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2 Fiktion des «ausgeglichenen Arbeitsmarkts» Einleitung

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KritikAn Kritik am Begriff des «ausgeglichenen Arbeitsmarkt» fehlte es nie. Nicht selten fällt diese Kritik mehr oder weniger zugespitzt aus: «‹Wenn man jetzt ganz boshaft wäre›, erläutert der Leiter eines Regionalärztlichen Dienstes dieses Prinzip [des ausgeglichenen Arbeitsmarktes], ‹könnte man sagen, es gibt den Beruf eines Matratzentesters und eines Museumswärters. Beim einen kannst du den ganzen Tag liegen, beim anderen kannst du sitzen, stehen, laufen, reden, ruhig sein, wie du willst. Jeder, der sich bewegen kann, kann das machen.›»[1] Was hat es mit dieser Kritik auf sich? Werden in der IV tatsächlich Jobprofile fingiert, die in der Realität nicht («Matratzentester») oder allenfalls im Museum («Museumwärter») anzutreffen sind – und, wenn ja, mit welcher Begründung?

EigenheitIm internationalen Vergleich wurde der «ausgeglichene Arbeitsmarkt» auch schon als «sehr ungewöhnliches Konzept» bezeichnet.[2] Dieses Konzept soll nach Christopher Prinz «einen Ausweg zwischen konkreter und abstrakter Arbeitsmarktbetrachtung (wonach der konkrete Arbeitsmarkt entweder ausschlaggebend oder irrelevant ist) darstellen (…) Die Orientierung an einem fiktiven ausgeglichenen Arbeitsmarkt soll bewirken, dass ein und dieselbe Situation bei unterschiedlicher Wirtschaftslage – also auch bei einer Krise oder einer Hochkonjunkturphase – zur gleichen Beurteilung (Zuspruch einer Invalidenrente ja oder nein) führt. In der Praxis ist diese Regelung aber nur schwer einheitlich umzusetzen.»[3]

ArbeitsmarktbetrachtungDamit sind die Grundprobleme der Figur des ausgeglichenen Arbeitsmarktes bereits gut umrissen: Eine allzu konkrete Arbeitsmarktbetrachtung kann dazu führen, das Arbeitsmarktrisiko über die Invalidität abzudecken und eine Art von «Arbeitsmarktrenten» auszurichten, womit die Grenze zwischen Erwerbsunfähigkeit und Erwerbslosigkeit bzw. zwischen Invalidität und Arbeitslosigkeit verwischt würde. Dagegen birgt eine allzu abstrakte Arbeitsmarktbetrachtung das Risiko, die Verwertbarkeit eines medizinisch-theoretisch vorhandenen Erwerbspotenzials zu fingieren und sich damit von den realen Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt völlig zu lösen. Letzteres kann zu Härtefällen führen, in denen der Verweis auf die Arbeitslosenversicherung problematisch bzw. illusorisch wird.

Aus- und MittelwegAus diesem Dilemma (konkrete Betrachtung und Übernutzung des Systems versus abstrakte Betrachtung und Härtefälle) verspricht der «ausgeglichene Arbeitsmarkt» einen Ausweg.[4] Er zeichnet sich letztlich durch zwei Merkmale aus: Der Arbeitsmarkt muss a) für die versicherte Person in Betracht kommen und b) ausgeglichen sein.[5] Mit anderen Worten: Der «ausgeglichene Arbeitsmarkt» ist ein «theoretischer durchschnittlicher Arbeitsmarkt» und damit «ein Mittelweg zwischen dem gegenwärtigen konkreten Arbeitsmarkt und dem völligen Wegdefinieren des Arbeitsmarktes».[6]

VagheitDer Reiz dieses pragmatischen «Mittelwegs» – eine um zufällige Arbeitsmarktschwankungen bereinigte Bemessung der Erwerbsunfähigkeit einer konkreten versicherten Person – geht mit einer grossen Vagheit einher. Die Akzente auf der Achse zwischen Realität (konkreter Arbeitsmarkt) und Fiktion (abstrakter Arbeitsmarkt) lassen sich verschieden setzen. Es lohnt sich daher, die Begriffsgeschichte des ausgeglichenen Arbeitsmarktes nachzuzeichnen, um besser zu verstehen, was damit gemeint ist.

Grundprobleme der Invaliditätsbemessung in der Invalidenversicherung

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