Читать книгу Das Weltennetz - Thomas Finn - Страница 7

Omen am Mauga Kara’tubo An der Westküste von Peni’tapu, im Archipel von Coleopa, am 11. Tag des Hitzemondes, im 458. Jahr der Abwesenheit Gottes

Оглавление

Der königliche Katamaran näherte sich der Vulkaninsel Peni’tapu im metallenen Schein des Abendlichts. Als wollten die Wolken, die fern im Westen dahinjagten, sie einholen, glitten die beiden Rümpfe des Bootes gleich wütenden Zaikarhaien durch das glasigblaue Meer. Wo sie die Wasseroberfläche zerteilten, blieben zwei Narben aus Schaum und Gischt zurück, die erst weit hinter dem Segler im Auf und Ab der Wellen vergingen.

Buralofa, der sonst nichts unbeobachtet ließ, hatte indes keinen Sinn für die Stimmung dieses Abends. Er war auf der Jagd, und als Jäger galt sein Augenmerk der Fährte, die sein Opfer hinterließ.

Warmer Seewind fuhr durch sein purpurn gefärbtes Haar und ließ die geflochtenen Bänder, die seine Hand- und Fußgelenke schmückten, unstet flattern. Seine Haarfarbe verriet schon von weitem, daß er ein Gesandter des Königshauses war; doch nur wer die Perlenbestickung der Bänder zu lesen vermochte, der erkannte, daß er niemand Geringerem gegenüberstand als dem Obersten Richter Coleopas.

Wie alle Richter entstammte Buralofa einer der Hohen Familien des Archipels. Und wie sie rühmte auch er sich der Nachfahrenschaft des Gottessohns Eomes, welcher das Reich der Tausend Inseln einst mit Leben und Schönheit erfüllt hatte, um seinen Vater, den göttlichen Fischer jenseits des Himmelszeltes, zu erfreuen. Dessen Stimme konnte der Erleuchtete – so besagten es die überlieferten Worte Eomes’ – im Brüllen der Brandung und im Gesang der heiligen Wale vernehmen.

Der Oberste Richter wußte, daß er unter den Bewohnern des Archipels als lebende Legende galt. Auf fast sechzig Jahresläufe konnte er nun zurückblicken, von denen knapp die Hälfte auf den Richterdienst für das coleopäische Herrscherhaus entfiel. Niemals in seiner Amtszeit hatte Buralofa einen Verbrecher entkommen lassen, und niemals war er aus einem offenen Kampf als Verlierer hervorgegangen. Dabei war er ein Reisender, dem es vergönnt war, Inseln zu sehen, welche die meisten Coleopäer nicht einmal vom Hörensagen kannten – ausgenommen vielleicht die Hundertschaft der ihm untergebenen Richter oder die Schar der Fernhändler, die im gesamten Inselreich unterwegs waren.

Der Oberste Richter war stolz auf sein Amt. Viele Krieger des Reichs der Tausend Inseln versuchten zeit ihres Lebens vergeblich, die Aufmerksamkeit von König Halapua zu gewinnen. Die Ehre, von ihm zum königlichen Richter ernannt zu werden, galt vielen als das höchste aller Ideale.

Ein Richter besaß nicht nur die Befugnis, Urteile über die Mitglieder der Hohen Familien zu verkünden und ihre Fehden zu schlichten. Zu seinen Aufgaben gehörte es vor allem, Verbrechen zu ahnden; insbesondere solche, die sich zwischen den Inseln zutrugen und sich damit der Zuständigkeit der Solaren entzogen, wie die Inselstatthalter genannt wurden. Piraterie und Perlenraub waren die häufigsten dieser Vergehen. Meist wurden sie von heimatlosen Raubfischern begangen, die mit ihren Sippen von Insel zu Insel zogen, um so ihrer Ergreifung zu entgehen.

Die Solare nahmen die Dienste der Richter nicht gern in Anspruch, da dies allgemein als Eingeständnis von Schwäche gewertet wurde. Wenn sie dennoch nach den Richtern riefen, war dies stets ein Zeichen dafür, daß die Gefahr vom Territorium eines anderen Solaren ausging. Denn wenn die Hohen Familien des Archipels etwas noch weniger schätzten als die Einmischung der königlichen Richter in ihre Angelegenheiten, dann waren es die Übergriffe anderer Hoher Familien innerhalb ihres Herrschaftsgebietes.

Coleopa benötigte die Richter, um das Gleichgewicht der Kräfte zu wahren, doch man fürchtete sie auch. Buralofa stellte da keine Ausnahme dar. Im Gegenteil.

Erst vor zwei Jahren war wieder ein wenig Ruhe in sein rastloses Leben eingekehrt. Damals hatte ihm König Halapua die Ehre angetragen, die Ausbildung seines einzigen Sohnes zu übernehmen: des Prinzen Nukulahi.

Der königliche Sproß sollte in wenigen Tagen verheiratet und zum neuen König des Reichs der Tausend Inseln gekrönt werden. Sieben mal sieben Jahre lebte der alte Herrscher schon, und die Tradition verlangte, daß er sein Amt nun an seinen Sohn abtrat.

Buralofa hatte sich oft gefragt, ob König Halapua sich an den Brauch halten würde. Mehr als nur einmal hatte der König gegen althergebrachte Traditionen verstoßen, vor allem, wenn es darum ging, die Macht der Solaren zu beschneiden. Dem einfachen Volk brachte Halapua oftmals mehr Wertschätzung entgegen als den Vertretern der Hohen Familien. Er beurteilte seine Untertanen nach ihren Taten und ihrer Treue und nicht nach ihrer Herkunft. Das hatte in der Vergangenheit oft für Unmut unter den Hohen Familien gesorgt. Das einfache Volk aber liebte ihn. Selten hatten die Coleopäer einen Herrscher so verehrt wie ihn.

Doch jetzt war ein Verbrechen geschehen, das sich gegen das Königshaus selbst richtete. Ein Verbrechen, das den Obersten Richter bis zu der Vulkaninsel am Horizont geführt hatte, die sich mit jedem Augenblick deutlicher aus dem Meeresdunst schälte.

Buralofa ergriff eines der Taue aus Kokosfasern und schwang sich unter dem großen, aus Guanußblättern geflochtenen Segel hindurch, um das Gewicht auf den backbordseitigen Rumpf zu verlagern. In einer fließenden Bewegung ließ er seinen Körper zurückfallen, so weit, daß sein narbenbedeckter Rücken fast die Meeresoberfläche berührte. Der gegenüberliegende Rumpf des Bootes hob sich einige Fingerbreit über die Wasseroberfläche, während der Katamaran eine langsame Rechtswende beschrieb. Zufrieden zog sich Buralofa an dem Tauende wieder nach oben, und der Katamaran hielt den neuen Kurs.

Der Oberste Richter dachte an die vor ihm liegende Aufgabe. Keine Woche war es her, daß König Halapua ihn zu sich bestellt hatte, denn auf der Königsinsel Nuku’atepe war die Grotte mit der geheimen Waffenkammer des Herrschers geplündert worden. Die entwendeten Waffen bestanden allesamt aus kostbarem Eisen – ein Metall, das man auf Coleopa nicht zu schmieden vermochte.

Der Diebstahl, so lautete die Anordnung des Königs, mußte unbedingt geheimgehalten werden, denn die Waffen galten als unersetzliche Garanten der Macht im Reich. Sie stammten noch aus einer Zeit, die beinahe so bedeutend für die coleopäische Geschichte war wie die Erschaffung des Archipels durch den göttlichen Fischer: der Zeit des Überfalls der Fremden vom Rande der Welt.

Jeder Coleopäer kannte die Geschichten, die vom Vater an den Sohn weitergegeben wurden. Sie kündeten von grausamen Fremden mit schmalen Augen, die vor fünf Generationen aus einem großen Land weit jenseits des westlichen Meeres gekommen waren. Serkan Katau nannten die Schmaläugigen ihre Heimat am Weltenrand, und gleich nach ihrer Ankunft hatten sie vom König und seinen Solaren Unterwerfung gefordert.

Zunächst hatten die Hohen Familien geglaubt, der Gottessohn Eomes sei wie prophezeit zurückgekehrt, denn Wissen und Gerätschaften, die den Fremden zur Verfügung standen, waren Buralofas Volk gänzlich unbekannt. Sie gebrauchten Waffen und Rüstungen, mit denen es die Speere und Dolche aus dem weichen Metall seines Volkes nicht aufnehmen konnten. Und die weisen Männer und Frauen der Schmaläugigen kannten Heilmittel gegen Krankheiten, die bis dahin auf Coleopa den sicheren Tod bedeutet hatten. Am seltsamsten aber waren ihre palastartigen Schiffe. Mit ihnen konnten sie das Weltenmeer durchqueren, das sonst allein die Wale in seiner endlosen Weite durchmaßen. Die Fremden bezeichneten ihre Schiffe als Dschunken, und die Segel der schwimmenden Paläste waren aus Stoffen gefertigt, die man im ganzen Inselreich noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Eines dieser Schiffe befand sich noch heute auf Lavaka’motu, im Osten Coleopas, das die Schmaläugigen zu ihrer Hauptinsel erkoren hatten, und rottete dort als stummes Zeugnis der Vergangenheit vor sich hin. Ein vergängliches Mahnmal, das die Bewohner Lavaka’motus gern als Zeugnis ihres endgültigen Sieges über die Eindringlinge vom Rande der Welt ansahen. Doch Buralofa wußte es besser ...

Entschlossen schwang sich der Oberste Richter unter dem Segel des Katamarans hindurch und richtete seinen Blick auf die Küste der Vulkaninsel. Peni’tapu galt als eine der Perlen des Reichs der Tausend Inseln, und ihr unberührter Strand aus Muschelkalk stand in auffälligem Kontrast zu dem dichten, immergrünen Urwald aus Palmen, Kinokbäumen und mannshohen Juwafarnen. Der Dschungel erstreckte sich von den Hängen des stolzen Mauga Kara’tubo, wie der Vulkan im Zentrum der Insel genannt wurde, bis hinunter zur Küste. Ein angenehmer Geruch nach Vanille wurde vom Wind über die See getragen.

Buralofa kannte die Insel bereits von einem früheren Aufenthalt her. Vor neun Jahren war er einer Gruppe von Raubfischern auf der Spur gewesen, die die Küsten Lolo’tumas unsicher gemacht hatten. Schon damals hatte er sich eingestehen müssen, daß die Vulkaninsel ein ideales Versteck für jeden war, der etwas zu verbergen hatte.

Der gewaltige Mauga Kara’tubo galt als heilig, und die Insel durfte nach dem Gesetz nur von Mitgliedern der Hohen Familien angelaufen werden. Die Legenden besagten, daß Eomes hier einst sein Himmelsschiff vertäut hatte, bevor er aus der heißen Lava des Vulkans jene beiden himmelsfarbenen Augen auflas, die er später dem König zum Geschenk machen sollte.

Die Berichte über die Waffendiebe hatten Buralofa zunächst bis zur Insel Wana’tapu geführt, doch dort hatten sich ihre Spuren verlaufen. Nach diesem Fehlschlag war ihm nur mehr ein letzter vager Hinweis geblieben, dem er nun nachging. Vielleicht wäre es klüger gewesen, zurück zur Königsinsel Nuku’atepe zu segeln, um den König um weitere Krieger zu bitten. Doch dort wäre Buralofa in die Hochzeitsfeierlichkeiten von Prinz Nukulahi geraten. Ohne einen stichhaltigen Beweis aber wäre es fraglich, ob ihm König Halapua gestattet hätte, unter der Festgesellschaft eine Hundertschaft Krieger auszuheben, um sie vor den Augen der Gäste auf die heilige Insel zu führen. Das hätte nicht nur zu unwillkommenen Gerüchten, sondern auch zu Unruhe unter den stets rebellischen Hohen Familien geführt.

Nein, Buralofa war sich im klaren darüber, daß er zunächst in Erfahrung bringen mußte, ob ihn sein Scharfsinn getrogen hatte. Erst dann würde er eine weitere Entscheidung treffen.

Ungehalten schüttelte der Richter die sorgenvollen Gedanken ab und segelte weiter an der Küste der Vulkaninsel entlang, die scharfen Augen stets aufmerksam auf das Eiland gerichtet. Am Himmel über den Baumwipfeln waren bereits die plumpen Körper der faustgroßen Aiokkäfer zu erkennen. Wie immer kamen die Tiere um diese Tageszeit hungrig aus ihren Sandnestern gekrochen, um Jagd auf kleinere Käfer zu machen.

Bewußt hatte er einen Umweg von nahezu zwei Tagen in Kauf genommen, um sich Peni’tapu von Norden her zu nähern. Auf dem offenen Meer konnte sich niemand verstecken, und ihm war nur allzu klar, daß ein aufmerksamer Beobachter seinen Katamaran schon aus großer Entfernung erkennen konnte. Und so setzte er sein ganzes Vertrauen darauf, daß die Waffendiebe – falls sie sich denn auf der Vulkaninsel versteckt hielten – vor allem die südliche Meeresregion unter Beobachtung hielten. Denn diese Seite war den bewohnten Inseln des Archipels zugewandt, und von hier waren am ehesten Verfolger zu erwarten. Bereits vor neun Jahren war es Buralofa mittels dieser List geglückt, die Raubfischer auf der Insel zu überrumpeln. Im übrigen blieb ihm gar nichts anderes übrig, als fest darauf zu vertrauen, daß ihm Eomes noch einmal seine Gunst schenkte.

Das Meer hatte die Sonne am fernen Horizont bereits verschluckt, als der Oberste Richter sein Ziel erreicht hatte. Er steuerte den Katamaran in eine schattige Bucht, die von der offenen See aus kaum zu erkennen war. Und wie bei seinem Besuch vor neun Jahren war es auch diesmal ein imposantes Erlebnis, als er in die verborgene Lagune einfuhr. Der Mauga Kara’tubo türmte sich vor seinen Blicken wie ein schwarzer Koloß auf. Aus dem Dschungel um ihn herum drang das ohrenbetäubende Lärmen der Zirjakkäfer.

Buralofa raffte die Segel, und der Katamaran glitt durch die von süßen Düften getränkte Dämmerung. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als er aufmerksam nach der Mündung des Schwarzen Flusses Ausschau hielt. So hatte er damals den träge dahinfließenden Wasserlauf benannt, der sich hier von der Inselmitte kommend ins Meer ergoß. Die Ausläufer der geronnenen Lava am Strand wiesen ihm den Weg. Wachsam schaute sich der Oberste Richter um. Kaum etwas hatte sich in all den Jahren an diesem Ort verändert. Schon bald würde er wissen, ob er den weiten Seeweg zu Recht auf sich genommen hatte.

Ein leichter Ruck ging durch den Katamaran, als die beiden Rümpfe den sandigen Untergrund berührten. Buralofa sprang ins Wasser, ergriff die an Bord bereitliegende Leine und zog den Segler an Land. Dann beugte er sich hinunter und griff prüfend in den Sand. Warm rieselte er durch seine Finger. Ein Gefühl der Zufriedenheit erfüllte ihn. Er hatte sein Ziel erreicht.

Tatsächlich, Buralofa war froh, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu wissen. Als junger Mann war ihm der Katamaran ein zweites Zuhause gewesen, und er hatte die Stille auf seinen Fahrten zwischen den Inseln stets genossen. Doch mit der Jugend schien auch seine Rastlosigkeit dahingegangen zu sein.

Nachdem er den Segler sorgfältig an einem schwarzen Felsen vertäut hatte, betrachtete er die machtvolle Wand des Dschungels. Noch immer brauste der Gesang der Zirjakkäfer durch die Dämmerung, und neben dem lieblichen Vanillegeruch, den Buralofa schon auf See wahrgenommen hatte, trug der Wind nun die süßen Düfte von Frangipani, Hibiskus und Kasuarinen heran. Nichts wies darauf hin, daß einer der Diebe seine Ankunft bemerkt hätte.

Entschlossen öffnete der Oberste Richter eine hölzerne Kiste neben dem Mast seines Seglers. Als er niederkniete, knirschten die Metallplatten seiner Kriegsschürze, die einander wie Fischschuppen überlappten. Neben den Nahrungs- und Trinkwasservorräten kam zuoberst ein langer Gegenstand zum Vorschein, der von einer gerollten Bastmatte umhüllt war. Buralofa entfernte die aufwendige Schutzhülle und zog seine Waffe hervor. Die Richter gebrauchte sie nur in Notzeiten, und ein Unkundiger hätte sie auf den ersten Blick für eine Mischung aus Speer und Axt gehalten. Stolz betrachtete er das uralte, dunkel verfärbte Metall an der Spitze des Holzschaftes und drehte es so, daß sich auf ihm schwach das Licht des aufgehenden Mondes spiegelte.

Es war nicht irgendeine Waffe, die er in Händen hielt, sondern eine heilige Hela – das Standessymbol der Richter. Sie war alt, und direkt unter der langen, metallenen Stoßspitze befand sich eine breite, gewölbte Axtschneide. An Härte brauchte eine Hela keinen Vergleich mit den Metallwaffen der Schmaläugigen zu scheuen, denn sie bestand ebenfalls aus Eisen. Ihr Schaft war aus dem zähen Holz der Kinokbäume geschnitzt und wurde regelmäßig ausgetauscht.

Den Legenden zufolge hatte Eomes selbst die heiligen Hela zurückgelassen, als er das Reich der Tausend Inseln mit seinem Himmelsschiff verließ. Nur achtundsechzig Waffen dieser Art gab es derzeit noch im gesamten Inselreich, und sie waren schon sehr alt gewesen, als die Schmaläugigen das erste Mal in Coleopa erschienen waren. Dreiundsiebzig Helas hatten sie allein im Krieg gegen die Invasoren einbüßen müssen.

Auch das Öl zur Pflege des Metalls, dessen Rezeptur unter den Richtern von Amt zu Amt weitergereicht wurde, konnte letztendlich nicht verhindern, daß die Zeit selbst die heiligen Waffen zerstörte, und heute reichte ihre Anzahl nicht einmal mehr aus, um alle Richter mit einer Hela auszustatten. Die jungen Richter mußten auf ihren Reisen längst mit den erbeuteten Metallwaffen der Schmaläugigen vorliebnehmen – Waffen aus jenem Bestand, der nun geraubt worden und ein schmählicher Ersatz für die Götterklingen war, aber doch von unschätzbarem Wert für den König.

Buralofas Augen leuchteten, als er den Schaft der Hela mit festem Griff umschloß. Dies war die heiligste und ehrwürdigste aller Helas – und sie war sein!

Unter den Richtern hielt sich hartnäckig die Legende, daß Eomes selbst sie einst getragen und ihr seinen göttlichen Odem eingehaucht habe. Kein Gesetzesbrecher, hieß es, werde ihrem heiligen Zorn entgehen, solange sie nur ein Krieger führte, der das Recht und Gesetz auf seiner Seite wußte.

Einen Augenblick lang überlegte der Oberste Richter, ob er auch den Rest seines Rüstzeugs anlegen sollte. Zuunterst in der Kiste schimmerte das goldene Metall seines Brustpanzers und der Beinharnische. Daneben lag, in ein purpurfarbenes Tuch eingeschlagen, sein prachtvoller Helm, der mit einem Rankengeflecht aus getriebenem Metall verziert war. Schon streckte Buralofa seine Hand danach aus, doch dann rief er sich zur Vernunft. Er befand sich auf einer Erkundungsmission. Außerdem bezweifelte er, daß das weiche coleopäische Metall im Ernstfall den harten Klingen der Waffenräuber standhalten würde. Nein, in diesem Kampf mußte er sich allein auf seine Gewandtheit verlassen. Doch dazu sollte es nach Möglichkeit gar nicht erst kommen.

Entschlossen steckte er noch einen Dolch in den geflochtenen Gürtel seiner Kriegsschürze. Dann schnallte er sich die Wasserflasche und einen Beutel mit Nüssen aus seinem Vorrat um sowie eine Gürteltasche, in der er seine anderen Besitztümer verwahrte, darunter den einzigen Hinweis auf den Aufenthaltsort der Diebe. Anschließend wandte er sich von dem Segler ab und lief, die stolze Hela fest im Griff, über den Sandstrand auf den Fluß zu, der ihn zum Ziel seiner Reise führen würde.

Der Schwarze Fluß machte seinem Namen alle Ehre. Obwohl sein von heißen Quellen am Fuße des Mauga Kara’tubo gespeistes Wasser klar und sauber war, schluckte der dunkle, basaltene Untergrund des Flußbetts selbst tagsüber nahezu jeden Sonnenstrahl.

Beharrlich wie ein Jovokäfer huschte Buralofa am Flußlauf entlang. Immer wieder mußte er den Wurzeln der Mangrovengewächse ausweichen und hohes Schilf umgehen, das viele Dutzend Schritt tief in den Dschungel hineinwucherte. Mit dem letzten Zwielicht war das Lärmen der Zirjakkäfer verstummt, und nach und nach drangen die Brumm-, Schwirr- und Kratzlaute anderer Käferarten an Buralofas Ohren.

Endlich hatte er sein Ziel erreicht, eine breite Lichtung inmitten des Dschungels. Der Oberste Richter glitt lautlos hinter einen Baum. Mißtrauisch beäugte er die Umgebung und bemühte sich, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Aufgaben wie diese waren etwas für Jüngere.

Längst hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, so daß er Einzelheiten auf der Lichtung ausmachen konnte. Doch das, was er suchte, hätte zu dieser Tageszeit auch eine halbblinde Bastknüpferin finden können.

Buralofas Blick verweilte auf dem verwachsenen, uralten Tränenbaum, wie er ihn nannte, der sich am gegenüberliegenden Rand der Lichtung erhob. Der knotige, verdrehte Stamm hatte einen Durchmesser von nahezu sechs Schritt, und das weit ausladende Blätterdach des Baums reichte hoch in den Himmel. Das üppige Geflecht aus Luftwurzeln, das gleich dem wirren Haar einer vom Alter gebeugten Frau bis zum Boden hinabhing, trug das seine dazu bei, den Tränenbaum unverwechselbar zu machen.

Vielleicht lag es an dem aromatischen Harz, das gleich Tränen an der Rinde herabperlte, vielleicht lag es auch an einem anderen, für Menschen nicht einsichtigen Grund, aber überall inmitten des Wurzelgeflechts hatten sich Trauben von Leuchtkäfern niedergelassen. Es waren Hunderte, und sie glichen der Funkenglut eines Lagerfeuers. Der Oberste Richter lauschte. Leise vernahm er den summenden Flügelschlag der Tiere, die den Baumriesen regelrecht illuminierten und ihm etwas Magisches verliehen. Ein Anblick, so wundersam, daß Buralofa den Grund seines Kommens für die Dauer mehrerer Atemzüge verdrängte und hingebungsvoll den Baum betrachtete.

Nur mühsam gelang es ihm, sich von dem faszinierenden Anblick zu lösen und sich erneut auf seine Pflichten zu besinnen. Aus der Tasche an seinem Gürtel zog er einige geknickte Blätter hervor, die einen kleinen Gegenstand umschlossen. Vorsichtig, so als hielte er einen kostbaren Schatz in Händen, schälte Buralofa den Inhalt heraus.

Auf dem Blatt vor ihm lag ein weißes Samenkorn. Auch wenn es im Dunkeln nur schwer zu erkennen war, wirkte dieses Korn in seiner Beschaffenheit eigenartig, da es von einem mit hauchzarten Widerhaken besetzten, inzwischen platt gedrückten Geflecht feiner Pflanzenfasern umschlossen wurde. Den Fund hatte er nahe der königlichen Grotte gemacht, aus der die Waffen geraubt worden waren. Allein seiner von den Richtergefährten mitunter verspotteten Genauigkeit bei der Spurensuche war es zu verdanken, daß er auf das Samenkorn gestoßen war. Dieser Fund war der Grund für seinen Aufenthalt auf der Vulkaninsel. Buralofa war überzeugt, daß diese Art von Samen allein jene vor ihm stehende Baumart ausstreute – und Tränenbäume gab es seines Wissens nach nur auf Peni’tapu.

Vor neun Jahren hatte er erstmals Bekanntschaft mit den Leuchtkäfer anlockenden Bäumen gemacht. Viele Tage nach Verlassen Peni’tapus hatte er damals noch Samen in Haar und Kleidung gefunden. Sollte es den Waffenräubern ebenso wie ihm ergangen sein, bedeutete dies, daß sie ihren Raubzug von dieser Insel aus unternommen hatten.

Aber handelte es sich wirklich um einen Samen dieses Baumes? Oder spielte ihm seine Erinnerung einen Streich? Der Oberste Richter verfluchte den Umstand, daß er die Insel erst mit Einbruch der Nacht erreicht hatte. Bei Tage hätte er ohne Probleme herumliegende Samen des Baumes finden und sie mit seinem Fund vergleichen können. Jetzt aber war er gezwungen, in die Baumkrone zu klettern, um seine Vermutung zu überprüfen. Niemals brächte er die Geduld auf, bis Tagesanbruch zu warten.

Entschlossen wickelte er das Samenkorn in eines der Blätter, steckte dies in die Gürteltasche und schlich am Rand der Lichtung zum Tränenbaum. Dort lehnte er die Hela mit leichtem Bedauern gegen die borkige Rinde und machte sich daran, an den Luftwurzeln des Tränenbaums nach oben zu klettern. Umgehend stoben Dutzende Leuchtkäfer auf und umkreisten ihn, während er sich behende immer weiter nach oben hangelte. Die aufstiebenden Käfer tauchten den Baum in ein geisterhaftes Licht, so daß Buralofa die vor ihm liegende Kletterstrecke gut erkennen konnte.

Bald darauf hatte er die weit ausladende Krone erreicht. Wie er es von seinem letzten Aufenthalt auf Peni’tapu in Erinnerung hatte, fanden sich im Astgewirr hölzerne Knoten, von denen die Samen des Baums wie Kaskaden von Meerschaum herabhingen. Der Richter griff vorsichtig in eines der weichen Nester und zupfte einen der bauschigen Samen heraus. Dann holte er sein Fundstück mit der anderen Hand aus der Gürteltasche, verharrte reglos, bis sich wieder genügend Leuchtkäfer in seiner Nähe eingefunden hatten, und verglich die beiden Samen miteinander.

Buralofa nickte im stillen Triumph und verstaute seinen Fund sorgfältig. Es war so, wie er es sich gedacht hatte. Die beiden Samenkörner waren von der gleichen Art.

Dies war der Beweis, nach dem er gesucht hatte. Jetzt würde er König Halapua guten Gewissens um Krieger bitten können, um die Insel nach den Waffenräubern abzusuchen. Es würden gewiß zwei bis drei Hundertschaften nötig sein, um den dichten Dschungel zu durchkämmen. Doch das war noch das kleinste Problem. Peni’tapu war eine heilige Insel, der Ort, an dem Eomes, der Sohn des göttlichen Fischers, vom Himmel herabgestiegen war. Deshalb durften nur Krieger aus den Hohen Familien die Insel betreten. Es würde kein leichtes Unterfangen werden.

Mißmutig blickte der Oberste Richter in Richtung des stolzen Mauga Kara’tubo und sandte ein Stoßgebet an Eomes. Ein Taifun hatte vor Jahren in den Wald am Berghang eine breite Schneise geschlagen, so daß Buralofa einen freien Blick auf den weit entfernten Eomespfad hatte. Und als hätte ihn der Göttersohn erhört, sah er, wie sich eine ganze Lichterkette, aus dem Dschungel kommend, den Fuß des heiligen Berges hinaufwand. Fackelträger! Die Diebe waren also hierher zurückgekehrt.

Aufgeregt kletterte Buralofa noch höher in die Spitze des Baumes, um einen besseren Blick auf die eigenartige Prozession zu erhaschen. Die Unbekannten kamen von der Küste und strebten in langer Reihe auf die östliche Flanke des Mauga Kara’tubo zu. Der Oberste Richter führte sich in Gedanken alle markanten Punkte der Insel vor Augen. Als ihm klar wurde, was die Unbekannten dort taten, verschlug es ihm den Atem: Die Prozession zog über den alten Eomespfad, den zu beschreiten allein denn König und den Solaren erlaubt war! Nach allem, was ihm der König vor Jahren berichtet hatte, führte der Pfad zu einem Plateau nahe des erloschenen Kraters, wo einmal jährlich Eomes zu Ehren ein Opfer dargebracht wurde.

Vor dieser letzten aller Sünden waren sogar jene skrupellosen Raubfischer vor neun Jahren zurückgeschreckt, die es gewagt hatten, die Insel mit ihrer Anwesenheit zu besudeln. Keine Frage, er mußte den Fremden dort in der Ferne zuvorkommen und herausfinden, was diese auf dem Mauga Kara’tubo vorhatten. Doch beim Marsch quer durch den Dschungel würde er die Ausläufer des Vulkans bestenfalls bei Tagesanbruch erreichen – wenn er nicht zuvor in ein Nest mit Blutkäfern oder anderen beißfreudigen oder giftigen Krabblern liefe.

Buralofa dachte an den Schwarzen Fluß, der sich quer durch den Dschungel bis zu den Hängen des Vulkanberges hinzog, und plötzlich kam ihm eine Idee. Mit dem Außenschwimmer seines Katamarans sollte es ihm möglich sein, den Fluß zu befahren. So wäre er schneller als die Waffenräuber und könnte trotz ihres Vorsprungs dicht zu ihnen aufschließen. Buralofa kletterte an dem illuminierten Baum hinab und verließ geschwinden Schrittes die Lichtung in Richtung Strand.

Zwei Stunden später hatte Buralofa den Vulkanberg erreicht. Staunend betrachtete er den Mauga Kara’tubo, der vor ihm bis fast zum Sternenzelt emporragte. Er war den Fluß mit aller Kraft so weit hinaufgerudert, wie es sein von heißen Quellen gespeistes Wasser gestattete. Anschließend hatte er sich durch den Dschungel zur alten Prozessionsstraße durchgeschlagen und sich hinter die Waffenräuber gesetzt. Nun sah er die Lichterprozession der Frevler weit über ihm in der Flanke des Feuerberges. Ihr Vorsprung war deutlich geschrumpft.

Keine Frage, er würde sie einholen, wenn er nicht den weiten Kehren der Prozessionsstraße folgte, sondern wo immer möglich den Weg abkürzte, indem er die steile Böschung erklomm. Entschlossen machte sich der Oberste Richter an den Aufstieg.

Aus der Ferne dröhnten die schrillen Klänge von Buruganis an seine Ohren. Buralofa hielt inne und lauschte. Daß die Waffenräuber es wagten, hier oben die bauchigen Kriegsflöten anzustimmen, deren Klangkörper der Gestalt von Blutkäfern nachempfunden waren, zeigte, wie sicher sie sich fühlten. Aus der Wahl der Lieder schloß Buralofa, daß es sich bei den Unbekannten nicht um einfache Raubfischer oder anderes übles Gelichter handelte, sondern um Männer, die der Gefolgschaft der Solare angehörten. Der Oberste Richter war angesichts dieser Entdeckung so empört, daß er seine müden Beine dazu zwang, auch die letzten Unebenheiten des versteinerten Lavabachs in Angriff zu nehmen.

Wundersam schlängelte sich der Eomespfad die Flanke des heiligen Feuerberges entlang. Von Fuß des Vulkans führte er in einer makellosen Geraden quer durch den Dschungel bis hin zur offenen See. An jeder Stelle war der alte Pfad des Göttersohns exakt vier Schritt breit, und sein einzigartiger Verlauf gab Zeugnis von der göttlichen Macht, mit der die Lava einst in ihre Bahn gezwungen worden war.

Stunde um Stunde hatte sich der alte Richter abwechselnd über den Pfad und die Böschungen nach oben gekämpft, und es war ihm nur ein schwacher Trost, daß die Frevler langsamer als er vorankamen.

Erst jetzt, da er sich endlich eine kurze Pause gönnte, wurde Buralofa des dunklen Nachtblaus gewahr, das den stolzen Vulkanberg einhüllte. Der Mond lag hinter einer faserigen Wolkenbank versteckt, und sein mildes Licht zeichnete weich die schroffen Gesteinsumrisse nach, ohne das Massiv seiner herrschsüchtigen Majestät zu berauben. Weit unter ihm, zu Füßen des Mauga Kara’tubos, erstreckte sich zu allen Seiten der Dschungel. Die Wellen brachen sich an den fernen Korallenriffen, welche die Insel gleich einem Gürtel umgaben. Weit entfernt, im Süden und Osten, meinte Buralofa die Silhouetten ferner Inseln zu erkennen. Der Oberste Richter schätzte, daß er sich fast tausend Schritt über der Meeresoberfläche befand. Bei Tage wäre der Ausblick von hier oben sicher atemberaubend.

Noch ein letzter Zug aus seiner Wasserflasche, dann machte er sich wieder an den Aufstieg. Inzwischen war er davon überzeugt, daß Eomes selbst seine Schritte gelenkt hatte. Das immer lauter anschwellende Dröhnen der Buruganis wies ihm den Weg zu den Verrätern.

Schließlich erreichte er einen schroffen Felsgrat, hinter dem das Plateau lag, auf dem der König und seine Solare einmal jährlich dem Göttersohn huldigten. Als Buralofa den nahen Fackelschein bemerkte, duckte er sich hinter einen großen Felsen. Im gleichen Augenblick verstummten die schrillen Melodien der Flöten.

Stille legte sich über den Mauga Kara’tubo, und der Richter versuchte, einen Blick auf die vom Feuerschein erleuchtete Szene vor ihm zu erhaschen.

Auf dem Plateau waren knapp dreißig Menschen versammelt. Sie bildeten einen Halbkreis um eine große, steinerne Stele, vor der zahlreiche, frisch aufgetürmte Opfergaben lagen. Die Gesichter der Unbekannten waren von silbernen Masken verdeckt, deren Augenschlitze und klaffende Mundöffnungen im Licht der Fackeln wie fahle Totenschädel wirkten. Ihr Anblick war gespenstisch.

Hinter der himmelragenden Felsstele führte der Götterpfad weiter hinauf zum Krater des Vulkans. Ein Weg, den allein der König beschreiten durfte. Wenigstens dieses letzte Tabu hatten die Gesetzesbrecher nicht verletzt.

Das kostbare Material der Masken, aber auch die Kleidung und das blinkende Rüstzeug, das die hier Versammelten zur Schau trugen, ließen nur einen Schluß zu: Die Frevler entstammten allesamt dem Kreis der Hohen Familien!

Und nicht nur das. Jeder der Krieger hielt eine jener kostbaren Waffen der Schmaläugigen in Händen, die aus dem Bestand der geheimen königlichen Waffenkammer stammten. Die Entdeckung grub eine steile Zornesfalte auf Buralofas Stirn. Er hatte die Diebe gefunden. Der König würde unendlich dankbar sein, wenn er jetzt noch herausfände, wer sie waren.

Einer der Krieger trat aus dem Kreis hervor und baute sich vor den anderen auf, ohne Zweifel der Anführer der Bande. Stumm sah er die Versammelten reihum an. Dann peitschte seine Stimme über das Plateau.

»Das Königreich krankt, Waffenbrüder! Schwäche und Torheit haben es überzogen wie ein Geschwür. Jeder, der Augen im Kopf hat, kann dies erkennen. Und doch scheint es, als oh die meisten der Hohen Familien, durch deren Adern das Blut des Gottessohns fließt, mit Blindheit geschlagen wären.«

Erregtes Gemurmel machte sich unter den Zuhörern breit. Buralofa schob sich ein Stück weiter nach vorn, damit ihm kein Wort des Aufrührers entging. Dieser hob die Rechte, und umgehend kehrte wieder Ruhe ein.

»Wir, die wir uns an diesem heiligen Ort versammelt haben, sind angetreten, Eomes’ heiligen Bräuchen wieder Geltung zu verschaffen!« Zustimmende Rufe krochen über das Plateau. Buralofa meinte, die durch die Maske hohl und gedämpft klingende Stimme des Anführers schon einmal gehört zu haben. »Wir, meine Freunde, wir allein sind Coleopas einzige, Coleopas letzte Hoffnung! An uns liegt es, das Geschwür, welches das Reich befallen hat, auszubrennen und die Schöpfung des göttlichen Fischers zu heilen. Mußten wir nicht viel zu lange mit ansehen, wie die heiligen Traditionen mit Füßen getreten wurden? Mußten wir es nicht viel zu lange hinnehmen, wie uns ein fetter Tor auf dem Thron nach und nach unserer angeborenen Rechte beraubt hat?«

Die Stimme des Aufrührers überschlug sich vor Eifer. »Ein Herrscher, dessen schwache Lenden ihm nur einen einzigen Sohn geschenkt haben! Seine Tage sind gezählt! Ebenso die Tage, da die Taten der Hohen Familien nach Gesetzen bewertet werden, die ausschließlich dazu dienen, das einfache Volk zu regieren.

Vorbei die Zeit, in der die Solare Fischern und Bauern gleichgestellt werden. Und vorbei die Zeit, da die Würde des Blutes mit Füßen getreten wird. Brüder, Freunde, jetzt ist die Stunde zum Handeln gekommen! Wir werden Coleopa in eine neue Zukunft führen!«

Ohrenbetäubender Jubel brandete auf, und Buralofa konnte nur mit Mühe den Wunsch niederringen, nach vorn zu stürmen und dein Verräter seine Hela in den Leib zu rammen. Mehrfach in der coleopäischen Geschichte hatte es Machtkämpfe zwischen den Hohen Familien gegeben, doch noch nie hatte es jemand gewagt, den Anspruch des Königshauses in Frage zu stellen. Wer war nur dieser Anführer? Er ahnte, daß er den Mann in der Mitte von irgendwoher kannte. Doch woher?

Der Aufrührer musterte seine Mitverschwörer prüfend. Er ließ einige Augenblicke verstreichen, dann bedeutete er den anderen wieder zu schweigen. »Ich weiß, daß wir gezwungen sind, einen Weg zu beschreiten, der ohne Beispiel ist. Und ich weiß auch, daß manch einer von euch im Zweifel ist, ob dieser Weg mit Eomes’ Geboten in Einklang steht.«

Ein grimmiges Lächeln breitete sich auf Buralofas Gesicht aus. Genau das war der Schwachpunkt dieses Plans. Aufrührerische Reden zu schwingen war das eine, diesen auch Taten folgen zu lassen etwas völlig anderes. Scheiterte das Unternehmen, dann war das Leben all dieser Männer verwirkt.

»Doch etwas Wunderbares ist geschehen!« Der Aufrührer verharrte, um die Wirkung seiner Worte zu unterstreichen. »Eomes selbst befiehlt uns zu handeln! Ich habe euch nicht ohne Grund an diesen Ort geführt. Ich hatte euch ein Zeichen versprochen. Einen unzweifelhaften Beweis seiner Gunst.«

Etwas in der Haltung der Maskenträger änderte sich. Man konnte fast körperlich fühlen, wie die Spannung unter ihnen stieg. Buralofa fragte sich besorgt, was der Maskenträger wohl im Schilde führte.

Der Aufrührer trat einen Schritt zur Seite und gab den Blick auf die alte, steinerne Stele frei, um die herum die Opfergaben lagen. In einer pathetischen Geste ergriff er eine der Fackeln und hielt sie an dem großen Fels empor. Eigenartige Symbole wurden im flackernden Feuerschein sichtbar, die tief in den Stein eingeritzt waren, Kreuze, Kreise und geschwungene Linien. Ihr Sinn erschloß sich Buralofa nicht, und doch schienen sie so alt wie der Stein selbst zu sein. An der Spitze der Stele aber, alles überragend, thronte ein achtzackiger Stern.

»Seht ihr den Stern? Dieses Bildnis, so heißt es, wurde von Eomes selbst in den Stein geschnitten. Der Stern ist sein heiliges Zeichen. Ein Geheimnis, um das allein die Solare wissen. Und jetzt, Brüder, wendet euren Blick nach Westen, und sagt mir, was ihr dort seht!«

Die Köpfe der Verschwörer ruckten herum. Ihre Blicke wanderten suchend über den wolkenverhangenen Horizont. Auch Buralofa konnte sich der Eindringlichkeit dieser Aufforderung nicht entziehen.

»Habt Geduld!« klang beschwörend die Stimme des Aufrührers durch die Nacht. Die Zeit verrann zäh wie erkaltende Lava, und im Herzen des Richters keimte die Hoffnung auf, daß sich die Frevler bald gegen ihren Anführer wenden würden.

Da zerriß das Wolkenband am Firmament.

Dicht über dem Horizont stand ein neuer, weißer Stern am Nachthimmel. Ein Stern, der einen hellen Schweif hinter sich herzog. Erregte Rufe wurden unter den Maskenträgern laut. Auch Buralofas Augen weiteten sich voller Staunen. Bei Eomes, was hatte dies zu bedeuten?

»Ein Zeichen!« Ergriffen und überwältigt deutete einer der Maskenträger auf den neuen Stern. Als hätten diese Worte den Bann von der Menge genommen, brach ohrenbetäubender Jubel aus, in den sich Anrufungen an den Göttersohn selbst mischten.

Buralofa war sprachlos. Die selbstbewußten Worte des Aufrührers, der eigentümliche Stern am Himmel ... konnte er sich denn in allem so geirrt haben? Sollte es wirklich Eomes’ Wille sein, daß das Recht auf seiten der Verschwörer lag?

Blitzende Waffen wurden dem Nachthimmel entgegengestreckt, und ein halbes Dutzend Männer riß sich im Überschwang die Silbermasken vom Gesicht. Vier der Krieger waren Buralofa fremd, aber zwei von ihnen erkannte er als die Zwillingssöhne des Solars von Vavas’katepe. Aus ihren Blicken sprach fanatische Ergebenheit.

Der Jubel endete so schlagartig, wie er aufgebrandet war. Man hätte den Panzer eines Käfers fallen hören können, so still wurde es plötzlich auf dem Plateau.

Buralofa zuckte zusammen. Erst jetzt bemerkte er den Fehler, den er begangen hatte: Beim Anblick des neuen Sterns hatte er sich aus seiner Deckung erhoben. Dreißig Augenpaare waren nun auf ihn gerichtet und musterten ihn in einer Mischung aus Entsetzen, Zorn und Verblüffung.

Der Oberste Richter umklammerte seine Hela mit festem Griff. Wie hatte er sich nur so vergessen können! Jetzt, da er all den Kriegern in ihren aufpolierten, stattlichen Rüstungen offen gegenüberstand und sich der Vielzahl der Waffen aus dem harten Metall der Schmaläugigen bewußt wurde, fühlte er sich das erste Mal in seinem Leben nackt und verletzlich.

Er hob sein Haupt, trat hinter dem Fels hervor und machte sich zum Kampf bereit. Er wußte, daß es kein Zurück mehr gab. Hier und heute würde er sein Leben beenden. Aber er wollte wenigstens seine Ehre bewahren. Entschlossen sprach er den Anführer der Verschwörer an.

»Enthülle dein Gesicht, Verräter! Du stehst dem Obersten Richter Coleopas gegenüber. Zeig, daß du bereit bist, die Verantwortung für dein Tun zu übernehmen.«

Auch die letzten der Verschwörer zogen ihre Waffen blank und schauten sich unsicher nach allen Seiten um. Es dauerte einige Atemzüge, bis sie begriffen, daß der Oberste Richter allein gekommen war. Verunsichert blickten die Krieger zu dem Mann in ihrer Mitte. Der lachte erst leise und dann immer lauter.

»Sieh an, der Oberste Richter Halapuas. Hat der alte Mann seine Nase wieder in Angelegenheiten gesteckt, die ihn nichts angehen?«

»Noch einmal fordere ich dich auf, mir dein Gesicht zu zeigen! Ich bezichtige dich, so wie jeden anderen hier, des Verrats am Herrscherhaus und der Übertretung heiliger Gesetze. Für diese Verbrechen kann es keine Gnade geben. Mein Urteil ist gefällt. Es lautet auf Tod!«

Buralofa trat nach vorn und wünschte, seine Stimme möge die gewünschte Festigkeit haben. Doch insgeheim befürchtete er, daß in ihr jene Unsicherheit mitschwang, die sich seiner seit dem Anblick des neuen Sterns bemächtigt hatte. Hoffentlich bemerkte niemand, daß er ... zu zweifeln begonnen hatte.

»Du alter Narr!« Der Anführer machte keine Anstalten, auch nur einen Schritt auf ihn zuzugehen. Er verhöhnte ihn damit nur noch mehr. »Vor dir steht der neue König Coleopas. Das alte Herrscherhaus hat sein Erbrecht verwirkt. Ich werde die Schande, die es über das Reich gebracht hat, mit Blut reinwaschen. Du bist meiner nicht würdig. Gib auf, Richter, und ich verspreche dir einen schnellen Tod.«

Die Maskenträger hatten derweil einen Ring um Buralofa geschlossen. Stumm blickte er den Aufrührer an. Niemals würde er sich ergeben.

Der Fremde zuckte bedauernd mit den Achseln und wandte sich an seine Männer. »Tötet ihn – und bringt mir die Hela.«

Umgehend sprang ein halbes Dutzend der Maskenträger vor und umtanzte den Obersten Richter mit gezogenen Waffen. Buralofa wartete kühl ab und nahm trotz seiner vom Aufstieg schmerzenden Beine die Kampfstellung Wind auf Stein ein, bereit, auf jeden Angriff mit einem tödlichen Konter zu reagieren. Er hob die Hela in Brusthöhe und drehte den Schaft so, daß die gewölbte Schneide nach oben zeigte. »Wer von euch Aufrührern möchte als erster sterben?«

Buralofa wußte aus jahrzehntelanger Erfahrung, daß solche Worte nie ohne Wirkung blieben. Beunruhigt schauten sich die Krieger an, und der Oberste Richter nutzte diesen Augenblick der Unsicherheit, um anzugreifen.

Speer in Brandung. Buralofa ließ seine Waffe mit tänzerischer Eleganz herumwirbeln, und das harte, schwarze Metall der Hela schnitt tief in die weiche Rüstung jenes Mannes, der ihm am nächsten stand. Ein schmerzerfüllter Schrei erklang unter der Silbermaske. Blutüberströmt taumelte der Krieger zurück. Die Umstehenden antworteten mit zögerlichen Angriffen und versuchten mit ihren Hieben und Stichen seine Deckung zu durchdringen, doch Buralofa hatte keine Mühe, den Klingen auszuweichen und die Hiebe seiner Gegner zu parieren. Es war unverkennbar, daß die Männer die fremdartigen Waffen der Schmaläugigen noch nicht lange führten. Einige der Maskenträger schienen überhaupt über wenig Kampferfahrung zu verfügen. Der Oberste Richter lächelte bitter. Noch vermochte er die Übermacht mit der überlegenen Kampfkunst der Richter abzuwehren, doch wie lange?

Lauf des Jovo, Dach der Brandung, Welle des Südens. Buralofa tanzte den Tanz des Todes mit jener meisterlichen Vollendung, die einem Obersten Richter angemessen war. Drei weitere Krieger bluteten bereits unter ihren Rüstungen, und die Männer wurden noch vorsichtiger. Keiner der Aufrührer lachte mehr. Doch Buralofa wußte, daß seine Kräfte bald erschöpft wären. Und seine Gegner mußten das auch wissen. Warum sollten sie ein Wagnis eingehen?

Wieder und wieder bemühte er sich, einzelne Männer durch Finten dazu zu verleiten, ihre Deckung zu öffnen. Doch seine Gegner waren jetzt gewarnt und blieben außerhalb seiner Reichweite.

Ein stechender Schmerz durchfuhr Buralofas linken Oberarm. Eomes, wie hatte er den Angreifer in seinem Rücken übersehen können?

Flug des Aiok. Wütend wirbelte der Richter herum, und mit einem blitzschnellen Tritt hatte er dem überraschten Verschwörer die Waffe aus der Hand gefegt. Doch bevor er mit einem tödlichen Stoß seiner Hela nachsetzen konnte, wurde von allen Seiten Gebrüll laut, und die Angreifer drangen zugleich auf ihn ein.

Buralofa kämpfte den Kampf seines Lebens, doch dem sich schließenden Ring war er nicht gewachsen. Das Plateau war von Kampfeslärm erfüllt, und die Angreifer gebärdeten sich jetzt wie ein Schwarm Morakäfer. Immer wieder schnitten scharfe Klingen in Buralofas Fleisch. Der Oberste Richter spürte mit jedem Tropfen Blut, wie das Leben aus seinem geschundenen Körper wich.

Über allem aber lag das höhnische Gelächter des Anführers. »Entreißt ihre die Hela!« rief er seinen Getreuen zu.

Niemals!

In einer letzten Kraftanstrengung spannte sich Buralofa, um die Hela mit einem lauten Schrei auf den Lippen in die Nacht zu schleudern – dorthin, wo sich die Flanke des Vulkanberges in einen zerklüfteten Abgrund auftat. Da bohrte sich eine Klinge in seine Hüfte, und ein weiterer Schnitt riß sein rechtes Bein der Länge nach auf. Der Richter schrie vor Qual. Benommen stürzte er zu Boden, und die Hela, die er vor dem Zugriff der Verräter bewahren wollte, entglitt ihm. Sein Leib schien nur mehr aus Schnitten, Wunden und Schmerzen zu bestehen. Jeden Augenblick erwartete er den tödlichen Streich. Als es ihm gelang, den Kopf zu heben, erkannte er einen der beiden Söhne des Solars von Vavaska’tepe. Haßerfüllt wollte dieser ihm die Klinge ins Herz treiben. Ober- und Unterlippe des Kriegers waren durch einen klaffenden Schnitt entstellt. Offenbar hatte er ihm zuvor mit der Hela das Gesicht aufgeschlitzt. Eine Narbe, die den Mann bis ans Ende seiner Tage zeichnen würde.

Doch bevor sich der Sohn des Solars am Obersten Richter rächen konnte, fielen ihm seine Kameraden in den Waffenarm. Unter jammerndem Protest ließ er sich fortziehen. Um Buralofa her flimmerte die Welt und verschwamm in einem Nebel aus Blut. Wie ein Traumbild erschien ihm der Anführer der Verschwörer, der sich nun über ihn beugte.

»Ich muß zugeben, daß du tapfer gekämpft hast, alter Mann. Dennoch ist Eomes’ Waffe jetzt mein.«

Der Richter wollte ihm einen Fluch entgegenschleudern. Doch alles schien jetzt ohne Bedeutung. Alles, bis auf ...

Schmerz und Blutverlust sorgten dafür, daß die Worte nur als leises Krächzen über seine Lippen drangen. »Zeig ... dein ... Gesicht.«

Mit einer ruhigen Bewegung nahm der Anführer die Silbermaske ab und lächelte. Für einen winzigen Augenblick kehrte Leben in Buralofas Glieder zurück. »Du?!« stieß er ungläubig hervor.

»Ja, ich. Und glaube mir, wenn ich erst König bin, beginnt eine neue Zeit. Nichts wird mehr so bleiben, wie es war! Du wirst es leider nicht mehr erleben, alter Mann.«

Buralofa glaubte, etwas wie Bedauern im Gesicht des Anführers lesen zu können.

Dann scharte dieser seine Getreuen um sich, die sich auf sein Zeichen hin zum Abstieg bereitmachten. Niemand achtete mehr auf den Obersten Richter.

Buralofa wurde kalt. Es war eine Kälte, die langsam zu seinem Herzen kroch. Leise stöhnte er, dann fiel sein Kopf zur Seite. Das letzte, was er sah, war der neue Stern am Horizont.

Das Weltennetz

Подняться наверх