Читать книгу Naturphilosophie der Ernährung - Thomas Garbe - Страница 11

II.1.a. Pro-oxidantien

Оглавление

Oxidationsmittel sind charakterisiert durch die allgemeine Fähigkeit, Elektronen aufzunehmen. Als solche stehen sie den Reduktionsmitteln komplementär gegenüber, die leicht Elektronen abgeben. Alle Reduktionsmittel haben in der oxidierenden Erdatmosphäre (mit einem Sauerstoffgehalt von 20%) die Tendenz zur Autoxidation. Starke Reduktionsmittel sind technisch unverzichtbar, aber wegen der Erzeugung von Sauerstoffradikalen bei andauernder geringer Exposition ziemlich toxisch. Zu ihnen zählen anorganische Verbindungen wie Dithionit-Natrium (NaO2S−SO2Na), Hydrazin (H2N‒NH2) und Hydroxylamin (HO‒NH2).

Das Hydroxylamin entsteht in vivo aus den medizinisch verwendeten Sulfonamiden, die darum als Pro-oxidantien zu gelten haben. Sie werden immer wieder, von profitgetriebenen Autoritäten, wirklichen oder angeblichen Risikopatienten unbefristet zur Prävention von Infektionskrankheiten aufgedrängt.

Auch der ubiquitäre Metabolit Glukose ist ein Reduktionsmittel. Glukoselösungen reduzieren beispielsweise Silbersalze zu metallischem Silber, und in geringem Umfang reduzieren Glukoselösungen auch den Luftsauerstoff, wobei Wasserstoffperoxid entsteht (Abb. III-2). Die Autoxidation der Glukose findet auch im lebenden Organismus statt, wo nach Maßgabe des Blutzuckerspiegels toxisches Wasserstoffperoxid entsteht. Der Blutzuckerspiegel – genau genommen ist immer der Blutglukosespiegel gemeint, wird bei Gesunden durch hohen Zuckerkonsum vorübergehend erhöht – immerhin! beim unbehandelten Diabetes ist er permanent erhöht.

Eine wichtige Gruppe der Pro-oxidantien sind die RedOx-Zykler. In reduzierter Form autoxidieren sie spontan mit Sauerstoff ‒ unter Bildung des toxischen Superoxid-Radikals, um dann sogleich aufs Neue reduziert zu werden. Die Reduktion der Redoxzykler erfolgt entweder spontan durch eine Reaktion mit natürlichen Metaboliten, oder durch eine enzymatisch katalysierte Wasserstoffübertragung. Die Toxizität xenobiotischer Redoxzykler beruht mithin auf der Erzeugung von Superoxid und auf dem Entzug von reduktiven Valenzen, so dass die Zelle reguläre reduktive Funktionen nicht mehr befriedigend erfüllen kann (Liochev et al. 1994).

Berüchtigte Redoxzykler sind der Vitamin-K-Ersatzstoff Menadion (Abb. IV-10), und das Herbizid Paraquat. Das Menadion wird in tierischen Zellen durch den Metaboliten Glutathion aktiviert, indem dessen Sulfhydrylgruppe (R−SH) spontan Wasserstoff ans Menadion abgibt. Die 2[H] aus der Gleichung

2R−SH R−S-S−R + 2[H]

reduzieren das Menadion, das dann sofort autoxidiert ‒ unter Bildung von zwei toxischen Superoxid-Radikalen. Glutathion, chemisch ein Tripeptid aus den Aminosäuren Glycin, Glutamat und Cystein (siehe Abb. V-2), hat die wichtige Funktion, das RedOx-Gleichgewicht in den Zellen und im Blut zu stabilisieren. In diesem Zusammenhang dient es dem wichtigen anti-oxidativen Enzym Glutathion-peroxidase als Lieferant von reduzierenden Äquivalenten, d.h. von aktivem Wasserstoff. Das Enzym Glutathionperoxidase reduziert mit Hilfe von Glutathion zum Beispiel toxische Fettsäure-hydroperoxide zu wertvollen Fettsäure-alkoholen (Hydroxyfettsäuren, Abb. IV-8).

Die reduktive Kraft des Glutathions reicht zur spontanen reduktiven Aktivierung des Herbizids Paraquat nicht aus, und es gibt auch keine anderen gewöhnlichen Metaboliten des menschlichen Organisms mit hinreichend reduktiver Kraft. Um Paraquat zu reduzieren, bedarf es eines katalytischen Enzyms – einer Reduktase (Liochev et al. 1994). Grüne Pflanzen enthalten Paraquat-reduzierende Reduktasen. Die gehören zum photosynthetischen Apparat, weshalb von interessierter Seite die Meinung gefördert wird, dass Paraquat ein für Tier und Mensch ungefährliches Herbizid sei. Doch bereits das gewöhnliche Darmbakterium Escherichia coli verfügt über eine Reduktase, die zufällig das Paraquat effizient reduziert, welches dann ohne Verzug – unter Bildung von Superoxid – autoxidiert, um sogleich erneut reduziert zu werden. Deshalb ist E. coli sehr empfindlich gegen Paraquat. Andere Mikroben, die über keine geeignete Reduktase verfügen, sind völlig unempfindlich. Auch die Zellen des menschlichen Organisms sind gegen Paraquat unempfindlich, so dass es um so beherzter als Herbizid eingesetzt wird. Aber spezialisierte Nervenzellen von idiosynkratisch sensiblen Individuen scheinen doch empfindlich zu sein, weil Paraquat aufgrund epidemiologischer Daten ätiologisch mit dem neurodegenerativen Parkinsonismus verwickelt scheint. Das Misstrauen nährt sich auch aus der strukturellen Verwandtschaft des Paraquat mit dem MPTP (Abb. III-5). MPTP ist eine Chemikalie, die bei Primaten und Menschen binnen kurzer Zeit fatalen Parkinsonismus induziert (Langston et al. 1983). Möglicherweise wird MPTP endogen gebildet – aus der Aminosäure Tryptophan und dem Alkoholmetaboliten Acetaldehyd sowie dem Zuckermetaboliten Pyruvat (Abb. III-5).

Auch natürliche essenzielle Redoxzykler der Atmungskette sind Pro-oxidantien − und darum potenziell gefährlich. Das ist verständlich, weil die Essenz der Zellatmung darin besteht, Energie für schwere Zellarbeit unmittelbar verfügbar zu machen, indem der in den Nahrungsmitteln gebundene energiereiche Wasserstoff [H] mit dem eingeatmeten Sauerstoff (O2) nass verbrannt wird, wobei viel Energie frei wird – wie bei der formal identischen Knallgasreaktion. Dazu müssen pro O2-Molekül vier Wasserstoffatome (Elektronen) übertragen werden. Damit das ohne Freisetzung von intermediären Sauerstoffradikalen (Abb. II-3) geht, muss die Übertragung der vier Elektronen gleichzeitig erfolgen. Diese kritische Aufgabe erfüllt ein besonderes RedOx-Enzym – die Cytochromoxidase. Das aktivierte Enzym enthält als Elektronenüberträger je zwei reduzierte Eisen-Ionen (Fe2+) und zwei reduzierte Kupfer-Ionen (Cu+). Durch die Reaktion mit O2 entstehen Fe3+- und Cu2+-Ionen, die dann erneut reduziert werden.

Ein auf die Zellatmung spezialisierter essenzieller Redoxzykler ist das Ubichinon (Abb. IV-9). Seine ein- und zweifach reduzierten Formen Ubisemichinon und Ubichinol finden sich in der Zelle lokalisiert zwischen den beiden Schwanz-an-Schwanz angeordneten Schichten der Membranen (Abb. II-2), und dort sind sie vor spontaner Autoxidation sicher – so lange wie die Membran strukturell unversehrt bleibt.

Eine unregulierte Autoxidation von Ubisemichinon und Ubichinol, die zur massenhaften Erzeugung von unvollständig reduziertem Sauerstoff führt ‒ zu den Sauerstoffradikalen (Abb. II-3), beginnt jedoch, sobald die Struktur der atmungsaktiven Membran verzerrt wird. Membranverzerrungen entstehen durch Einwirkung kleinmolekularer lipophiler Stoffe, die daher ebenfalls als Pro-oxidantien gelten. Sie sind chemisch divers und weitverbreitet (Tab. II-1). Sie benötigen für ihre membranverzerrende Wirkung mit pro-oxidativen Konsequenzen, entgegen weitverbreiteter Meinung, keine metabolische Aktivierung.


Die Membranverzerrungen durch Exposition mit lipophilen Stoffen (Tab. II-1) kommen durch unspezifische Einwirkung an verschiedenen Stellen der quasi supermolekularen Membran zustande. Ein Angriffspunkt liegt an der Oberfläche der Membran (Abb. II-2a), die aus den aneinandergereihten polaren Köpfen der ansonsten unpolaren Membranlipide besteht (Abb. II-2b, c). Dadurch wird die Membran äußerlich hydrophil und tritt mit den umgebenden Wassermolekülen in elektrische Wechselwirkung – unter spontaner Ausbildung von Wasserstoffbrücken (Abb. V-1b). Deren Bildung wird durch gelöste Stoffe im Wasser gestört. Besonders störend wirkt der lipophile Alkohol − der noch hydrophil genug ist, dass er sich unbegrenzt mit Wasser mischt. Auch die Membranen der Nervenzellen, die für die Reizleitung funktionell unabdingbar sind, werden durch Alkohol kompromittiert, und das wird als Berauschung subjektiv wahrgenommen.

Stoffe, die lipophiler sind als der Alkohol, etwa die weitgehend wasserunlöslichen halogenierten Kohlenwasserstoffe (z.B. Chloroform), dringen in die Membran ein, aber nur bis in die hydrophile Kopfregion der Membranlipide. Noch lipophilere Stoffe – z.B. kurzkettige Kohlenwasserstoffe, Benzol, Toluol, Tetralin – durchdringen die Membran völlig. Tabelle II-1 listet Stoffe auf, deren pro-oxidative Toxizität empirisch belegt ist. Die tatsächliche Zahl von lipophilen Pro-oxidantien ist sehr viel größer, da fast alle kleinmolekularen Kohlenstoffverbindungen einen lipophilen Charakter haben.

Die Exposition mit natürlichen Lipophilen ist, mit Ausnahme vergorener alkoholischer Getränke und stark wirkenden Drogen, undramatisch. Dagegen mahnt die weit fortgeschrittene Verwendung unterschiedlichster synthetischer (xenobiotischer) Wirkstoffe für alle Lebensbereiche dazu, ihre Exposition eher zu vermeiden. Die Kombination verschiedener Lipophile potenziert die membrantoxische Wirkung des einzelnen Lipophils, weil sie Synergismen ermöglicht. Sie beruhen darauf, dass verschiedene Lipophile an verschiedenen Stellen der Membran wirksam werden: von der membranstabilisierenden Wassermatrix über den hydrophilen Kopf bis zum hydrophoben Schwanz (Abb. II-2b, c). Das potenziert die strukturellen Verzerrungen, die zur Erzeugung von Sauerstoffradikalen führen. Dementsprechend ist generell davon abzuraten, verschiedene Medikamente oder Freizeitdrogen, die allesamt lipophile organische Verbindungen sind, gleichzeitig einzunehmen, insonders auch nicht mit alkoholischen Getränken.

Das Ausmaß der Fettfreundlichkeit (Lipophilie) einer Kohlenstoffverbindung kann zwischen sehr hoch und sehr gering jeden Grad annehmen. Der Grad der Lipophilie wird determiniert durch die elementare Zusammensetzung und durch die molekulare Struktur der jeweiligen Verbindung. Lipophilie verhält sich zur Polarität komplementär: eine wasserabweisende lipophile Verbindung ist unpolar, und eine wasserfreundliche Verbindung ist polar. Lipophile Stoffe sind in unpolaren Flüssigkeiten (Lösungsmitteln) löslich, und polare Stoffe (neben dem Wasser insonders die Salze) sind in polaren Lösungsmitteln löslich. Nach ansteigender Polarität werden wichtige Lösungsmittel in der eluotropen Reihe folgendermaßen geordnet:

n-Heptan

n-Hexan

Cyclohexan

Isooctan

Tetrachlorkohlenstoff

Toluen (Toluol)

Chlorbenzen (Chlorbenzol)

Benzen (Benzol)

Diethylether

Chloroform

Dichlormethan

n-Butanol

Pyridin

Acetonitril

Isopropanol

Ethylacetat

Dimethylsulfoxid

Aceton

Ethanol (Alkohol)

Methanol (Methylalkohol)

Dimethylformamid

Wasser

wässrige Pufferlösungen

Viele Enzyme sind in Membranen gleich einem Fundament verankert, oder sie sind integraler Bestandteil von Membranen, so dass die lipophile Verzerrung einer Membran auch die Funktion der membranständigen Enzyme kompromittiert.

Zudem sind viele Enzyme aus unpolaren Aminosäuren aufgebaut (Abb. V-2), wodurch sie selber lipophil werden und analog den Membranen mit lipophilen Agenzien interagieren, was ebenfalls zum Funktionsverlust der Enzyme führt.

Spezifische Toxizität lipophiler Verbindungen

Die unspezifische Toxizität lipophiler Verbindungen wird durch die spezifische atomare Zusammensetzung, Größe und Struktur des jeweiligen Moleküls in vielfältiger Weise facettiert, so dass auch gutartige Wirkungen erscheinen können. Durch einfügen von funktionellen Gruppen wird der Verbindung eine dominierende gruppenspezifische Eigenschaft übergestülpt; nicht selten erfolgt das erst durch die Metabolisierung. So wird Alkohol zum reaktiven Acetaldehyd metabolisiert (Abb. III-4), der mit der Aminosäure Tryptophan und anderen Indolmetaboliten reagiert (Abb. III-4 und III-5), aber eher umstandslos zur gutartigen Essigsäure weiter oxidiert wird (Abb. IV-2). Der um ein C-Atom kürzere Methylakohol (Methanol) wird erst durch die Metabolisierung über den Formaldehyd zur schwer verdaulichen Ameisensäure toxisch (Abb. IV-2).

Eine singulär weit über die unspezifische lipophile Toxizität einfacher Lösungsmittel hinausführende Toxizität besteht beim Tetrachlorkohlenstoff (CCl4). Sie beruht auf der durch Leberenzyme verursachten reduktiven Bildung des hoch-reaktiven Trichloromethyl-Radikals (˙CCl3); dessen Autoxidation erzeugt das ebenfalls hoch-reaktive Trichloromethyl-peroxyl-Radikal (˙OOCCl3). Die Toxizität von Tetra wird als zwanzigmal höher eingeschätzt als die der anderen chlorierten Kohlenwasserstoffe, einschließlich des nächst-verwandten Chloroform (Trichlormethan: CHCl3, siehe Garbe und Yukawa 2001).

Ein krasses Beispiel für spezifische Toxizität sind die euphorisierenden und muskelrelaxierenden Butyl- und Amylalkohol-Ester der Salpetrigen Säure (Alkylnitrite, Poppers). Die spezifische Toxizität der Poppers ergibt sich aus ihrer funktionellen Nitritgruppe (R-O-NO). Durch eine Folge von spontanen und enzymkatalysierten Reaktionen wird daraus Stickoxid (N=O) freigesetzt – ein natürliches Signalmolekül. NO wirkt auf die Nerven glatter Muskeln, und bewirkt deren Erschlaffung. Deshalb lindern eingeatmete organische Nitrite – und auch viele der verwandten organischen Ester der Salpetersäure (Nitrate, R-O-NO2), namentlich das Nitroglycerin – die mit Panik einhergehenden Spasmen der Herzanfälle. Die Verwendung von Poppers für rekreative Zwecke beruht neben euphorisierenden Wirkungen auf der Entspannung des Sphinctermuskels durch freigesetztes NO, was umstandslose anale Penetration erlaubt.

Die Toxizität von NO ergibt sich aus der spontanen Reaktion von NO mit Aminogruppen (R−NH2) und Sulfhydrylgruppen (R−SH) der Proteine. Als Pökelsalz (Natriumnitrit, NaNO2) bewirken diese Reaktionen die attraktive Rosa- und Rotfärbung von Wurst und gepökeltem Fleisch. Die Reaktionen finden auch im lebenden Organismus statt. Deshalb schätzt sie der gesunde Menschenverstand umstandslos als destruktiv ein, und das wird auch durch empirische Daten nahegelegt. Dementsprechend wurde die gewohnheitsmäßige Inhalation von Poppers, für hedonistische Zwecke, als wesentlich für die amerikanische AIDS-Epidemie in den 1980er Jahren verantwortlich gemacht – von kritischen Kennern der Scene (Lauritsen und Wilson 1986) – wie auch von Ärzten und Wissenschaftlern (Duesberg 1996). Offiziell, das bedeutet: kommerziellen Interessen gemäß, wird bis zum heutigen Tag die Inhalation von Poppers mit seinem fruchtigen Aroma als ein eher harmloses Vergnügen heruntergespielt – schließlich soll ja einzig und allein das HI-Virus für AIDS verantwortlich sein (siehe Abschnitt I.5). Bei Lauritsen und Wilson (1986) heißt es dagegen:

Nimm keine Poppers. Das ist das Erste und das Letzte was sich über sie sagen lässt.

Naturphilosophie der Ernährung

Подняться наверх