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Neue Herausforderungen

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MissbrauchsproblematikAb Mitte der 1990-er Jahre stieg die Zahl der IV-Rentenbeziehenden erneut stark an,[106] namentlich bei den psychischen Erkrankungen.[107] Anders als die Krisendiskussion in den 1970-er Jahren löste diejenige der 1990-er Jahre intensive gesetzgeberische Aktivitäten in der Invalidenversicherung aus und war in dieser Hinsicht politisch folgenreicher, wobei aus historischer Sicht eine «Medikalisierung der Krisendiskussion» auffällt.[108] Es entzündete sich erneut eine Missbrauchsdebatte, wobei vor allem Rentenbeziehende mit psychischen Problemen im Fokus standen.[109] Verwaltungs- und Gerichtspraxis gingen dazu über, die (problematischen) Abstrahierungen bei der Invaliditätsbemessung erwerbstätiger Versicherter in die gesundheitliche Komponente «vorzuverlagern».[110] Die Ausschälung psychosozialer und soziokultureller Faktoren[111] wie die inzwischen überwundene Überwindbarkeitspraxis[112] sind Ausdruck einer Verwaltungs- und Gerichtspraxis, die Defiziten in der (medizinischen) Abklärung und einer befürchteten Inflation «sozialer Leiden» entgegenwirken wollte. Vergleiche der Daten der 1990-er Jahre ergaben, dass in Jahren mit niedrigem wirtschaftlichem Wachstum die Ausgaben der Invalidenversicherung markant anstiegen.[113] Auswertungen konnten aber keinen institutionalisierten, routinemässigen Übertritt von Erwerbslosen zur Invalidenversicherung feststellen.[114]

Strengere PraxisDie strengere Beurteilung von Rentengesuchen durch die kantonalen IV-Stellen seit der Jahrtausendwende sowie eine restriktivere Gerichtspraxis in Bezug auf die Zusprache von IV-Renten wurden schliesslich im Rahmen einer grossangelegten Studie durch das BSV im Jahr 2007 bestätigt.[115] Bei knapp der Hälfte der Fälle war das Invalideneinkommen streitig, dessen Bemessung in direktem Zusammenhang mit dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt steht. Bei den untersuchten Urteilen ging es unter dem Titel des Invalideneinkommens viel stärker um dessen technische Ermittlung als um die Frage der Zumutbarkeit. Gemäss den Studienautoren entstand «aufgrund der Befunde zu den Gesundheitsschäden und zur Zumutbarkeit der Eindruck, dass das Gericht eine explizite Diskussion über die Zumutbarkeit bis zu einem gewissen Grad vermeidet»[116].

NischenarbeitsplätzeDie höchstrichterliche Rechtsprechung zum «ausgeglichenen Arbeitsmarkt» blieb insofern konstant, als immer wieder auf BGE 110 V 273 verwiesen wurde.[117] Anders als zu den Anfangszeiten der IV ging die Gerichtspraxis in einer Vielzahl von Fällen gar nicht mehr vertieft auf die gesamten persönlichen Verhältnisse[118] der Versicherten ein, sondern verwies pauschal auf die Möglichkeit von Überwachungs- und Kontrollarbeiten als körperlich leichte Tätigkeiten.[119] Als Beispiele solcher körperlich leichter Tätigkeiten nennt die Rechtsprechung auch heute noch Concierge, Parkplatzwächter, Museumswärter oder Lagerist.[120] Solche Nischenarbeitsplätze sind aber bedingt durch den Strukturwandel im Schwinden begriffen. Dieser Strukturwandel wirkt sich nach den verfügbaren Studien besonders negativ auf die Beschäftigungschancen niedrig qualifizierter Arbeitnehmender aus,[121] denn der schweizerische Arbeitsmarkt hat sich über die Jahrzehnte tiefgreifend verändert: Während die Zahl der Erwerbstätigen im Industriesektor abnahm, gewann der Dienstleistungssektor zunehmend an Gewicht. Im Jahr 2003 arbeiteten bereits knapp 72 % der Erwerbstätigen in der Schweiz in diesem Sektor. Viele Arbeitsplätze gingen deshalb verloren. Die Anforderungen an die erwerbstätige Bevölkerung haben sich durch diese Verschiebung der Arbeitsplätze in den Dienstleistungssektor und durch den technischen Fortschritt im Industriesektor verändert. Betroffen sind – wie erwähnt – vor allem gering qualifizierte Erwerbstätige.[122]

Kaufmännischer BereichAber auch die Struktur der Arbeitsplätze im kaufmännischen Bereich hat sich erheblich verändert, wo – wie das EVG bereits im Jahr 2003 festhielt – «die Tendenz in Richtung Sachbearbeitung geht, die Beschränkung eines bestimmten Arbeitsplatzes auf reine Schreib- und Kommunikationsfunktionen zunehmend schwieriger wird und auch Arbeitsplätze mit einem einfachen Aufgabenbereich vielfältig ausgestaltet sind (…) Wenn es schon für Gesunde schwierig ist, eine sich auf einfach Büroarbeit beschränkende Stelle zu finden, so muss bei einem bestimmten, im Einzelfall zu würdigenden Mass an gesundheitlich bedingten Einschränkungen bei der Ausübung einer schon seltenen Tätigkeit davon ausgegangen werden, dass das Leistungsvermögen auch bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage nicht mehr Gegenstand von Angebot und Nachfrage bildet und die Restarbeitsfähigkeit in der betroffenen Tätigkeit nicht mehr wirtschaftlich verwertbar ist».[123] Der Bundesrat äusserte sich ähnlich (dazu unten Rz. 67).

Grundprobleme der Invaliditätsbemessung in der Invalidenversicherung

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