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I.1. Chemikalisierte Ernährung ist pathogen
ОглавлениеDass die Ernährung den Gesundheitszustand entscheidend bestimmt, zeigt sich an den verschiedenen Häufigkeiten chronischer Krankheiten zwischen Völkern unterschiedlicher Lebensweise oder Epochen. Krankheiten wie Karies, Rachitis, Rheumatismus, Diabetes, Herz-Kreislauf-Leiden oder Krebs erweisen sich danach als vermeidbar – so wie die durch Tabakkonsum verursachten Leiden.
In vorindustrieller Zeit hatten die Menschen oft keine Wahl, als das Wenige zu essen das da war; das machte die Ernährung oft einseitig. Einseitigkeit bedeutet Übermaß an bestimmten Nährstoffen – und Mangel an anderen. In der neuzeitlichen Industriegesellschaft ist das Nahrungsangebot gleichbleibend von hoher Vielfalt – fast unabhängig von Jahreszeit und lokaler Ernte, und dennoch stimmt etwas nicht mit der Ernährung – das beweist die hohe und steigende Zahl chronisch Kranker. Das Problem heute liegt beim Konsumenten selbst – seinem Denken und Fühlen. Konrad Lorenz (1983) drückt es verhaltensbiologisch aus, wenn er sagt: der Mensch hat verlernt „mit lebenden Dingen umzugehen, mit der Gemeinschaft der Lebewesen, in der und von der wir Menschen leben”. Anders ausgedrückt heißt das, dass der Mensch die fundamentale Differenz zwischen Lebewesen und Maschine aus den Augen verliert, und sein Selbstverständnis autistische Züge adoptiert. Das lässt sich bereits am Sprachgebrauch erkennen, wenn etwa das empfindsame deutsche Wort Leib einen altmodischen Geschmack annimmt, und progressiv durch den toten Körper ersetzt wird. Das wird exemplarisch deutlich in den Schriften von Ernst Jünger, wo den Leser jedes Mal ein Schauder überfällt, wenn der sonst so lebensbejahende Jünger wieder einmal von seinem Körper redet – als ob er sich seines lebendigen Leibes schämte.
Der Weg eines Individuums hinein in chronische Krankheit ist gepflastert mit pathogener Kost. Von nichts kommt nichts! Die fatal immer wieder falsch getroffenen persönlichen Entscheidungen für die pathogenen Nahrungsmittel beruhen auf einer Krise des Denkens und Fühlens. Beim Menschen ist der Instinkt – nach Nietzsches Einsicht die höchste Form der Intelligenz – durch seine Vernunft weitgehend verdrängt. Die Vernunft dient subjektivem Interesse und gebiert industrielle Nahrungsmittel, die nur des Profits wegen hergestellt und propagiert werden. Den Makel solcher Beschränktheit kann die Vernunft durch kritische Information und konsequentes handeln überwinden.
Als ein Nahrungsmittel hat, aus systematischen Gründen, alles zu gelten, was dem Organismus einverleibt wird – oral oder parenteral. Danach zählen also auch Tabakrauch, Kosmetika, Freizeitdrogen, Medikamente und Luft zu den Nahrungsmitteln. Die pathogene Wirkung jahrzehntelangen Konsums von Tabak, Alkohol und anderen Freizeitdrogen ist unbestritten. Induktiv folgt daraus, dass die Ätiologie chronischer Krankheiten nirgendwo als in den Nahrungsmitteln liegt. Siechtum im fortgeschrittenen Alter ist demzufolge kein unentrinnbares Menschenschicksal!
Zwar beruht das Nahrungsangebot nach wie vor auf landwirtschaftlich erzeugten, gewachsenen – biogenen – Naturprodukten, aber der Anteil an industriell verarbeiteten Nahrungsmitteln ist hoch. Die industrielle Verarbeitung verfolgt immer das Ziel, einzelne Inhaltsstoffe anzureichern, bis zuletzt molekular definierte Produkte vorliegen. Das perfekte Beispiel dafür ist der Zucker. Dieses industrielle Fabrikprodukt besteht nur aus einer einzigen Substanz, einer Chemikalie, und hat den wissenschaftlichen Namen Saccharose. Ebenso verhält es sich mit destillierten Alkoholika, Kartoffel- und Maisstärke, oder mit chemischen Konsistenz-, Geschmacks-, Farb- und Konservierungsstoffen, mit Natron, Backpulver, Freizeitdrogen, vielen Kosmetika und mit den industriellen Arzneimitteln. Annähernd so verhält es sich mit Weißmehl, Proteinpulver und geschmacklosen (raffinierten) Speiseölen – einschließlich aller Sorten von Margarine.
Die Chemikalisierung der Nahrung führt zu erheblich verlängerter Haltbarkeit und leichterer Verfügbarkeit. Für teure Originale finden sich billige synthetische Ersatzprodukte, deren einseitige Natur den lebendigen Zellen notwendige Baustoffe vorenthält. Was das tendenziell für die Zellgesundheit bedeutet, das mag man jenen Darmbakterien ablesen, die nach 10.000-Generationen-langer Kultivierung in chemisch-definiertem (dürftigem) Minimalmedium massenhaft mutiert waren (Papadopoulos et al. 1999). Bei tierischen Zellen entspricht derartiger Hypermutagenität der umfassende Umbau der Chromosomen; das ist der für Krebszellen charakteristische Zustand der Aneuploidie. Aneuploidie ist so umfassend, dass sie mikroskopisch meist sichtbar ist (siehe Abschnitt II-2).
Chemikalisierte Nahrungsmittel reizen zu einem Konsum, der den objektiven Bedürfnissen zuwiderläuft. Sie appellieren an den süchtigen Charakter ‒ an dessen ungebärdige Suche nach stofflicher Stimulanz ‒ nach Hits. Getrieben wird die Chemikalisierung durch das obsessive Interesse der Industrie an der Maximierung ihres Profits.
Der gewohnheitsmäßige Konsum von chemikalisierten Nahrungsmitteln buchstabiert einseitige Kost, die zu Mangelzuständen führt, sodass effiziente Reparaturarbeiten des Leibes unmöglich werden; das führt zu seinem vorzeitigen Verfall. Unser hoch komplexer Organismus braucht für seine Instandhaltung viele verschiedene Moleküle. Die finden sich in verschwenderischer Auswahl in Vollwertkost auf der Basis traditionell verarbeiteter frischer Gemüse, keimfähiger Vollkorngetreide, natürlicher Tierprodukte – aber nicht in chemikalisierten Nahrungsmitteln, welche allein fit sind, um Maschinen anzutreiben.
Die dekadente autistische Tendenz zur Gleichsetzung von Lebewesen und Maschinen wird ideologisch gefördert durch wiederkehrende humanitaristische Aufrufe zur Organspende durch die Regierung; das nährt Illusionen, der Mensch könne gleich einer Maschine mit ausgewechselten Funktionseinheiten am Laufen gehalten werden. Und auch ein Religionsführer, der die Praxis der Verpflanzung von lebenden Organen aus „hirntoten“ Spendern als Geschenk des Lebens willkommen heißt, übersieht, dass sie per se exklusiv ist ‒ notwendig die Mehrheit ausschließen muss, und unvermeidlich zum Missbrauch führt. Das ist in dem realitätsnahen Thriller Coma, unter der Regie des Schriftstellers Michael Crichton, atemberaubend inszeniert.
Die Geschichte der Chemikalisierung unserer Nahrungsmittel beginnt mit dem Quecksilber, das von Paracelsus (1493–1541) pathetisch als Spezifikum gegen die „Syphilis” in die Medizin eingeführt wurde (Shelton 1962). Das macht ihn zum geistigen Vater und Begründer sowohl von der Quacksalberei wie auch von der Chemotherapie, wenn auch der medizinisch-industrielle Komplex den neuzeitlichen Arzt Paul Ehrlich (1854 – 1915) auf dieses Podest stellt, der zur Behandlung der „Syphilis” das noch toxischere Arsen in Form des Farbwerke Hoechst Produkts Salvarsan populär gemacht hatte. Bis zur Einführung des stark entzündungshemmenden (und keineswegs bloß antibiotischen) Penicillin hielten viele Ärzte, trotz des Salvarsan, dem Quecksilber die Treue – obwohl Quecksilber als übles degeneratives Gift seit je berüchtigt ist. Es schädigt alle Organe – von der Haut bis zum Gehirn – in unangenehmer, abstoßender und zuletzt grausamer Weise (Tab. I-1).