeoffizier war, der seine Launen gern an den Untergebenen ausließ. Die Kapitänin ahnte, daß Vanakinos es insgeheim nicht verwinden konnte, daß der Maharadscha ihr, Surjadora, einer einfachen Handelskapitänin, das Oberkommando über diese Expedition anvertraut hatte. Und das, obwohl Vanakinos vor fünf Jahren mit der Erstürmung der Piratenzitadelle von Kalikatto eines der ruhmreichsten Kapitel in der Geschichte der kurjamäischen Kriegsmarine geschrieben hatte. Aber Vanakinos hatte eben nicht der späteren Lieblingsgattin von Mahatargos III., Fatihia, das Leben gerettet, als das Brautschiff, das die damals neunzehnjährige Prinzessin von Antilopia zur Hochzeit nach Andhakleia bringen sollte, von zwei Piratenseglern aufgebracht worden war. Ehrlich gesagt hatte Surjadora keine Ahnung gehabt, welch hoher Besuch an Bord dieses Schiffes geweilt hatte, das sich damals vor den Krabbenlagunen von Urtumbra so verzweifelt gegen die Übermacht der Freibeuter zur Wehr gesetzt hatte. Doch für Surjadora war das Bündnisversprechen der Ehernen Liga mehr als nur Tinte auf einem Pergament. Vor allem seit ihr Vater bei einem Kampf gegen Piraten den Tod gefunden hatte.

Seit der Rettung Fatihias stand sie, die einfache, unbequeme Handelskapitänin, in der Gunst des Maharadschas. Und sei es auch nur, weil Mahatargos’ Gemahlin bei ihm stets ein gutes Wort für sie einlegte.

»Das ist schon der vierte in zwei Wochen.« Lakshapheus strich sich beim Anblick der Bavakuleos nachdenklich über den gepflegten Wickelbart, und sein Kommentar war wie immer von einer gewissen Nüchternheit geprägt. Wie Surjadora trug auch er einen weißen Turban, der seine dunklen, tiefgründigen Augen hervorhob.

»Ja, bei der Knute des heiligen Chrysantho! Wir sollten ebenfalls härter durchgreifen.« Brahthos’ Finger schlossen sich tatendurstig um die Reling. »In den letzten Tagen ist es mit der Disziplin an Bord nicht ...«

»Bootsmann Brahthos, ich lasse Euch wissen, wann ich Euch um Eure Meinung bitte.« Surjadora fixierte Brahthos scharf, der sich überrascht zu ihr umwandte und sogar vergaß, an seinem achtzackigen Gottesstern zu reiben.

»Ihr habt den Schiffsjungen zu mir kommen lassen?«

»Ah, ja, Kapitänin. Aber die Hoffnung auf Wind war offensichtlich etwas übereilt.« Der Bootsmann leckte sich fahrig über die Lippen.

»Das werden wir noch sehen. War noch etwas?« Surjadora waren körperliche Züchtigungen zuwider. Die beiden Karavellen waren schließlich keine Kriegsschiffe, trotz der vierzig Seesoldaten, die sie an Bord hatten. Der Bootsmann verneinte, und Surjadora entließ ihn mit einem Kopfnicken.

»Dafür muß ich Euch sprechen, Kapitänin.« Garuleos, der Koch, senkte die Stimme, so daß diese nur von ihr und Lakshapheus gehört werden konnte, und kratzte sich den Bauch unter dem fleckigen Hemd. Bei der Mannschaft hielt sich das Gerücht, daß der Schiffskoch früher in der Palastküche des Satrapen von Biritemon, einem der Statthalter Seiner Majestät, gedient habe. Zumindest so lange, bis er sich zu einer Affäre mit dessen Tochter habe hinreißen lassen. Ein anderes Gerücht besagte, der Schiffskoch habe einen Pakt mit Gischtmaiden geschlossen, die ihm bei der Zubereitung der Speisen heimlich zur Hand gingen. Auf dieses abergläubische Geschwätz gab die Kapitänin nur wenig. Aber auch sie wunderte sich darüber, wie es dem Mann gelang, mit den kargen Beständen an Bord derart köstliche Gerichte zu bereiten. Gutes Essen sorgte für eine gute Moral. Ein Mittel, das allemal besser geeignet war als die Peitsche ...

»Die Wasservorräte werden langsam knapp. Und mit den übrigen Vorräten steht es auch nicht mehr zum besten. Wir haben nur noch siebzehn Säcke Maismehl und zwanzig Säcke rote Bohnen. Frisches Obst und Gemüse sind seid zwei Wochen aufgebraucht. Die Männer werden krank werden. Und wenn wir die Rationen nicht kürzen ...«

Surjadora und Lakshapheus tauschten einen kurzen Blick. Sie fuhren schon so lange gemeinsam zur See, daß sie einander wortlos verstanden. Der Schiffskoch räusperte sich und fuhr leise fort. »Ich meine, wir kreuzen nun schon seit nahezu drei Monden im Meer des Morgens und haben in der ganzen Zeit kein Land gesehen. Ich weiß ja nicht, wonach wir suchen, aber so weit im Westen war bisher niemand zuvor. Die Kataueken vielleicht, aber wir? Mißversteht mich bitte nicht, Kapitänin, aber ...«

Surjadora bemühte sich um eine ausdruckslose Miene. »Ich weiß, wie es um die Nahrungs- und Wasservorräte bestellt ist, Garuleos. Ihr haltet mich ja jeden Tag darüber auf dem laufenden. Kürzt die tägliche Wasserration von morgen an auf eindreiviertel Krug pro Mann. Mich eingeschlossen.«

»Wie Ihr wünscht, Kapitänin.« Aus Garuleos’ Stimme sprach unverhohlene Besorgnis, doch Surjadora wußte selbst, was es für Männer bedeutete, bei dieser Hitze vorwiegend von Salzfleisch und hartem Maisbrot zu leben und dann auch noch die Wasserration gekürzt zu bekommen.

Garuleos eilte wieder zum Vorderkastell, wo seine Kombüse lag. Auch in Lakshapheus’ Haltung war etwas, das Surjadora sagte, daß sich andere Kapitäne schon längst dazu entschlossen hätten, zum Festland zurückzukehren, anstatt immer weiter nach Westen zu segeln. Sie ließ es sich nicht anmerken, aber im Inneren ihres Herzens hatte auch sie die Sorge beschlichen, es in ihrem Ehrgeiz zu weit getrieben zu haben. So war sie über die Flaute regelrecht dankbar, da ohne Wind ohnehin jede Kurskorrektur unmöglich war.

»Steuermann«, wandte sich die Kapitänin an Lakshapheus. »Bitte überprüft angesichts der verminderten Vorratslasten möglichst bald, wie es mit den Laderäumen bestellt ist. Ich denke, es ist Zeit, an das Trimmen und den Ausgleich der Gewichte zu denken.«

Unten im Laderaum der Karavelle befand sich ein ganzes Warenlager an Dingen, die verrieten, daß sich die Expeditionsflottille keinesfalls auf einer Spazierfahrt befand: ein regelrechtes Waffenarsenal an Entermessern, Piken, Bögen, Wurfspießen, Schilden, Panzern, Schulterblechen und Sturmhauben. Hinzu kamen Feldschmieden, Reservemasten, Segel, Ballastsäcke, Flaschenzüge, Pumpen, Werg, Teer und Häute zum Abdichten. Auch an ein Tauschlager war gedacht worden: Zinnober, Kupfer, Elfenbein, Blei und Alaun, dicke Tuchballen sowie Trinkgläser aus kostbarem kurjamäischem Glas. Selbst Blechgeschirr und fünf Sack Glasperlen befanden sich im Schiffsbauch, wie es die Eingeborenen ferner Länder wie Esanuk liebten. Angeblich tauschten sie solchen Glitzerkram mitunter sogar gegen Gold. Doch da durch den Verbrauch der mächtigen Last an Nahrungsmitteln große Löcher im Laderaum klafften, konnte bereits mittelschwerer Seegang dafür sorgen, daß die Ladung verrutschte und das Schiff kenterte.

»Bavakuleos gibt das Zeichen, äh, daß, äh, ich glaube, daß Kapitän Vanakinos an Bord kommen möchte.« Die helle Stimme kam von oben und überschlug sich vor Aufregung. Die Mannschaft grinste unverhohlen. Surjadora fiel erst jetzt auf, daß jemand Tvashi in den Ausguck geschickt hatte.

»Schiffsjunge Tvashareo! Signalisiere zurück, daß ich Kapitän Vanakinos an Bord der Stern von Andhakleia erwarte.«

»Ah, das kann ich nicht, Kapitänin. Ich ...«, die Stimme wurde vor Verlegenheit leiser, »ich hab die Flaggen vergessen.«

Selbst auf dem Vorderkastell, bei den Seesoldaten, war rauhes Lachen zu hören. Nun, solange die Männer noch lachen konnten, ging es ihnen gut. Tatsächlich waren die Kriegstrommeln, die die Auspeitschung an Bord der Bavakuleos begleitet hatten, schon längere Zeit verstummt.

Vanakinos hatte es offenbar ohnehin nicht für nötig empfunden, auf eine Bestätigung von der Stern von Andhakleia zu warten. Er ließ in diesem Augenblick bereits sein Beiboot klarmachen. Die Kapitänin warf ihrem Ersten Offizier einen verärgerten Blick zu, den dieser mit hochgezogenen Augenbrauen erwiderte.

»Vanakinos soll nicht glauben, daß ich ihn persönlich an Bord willkommen heiße. Tut Ihr das für mich, Lakshapheus, und kommt dann in meine Kajüte. Ach ja, und holt mir den Jungen da oben aus dem Ausguck.«

Surjadora ging unter Deck und ließ sich Zeit, als es endlich an ihre Kajüttür klopfte. Verärgert zählte sie im stillen bis zehn. Dann ließ sie ein gedehntes »Herein!« hören.

Vanakinos betrat die Kajüte noch vor Lakshapheus und verbeugte sich steif. Der Schwung seiner schmalen Lippen verriet Arroganz, und so wie sie war auch er darum bemüht, einen möglichst gelassenen Eindruck zu erwecken. Doch das leichte Beben seiner Nasenflügel über dem dichten Vollbart verriet ihr, daß der Mann seine gesamte Selbstbeherrschung aufbrachte, um ihr jenen Respekt zu erweisen, der ihr als Kommandantin der Expedition zustand. In Wahrheit verachtete Vanakinos sie.

Demonstrativ hatte der Kapitän seine eiserne Kriegshaube unter den Arm geklemmt und ließ seine Kommandierende damit wissen, daß er – im Gegensatz zu ihr – kein Zivilist war. Sein Helm war mit einem Band aus ineinander verdrehten, grünen und weißen Seidentüchern umschlungen, an dem ein kleiner Smaragd inmitten eines goldenen Sterns befestigt war. Dieses Ehrenzeichen erhielten Kapitäne, die an mindestens zehn siegreichen Seegefechten beteiligt gewesen waren. Außer Vanakinos war bislang nur einem einzigen weiteren Offizier der kurjamäischen Kriegsmarine dieses höchste aller Ehrenzeichen verliehen worden.

»Ich freue mich über die Einladung, an Bord kommen zu dürfen.«

Das war ja wohl der Gipfel der Frechheit. Surjadora nahm die Beleidigung mit einem zynischen Lächeln zur Kenntnis.

»Gab es schon wieder Probleme mit Eurer Mannschaft?«

Vanakinos’ Linke ballte sich zur Faust. Jedem im Raum war klar, daß ihm Surjadora damit Führungsschwäche unterstellte. Ungefragt setzte er sich an den Klapptisch, und nach einer kurzen Aufforderung von seiten Surjadoras ließ sich auch Lakshapheus auf einer Seekiste nieder. Vanakinos behandelte den Steuermann wie Luft.

»Ich denke, ich verrate nicht zuviel, wenn ich darauf hinweise, daß die Mannschaft langsam unruhig wird. Ehrbare kurjamäische Seeleute sind schließlich keine katauekischen Tangfresser.«

»Wenn wir den Kataueken ein Schnippchen schlagen wollen, dann sollten wir uns vielleicht an den Gedanken gewöhnen, daß auch kurjamäische Seeleute in unbekannte Gefilde vorstoßen können. Habt Ihr Euch schon einmal gefragt, warum wir das Meer direkt vor unserer Tür Ozean des Morgens nennen? Und das, obwohl in Kurjameos wie überall auf der Welt die Sonne im Osten aufgeht? Weil diesen, wie sagtet Ihr so treffend, katauekischen Tangfressern die Meere gehören. Sie benennen die Ozeane, und wir, die wir uns kaum außer Sichtweite der Küsten wagen, übernehmen ihre Namen, auch wenn sie uns noch so unsinnig erscheinen. Mit ihren Nauken und ihren geheimen Navigationsgeräten gelangen sie an Orte, die für uns unerreichbar in der Weite des Ozeans verborgen liegen. Selbst die verdammten Merkantilier wissen nicht, wie die Kataueken das zuwege bringen. Und das, obwohl sie in Maganta schon weit länger Handel mit ihnen treiben als die Staaten der Ehernen Liga.«

»Inzwischen haben wir zwei Monde lang kein Land mehr gesehen. Die Nahrungsmittel gehen zur Neige, und ich kann keinen Sinn darin erkennen, daß wir weiterhin ...«

»Kapitän Vanakinos!« Surjadoras Augen blitzten. Es war an der Zeit, die Machtverhältnisse zu klären. »Ihr mögt mit Sicherheit ein tapferer Seesoldat und exzellenter Stratege sein. Aber was Seefahrt und Navigation anbelangt, solltet Ihr Euch besser auf mein Wort verlassen. Ich bin Zivilistin, kein Soldat. Wenn ich ein Wagnis eingehe, dann nicht aus blindem Gehorsam, sondern aus wohlbedachten Gründen.«

Vanakinos, der sie verschnupft anblickte, mußte nicht wissen, daß sie ruiniert wäre, wenn die Expedition fehlschlüge. Das wußte noch nicht einmal Lakshapheus, und der gehörte schon seit fast zehn Jahren zu ihren engsten Vertrauten.

»Ich bin mir sicher, daß wir alle die Hoffnung, die Maharadscha Mahatargos III. in uns setzt, erfüllen werden. Eine Expedition wie die unsere ist schon seit unzähligen Generationen nicht mehr unternommen worden. Es ist eine Ehre, daran teilzuhaben.«

Vanakinos sah sie mit unbewegtem Gesicht an. »Es steht mir nicht zu, Eure Entscheidungen in Frage zu stellen, Kapitänin. Aber ich mache darauf aufmerksam, daß ich die Pflicht habe, Euch über den wachsenden Unmut unter den Seeleuten in Kenntnis zu setzen. Vor allem, da Eurem Ersten Offizier dazu offenbar der Mut fehlt.«

Kapitänin und Vanakinos lieferten sich mit ihren Blicken ein stummes Duell, das indes keiner von beiden für sich zu entscheiden vermochte. Surjadora war sich darüber im klaren, daß sie vor lauter Wut auf Vanakinos’ überhebliche, maßlose Art drauf und dran war, ihn sich endgültig zum Feind zu machen. Dabei wußte sie doch, daß sein Ärger vor allem auf seiner Unwissenheit beruhte. Allerdings wollte sie nicht riskieren, daß er sich beim nächsten Sturm absetzte, indem er auf nördlichen Kurs ging – was sie ihm durchaus zutraute.

»Gut, Kapitän Vanakinos.« Surjadora seufzte. »Da dies keine Expedition der kurjamäischen Kriegsmarine ist, werde ich die Geheimniskrämerei beenden und mein Schweigen vor der Zeit brechen. Euch mag dies angesichts der Lage, in der wir uns befinden, überraschen, aber ich bin mir sicher, daß wir unser Ziel schon bald erreicht haben werden. Wenn wir noch ein wenig durchhalten, dann wird uns eine der größten Entdeckungen unserer Zeit glücken. Und beim heiligen Myriander, ich bin mir sicher, daß uns das Schicksal gewogen sein wird!«

Beide Männer musterten Surjadora mit unverhohlener Neugier.

»Wie bereits bekannt, besteht unsere Mission darin, im Auftrage von Mahatargos III. das Purpurmonopol Serkan Kataus zu brechen. Ich brauche sicher nicht weiter auszuführen, welche ungeheuerlichen Verdienstmöglichkeiten sich daraus für Kurjameos ergäben, falls uns das gelänge. Den Herren sind die Gerüchte bekannt, daß die Kataueken den kostbaren Farbstoff von einem Ort beziehen, den sie Purpurinseln nennen?«

»Ein Ort, der angeblich unerreichbar fern auf der anderen Seite der Welt liegt«, wandte Lakshapheus ein.

»Warum kreuzen wir dann im Meer des Morgens?« Vanakinos ärgerte sich ganz offensichtlich darüber, daß der Steuermann von Dingen wußte, die ihm nicht bekannt waren. »Ich dachte, es ginge letztlich darum, eine dieser verdammten Nauken aufzubringen.«

»Kapitän ...« Surjadoras Stimme hatte etwas unsäglich Geduldiges. »Wir wollen den Kataueken nicht eine ihrer Schiffsladungen abnehmen, sondern gedenken ihr Monopol zu brechen.«

»Ich hatte eher an ein Verhör eines dieser arroganten katauekischen Nautiker gedacht. Nahe der Küste können wir es uns natürlich nicht leisten, einen offenen Konflikt zu provozieren. Wer will schon riskieren, daß diese Tangfresser plötzlich mit einer ganzen Flotte vor der Küste Andhakleias stehen? Aber hier, so weit weg vom Festland ... das bekäme doch niemand mit.«

Surjadora stöhnte innerlich Vanakinos glaubte offenbar tatsächlich, daß man mit den Kataueken ebenso einfach fertig würde wie mit ein paar Küstenpiraten. »Ich glaube, Ihr unterschätzt die Kampfkraft der Pfauenschiffe. Nach allem, was ich weiß, verfügen sie über mysteriöse Wunderwaffen – Vögel, die Feuerfedern verschießen, und Krieger, die aus lebendem Stahl geschmiedet sind. Nein, wir kreuzen in diesem Gewässer, weil es Hinweise darauf gibt, daß die Purpurinseln direkt vor unserer Haustür liegen.«

Vanakinos schnappte ungläubig nach Luft, während Lakshapheus einen kleinen Pfiff ausstieß. »Wie bitte? Und warum haben wir diese Inseln dann nicht schon längst entdeckt?« In Vanakinos’ Stimme lag ein trotziger Unterton.

»Wünscht Ihr eine ehrliche Antwort?« Surjadora erhob sich und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. »Weil wir stolzen Ligisten im Vergleich zu den Kataueken nichts anderes als einfache Küstenfahrer sind. Ebenso steht es um die Merkantilier. Es heißt, daß die Kataueken jede Quadratmeile der Welt vermessen haben und sie jeden beliebigen Ort zielgenau ansteuern können. Leider wissen wir nicht, wie sie das machen. Schon immer haben unsere Kapitäne nach Landmarken navigiert. Deshalb fürchten sie die offene See. Und warum hätten sie es auch anders halten sollen? Warum das Wagnis eingehen, auf das offene Meer zu segeln? In Ajuna erreicht man jeden wichtigen Handelshafen, indem man an den Küsten entlangsegelt. Von jenen Mutigen, die auf den Breitengraden entlang nach Westen aufgebrochen sind, hat man nie wieder etwas gehört. Allenfalls mit dem Nachbarkontinent Esanuk wird noch hin und wieder Handel getrieben, aber es scheint eher Glückssache zu sein, auf welche Eingeborenen man dort gerade stößt. Vor sechs Jahren soll ein Schiffsverband der unabhängigen Kirchenstaaten mit Missionaren und ausgesuchten Rittern des ordo miltis dei einen Versuch unternommen haben, an der Küste Esanuks entlang nach Westen vorzustoßen. Die Flotte war angeblich fünf Monde unterwegs und hat doch nichts anderes gesehen als Esanuk selbst. Dann gerieten die Schiffe in einen Sturm, dem die meisten der Karacken zum Opfer fielen. Die Priester brachen die Expedition daraufhin ab. Nur zwei der Schiffe kamen wieder zurück, und an Bord hatten sie keine Schätze, sondern das esanuksche Fleckfieber. Acht Wochen sollen sie vor dem Hafen von Gardiamara in Quarantäne gelegen haben. Am Ende waren nur noch sieben Seeleute am Leben. Von Serkan Katau aber hatte niemand auch nur einen Sandstreifen gesehen.«

»Darüber ist mir nichts bekannt.« Vanakinos schaute Surjadora ohne erkennbare Gefühlsregung an. »Die Kirchenstaaten sind jedoch auch nicht für ihre seefahrerische Tradition bekannt.«

»Was ich damit zum Ausdruck bringen will«, schloß Surjadora ihre Ausführung, »ist, daß uns einfach die nautischen Möglichkeiten fehlen, Serkan Katau zu erreichen. So sehr das auch schmerzt.«

»Auch das ist alles sehr akademisch, Kapitänin«, bemerkte Vanakinos kühl.

»Richtig. Bleiben wir bei den Fakten.« Surjadora bat Lakshapheus, sich von der Seekiste zu erheben, schloß diese auf und holte ein in Samt eingewickeltes Glasrohr heraus. Darin befand sich ein zusammengerolltes Pergament, das sie behutsam herausgleiten ließ.

»Dies hier, meine Herren, ist die detailgenaue Abschrift einer alten Seekarte, die der Oberste Berater des Maharadschas, der Hohe Philosoph Ramaogeus, Leiter der andhakleischen Universität und Mitglied im Kosmographenrat der Himmelswarte, in der Palastbibliothek gefunden hat. Das Original ist leider zu brüchig, als daß man es mir hätte mitgeben wollen. Aber mir wurde versichert, daß wirklich jede Einzelheit, und sei sie noch so klein, auf diese Abschrift übertragen wurde.«

Surjadora glättete das Pergament auf dem Klapptisch und beschwerte zwei der Ecken mit kurjamäischen Glaskugeln, die sie einst wegen ihrer Größe und hübschen Färbung erstanden hatte.

»Eine alte Seekarte, die das Innere des Meeres zeigt!« Lakshapheus war verblüfft. Man merkte ihm an, daß ihm die Worte fehlten, um zu beschreiben, was jenseits der Küsten in den Weiten des Ozeans verborgen liegen mochte. »Dort am Rand ... sind das Abbildungen von Eingeborenen? Männern, Frauen und ... Was sollen all diese Käfer?«

»Wie alt ist das Original?« wollte Vanakinos wissen.

»Die Philosophen schätzen das Alter der Karte auf mehrere hundert Jahre. Womöglich stammt sie aus der Dunklen Zeit vor der Fleischwerdung Aionars. Die Linien, die wir hier am rechten Rand sehen, meine Herren, deuten wir als Teile der Küstenlinie der heutigen Ehernen Liga. Leider ist das Original an dieser Stelle zu beschädigt gewesen, so daß wir lange Zeit herumgerätselt haben, welche Küsten gemeint sein könnten. Wie unschwer zu erkennen ist, sind in der Mitte der Karte Inseln eingezeichnet – offensichtlich ein ganzer Archipel. Und dabei, meine Herren, handelt es sich mit einiger Wahrscheinlichkeit um die Purpurinseln.« Vanakinos beugte sich tiefer über die Karte.

»Wie kommt Ihr darauf, daß es sich dabei um die Purpurinseln handelt? Der Schriftzug neben den Inseln lautet Insulae coleopterarum. Das ist lingua dei. Korrigiert mich, Kapitänin, aber das heißt Käferinseln, wenn ich mich nicht irre.«

Surjadora überging lächelnd Vanakinos’ Frage. »Kommen wir auf die Tinte zu sprechen, mit der das Original gezeichnet wurde. Es handelt sich dabei nicht um die Mixtur eines Tintenmachers. Das gesamte Original wurde in kostbaren Purpur ausgeführt. Und Purpur«, die Kapitänin machte eine kurze Pause, um die Bedeutung der folgenden Worte hervorzuheben, »war nach allem, was wir wissen, bis zu seiner Einführung vor neunzig Jahren durch die Kataueken in Ajuna unbekannt.«

»Trotzdem, das sind alles äußerst vage Hinweise«, beharrte Vanakinos skeptisch.

»Ich weiß, Kapitän. Aber wenn die Schlußfolgerung des Hohen Philosophen zutrifft, dann ist diese Expedition jede einzelne Golddubokine wert, die in sie gesteckt wurde.« In Surjadoras Blick lag das verheißungsvolle Funkeln einer Händlerin, die kurz vor dem Abschluß eines guten Geschäfts steht. »Wir haben die einmalige Gelegenheit, den hochmütigen Kataueken einmal in diesem gottverdammten Leben in die Suppe zu spucken! Wenn wir diese Inseln finden, dann können wir den Tangfressern das Purpurmonopol streitig machen.«

»Und dieses eingezeichnete Gittermuster, das über der gesamten Karte liegt? Beim Abwesenden Gott, sind das dort etwa Breitengrade?« Lakshapheus’ Wangen röteten sich, und aufgeregt fuhr er sich wieder über seinen Wickelbart. »Dann müssen diese Linien hier ja ... Längengrade sein!« Seine Stimme senkte sich zu einem ungläubigen Wispern.

»Richtig. Das vermuten auch der Maharadscha und der Hohe Philosoph. Zusammen ergeben sie das geheimnisvolle Weltennetz, über das die Priester-Navigatoren des heiligen Myriander angeblich geboten haben.«

Surjadora war sich bewußt, daß sie hier von einem Mythos sprach. Die Deutung der Breitengrade war kein Geheimnis. Mit Hilfe von Sonne, Sternenstand und einem Oktanten war es jedem Seemann möglich, den entsprechenden Breitengrad zu ermitteln, auf dem er fuhr. Die sichere Bestimmung der Längengrade aber war ein geheimes Wissen, das schon zu Zeiten der Entrückung Aionars verlorengegangen war.

»Meine Herren, entscheidend ist dieser Breitengrad hier oben auf der Karte. Leider ist der gesamte linke Rand der Originalkarte eingerissen. Wir können nicht ausschließen, daß dies sogar mutwillig geschah. Die Philosophen haben dort aber die Zahl o identifiziert. Man geht davon aus, daß damit der zehnte oder zwanzigste Breitengrad Süd gemeint war.«

»So wartet«, schnaubte Vanakinos skeptisch. »Ich habe oft genug Karten dieser Regionen studiert. Der Verlauf der Küstenlinie auf dieser Karte kommt mir mehr als seltsam vor.«

»Ja, ich habe selbst eine gewisse Skepsis bekundet«, gestand Surjadora offenherzig ein. »Es mag sein, daß die Vermessungsmethoden, die uns heute zur Verfügung stehen, ungenauer sind. Aber dieser Küstenverlauf deckt sich nach Aussage des Hohen Philosophen Ramaogeus mit jenen, die man auf anderen alten Karten gefunden hat. Wie dem auch sei, Ihr könnt Euch darauf verlassen, daß der Maharadscha uns nicht ohne Grund auf die Reise geschickt hat.«

Vanakinos schien noch immer nicht recht überzeugt. Surjadora überging seine Skepsis und kam wieder auf die Breitengrade zu sprechen. »Da man die Küstenlinie hier oben wegen des eingezeichneten Leuchtturms« – Surjadora tippte auf ein kleines Zeichen – »als die südliche Küste Danakingas deutete, wo der Turnt uns Seeleuten seit Hunderten von Jahren den Weg weist, gingen wir davon aus, daß der 20. Breitengrad Süd gemeint war. Aus diesem Grund bestand unser Auftrag darin, zunächst an der Küste entlangzufahren und dann Kurs westlich des Meeres des Schlafes zu nehmen, um schließlich hier«, Surjadora deutete auf eine der waagerechten Linien, »etwa auf Höhe des 22. Breitengrades weiter nach Westen zu segeln. Ihr werdet bemerkt haben, daß wir über Wochen erfolglos in dieser Meeresregion gekreuzt sind. Aus diesem Grund habe ich unsere Flottille am 20. Tag des Roten Erntemonds Kurs Nord-Nordwest setzen lassen.«

»Warum? Ganz offensichtlich handelt es sich bei der Karte nur um einen schlechten Scherz.« Vanakinos schnaubte mürrisch, während sich Lakshapheus mit einem Urteil zurückhielt. Er wußte von anderen Gelegenheiten her, daß seine Kapitänin solche Entscheidungen nicht grundlos traf.

Surjadora zog ihren Sari straff »Ganz einfach, Kapitän. Die Berechnung der Philosophen muß nicht stimmen. Es heißt, daß an der Südküste der Halbinsel Gwanapur, auf Höhe von Markomassa, und zwar auf den Keridischen Sirenenfelsen, in den alten Zeiten ebenfalls ein großer Leuchtturm stand. Jedenfalls behaupten das die dortigen Küstenfischer. Wer Zimt, Nelken und Ingwer aus Danakinga einhandeln will, kommt an dieser gefährlichen Felskette vorbei, etwa zwei Seemeilen vor der Küste. Der Ort gilt als verflucht, weil in diesem trügerischen Gewässer immer wieder Schiffe zerschellen.«

Vanakinos stand jetzt ebenfalls auf und drehte die Karte so, daß er einen besseren Blick auf sie werfen konnte, während Surjadora fortfuhr. »Die Ruinen dieses Turms kann man heute noch erkennen. Man muß nur den Mut haben, nahe genug an die Sirenenfelsen heranzufahren. Wenn nun aber dieser alte Leuchtturm gemeint war, dann, meine Herren, haben wir die ganze Zeit zu weit im Südosten gesucht. Dann ist nicht der 22., sondern der 12. Breitengrad gemeint gewesen. Und auf dem befinden wir uns schon seit geraumer Zeit. Gemäß meinen Berechnungen bin ich davon überzeugt, daß wir diese verdammten Inseln, wenn sie denn existieren, schon lange erreicht hätten – hätte uns der Bucklige nicht den Wind aus den Segeln genommen.«

Die Männer schwiegen nachdenklich, und Surjadora wußte, daß es ihr gelungen war, ihren Entdeckergeist anzuspornen. Zufrieden nahm sie zur Kenntnis, wie Vanakinos seinen Widerstand aufgab.

Plötzlich war wieder ein Knarren aus dem Schiffsbauch zu hören, dem ein schweres Ächzen folgte, das sich durch den gesamten Rumpf zog. Die beiden großen Glaskugeln auf der Karte rollten über den Klapptisch – direkt in Surjadoras Hand. Gedämpft waren von oben die Rufe der Matrosen zu hören.

»Meine Herren, tun wir das, was wir am besten können. Schiffe führen!« Und wenn es nicht ihre Ausführungen gewesen waren, die die gereizte Stimmung in der Kajüte hatten verfliegen lassen, so doch in jedem Fall diese knappe Aufforderung. Die Kapitänin rollte die Karte wieder zusammen und verstaute sie in ihrer Seekiste. Dann eilte sie mit den beiden Männern an Deck, wo hektische Betriebsamkeit ausgebrochen war. Ein halbes Dutzend Männer holte bereits das Sonnensegel ein.

Kapitänin und Steuermann überzeugten sich mit einem kurzen Blick davon, daß Bootsmann Brahthos am Steuerrad Posten bezogen hatte. Der Wind hatte von einem Augenblick zum anderen aufgefrischt und harfte nun mit großer Kraft in den Wanten.

»Braßt die Segel, Männer!«

Der Befehl kam Surjadora mit großer Genugtuung über die Lippen. Unverzüglich kletterte ein Dutzend Seeleute die Takelage zu den Rahen hoch, während Lakshapheus eine weitere Gruppe Männer aufscheuchte.

»Auf, auf, auf! Holt die Steuerbord-Vorbrassen!«

Die Seeleute rannten zur Reling mit der Nagelbank, lösten die Taue zu dem Rahsegel und holten wie beim Tauziehen Stück für Stück die Fockbrasse ein.

»Hol weg! Hol weg!« Die Kommandos des vordersten Seemannes gellten über das Schiff, während die gleiche Anzahl an Männern die Backbordbraß fierten und sich das Großsegel langsam in den Wind drehte. Die Segel blähten sich, und die Besatzung der Stern von Andhakleia bekam zunehmend den aufkommenden Seegang zu spüren.

Auch Vanakinos hielt jetzt nichts mehr. Nach einem knappen Abschiedsgruß eilte er zu seinem Beiboot, wo bereits seine Männer warteten, um ihn wieder zur Bavakuleos überzusetzen, auf der ebenfalls Seeleute die Wanten geentert hatten.

Bei all der Aufregung an Bord bemerkte Surjadora erst jetzt, daß weiter vorn, nahe dem Bugkastell, vier Männer der Freiwache etwas umringt hatten. Ihre Haltung drückte gleichermaßen Anspannung wie Ekel aus. Einer von ihnen hielt einen Belegnagel fest in der Faust.

Als Surjadora und Lakshapheus hinzutraten, fuhren die Männer hoch. Tvashi stand mit schuldbewußtem Blick und einem Eimer in der Hand vor seiner Kapitänin. »Bootsmann Brahthos hat mir aufgetragen, beim Deckschrubben zu helfen. Aber als ich den Eimer mit dem Meerwasser hochzog, war das eklige Ding drin. War schon tot, aber ich hab zur Vorsicht noch mal draufgetreten. Und jetzt krieg ich den Fleck nicht mehr weg.«

Auf den nassen Planken lag ein zertretener, fast fingerlanger schwarzer Käfer. Um ihn herum aber hatte sich ein Fleck ausgebreitet, dessen Farbe auf den ersten Blick an Blut gemahnte. Auf den ersten Blick ...

»Wo ein Käfer ist, ist irgendwo auch Land!« stellte Lakshapheus trocken fest und betrachtete seine Kapitän in bewundernd.

»Nicht nur das!« Surjadora steckte ihren Finger in die verfärbte Pfütze neben dem Käfer, warf einen prüfenden Blick auf ihre Fingerkuppe und lächelte Tvashi an.

»Gut gemacht, Junge! Und daß mir keiner jemals den Fleck hier entfernt. Der bleibt so lange an Deck, wie ich Kapitänin dieses Schiffes bin.«

Die Männer schauten sich verwundert an, während Surjadora ihren Steuermann zur Seite zog und ihm den verfärbten Finger vor das Gesicht hielt.

»Das ist Purpur, Lakshapheus! Versteht Ihr? Echter, kostbarer, wundervoller Purpur! Bei den Nüssen des heiligen Guelfo! Und mir wollte dieser verfettete katauekische Tangfresser damals in Gautamar weismachen, das Zeug stamme aus den Drüsen von gottverdammten Meeresschnecken.«

Das Weltennetz

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