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Bei Inkrafttreten des IVG

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IVG-1959Mit Inkrafttreten des IVG vom 19. Juni 1959 wurde der Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarktes im Gesetz verankert, ohne aber eine gesetzliche Definition einzuführen. Gesetzliche Grundlage bildete bis zum Erlass des ATSG Art. 28 Abs. 2 IVG-1959, der sich in die allgemeine Umschreibung des Invaliditätsbegriffs nach Art. 4 IVG-1959 einfügte:

«Für die Bemessung der Invalidität wird das Erwerbseinkommen, das der Versicherte nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihm zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das er erzielen könnte, wenn er nicht invalid geworden wäre.» (Art. 28 Abs. 2 IVG 1959)

«Als Invalidität im Sinne dieses Gesetzes gilt die durch einen körperlichen oder geistigen Gesundheitsschaden als Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall verursachte, voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde Erwerbsunfähigkeit.» (Art. 4 IVG-1959)

AbgrenzungAufschluss über den Sinn und Zweck des ausgeglichenen Arbeitsmarktes ergibt die Botschaft zur Schaffung der Invalidenversicherung von 1958, in welcher der Bundesrat unter anderem ausführte, versichertes Rechtsgut sei «die Erwerbsfähigkeit und nicht der Erwerb als solcher». Die Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit sei vom tatsächlichen Erwerbsaufall bzw. der Erwerbseinbusse zu unterscheiden.[22]

Besonders zu beachten sei – so der Bundesrat –, «dass in der Invalidenversicherung nur die durch einen Gesundheitsschaden verursachte Erwerbsunfähigkeit berücksichtigt werden darf. Die durch äussere Faktoren – wie Arbeitslosigkeit – bedingte Unmöglichkeit, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, ist davon zu unterscheiden. Nur auf diese Weise wird ein objektiver, von den Schwankungen des Arbeitsmarktes und dem Verhalten des Versicherten unabhängiger Versicherungstatbestand geschaffen. Eine klare Trennung zwischen Invalidenversicherung und Arbeitslosenversicherung, wie sie in verschiedenen Vernehmlassungen gefordert wird, ist nur möglich, wenn in der Invalidenversicherung ausschliesslich darauf abgestellt wird, ob der Versicherte mit seinen geistigen und körperlichen Kräften bei normaler Arbeitsmarktlage imstande wäre, erwerbstätig zu sein.»[23]

KonjunktureinflüsseKonjunktureinflüsse («fluctuations de la conjoncture économique») seien bei der Invaliditätsbemessung grundsätzlich auszuschalten.[24] Ein «Invalider» habe zwar in Zeiten wirtschaftlicher Depression häufiger Mühe, eine Stelle zu finden, als ein voll Erwerbstätiger. Würde die Invalidenversicherung aber diesem Umstand besonders Rechnung tragen, so übernähme sie Aufgaben der Arbeitslosenversicherung.[25] «Wir sehen daher vor» – so der Bundesrat wörtlich – «dass bei der Invaliditätsbemessung auf eine ausgeglichene Arbeitsmarktlage abzustellen ist»[26].

ZumutbarkeitEine allzu abstrakte, d.h. von den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen weitgehend gelöste Arbeitsmarktbetrachtung strebte der Gesetzgeber indes nicht an. Dies zeigt sich daran, dass der Bundesrat bei der Bemessung von Validen- und Invalideneinkommen auf die Zumutbarkeit abstellte: Validen- und Invalideneinkommen haben sich nach den «persönlichen und beruflichen Voraussetzungen» der Versicherten zu richten.[27] In einer Publikation aus jener Zeit hielt Paul Piccard zu den Abklärungsmassnahmen in der IV fest, «[s]ie alle gipfeln eigentlich in der Frage, welche Art von Arbeit dem Versicherten zumutbar sei.»[28] Und der Bundesrat führte zum Invalideneinkommen aus: «Welche Tätigkeiten zumutbar sind, kann nicht generell festgelegt werden; es wird vielmehr auf die Verhältnisse des Einzelfalls ankommen. Man wird (…) insbesondere auf Ausbildung und bisherige Tätigkeit, Art der Behinderung, Arbeitsort, Alter und körperliche Konstitution Rücksicht nehmen müssen».[29] Dies erklärt auch, weshalb der Gesetzgeber zur Bestimmung der Invalidität eine interdisziplinäre Abklärung durch fünf verschiedene Disziplinen vorsah:[30] Eine interdisziplinäre Abklärung braucht es nur dort, wo man der Realität gerecht werden will; bei Abstraktionen und Fiktionen erbübrigen sich weitere Abklärungen.

BeispielDie Abgrenzungsproblematik lässt sich an einem Beispiel aus dem Bericht der Expertenkommission veranschaulichen. Zum einen hielt der Bericht fest, es sei «scharf» zwischen Erwerbsunfähigkeit und Erwerbslosigkeit zu unterscheiden und daher seien äussere Faktoren wie eine «mangelnde Arbeitsgelegenheit am betreffenden Ort» nicht erheblich.[31] Zum anderen sei aber der Arbeitsort bei der Zumutbarkeit weiterer Erwerbstätigkeit einzubeziehen und etwa zu prüfen, ob einem bisher in einem «abgelegenen Gebirgstal» lebenden Versicherten die Ausübung einer Erwerbstätigkeit zugemutet werden könne, die er nur im Tal oder gar nur in der Stadt ausüben könne. Diese Frage sei nicht generell, sondern nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu beurteilen, wobei Faktoren wie familiäre Verhältnisse, Alter, Sprache, Grundbesitz, Art der Behinderung und dergleichen zu berücksichtigen seien.[32]

GratwanderungDie Gratwanderung zwischen abstrakter und konkreter Arbeitsmarktbetrachtung tritt in diesem Beispiel klar hervor: Vorübergehende, konjunkturelle Schwankungen wie etwa eine «Hotelkrise» in Tourismusregionen in den Bergen sind für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit unerheblich («mangelnde Arbeitsgelegenheit am betreffenden Ort»). Gleichzeitig stellt sich in strukturschwachen Regionen, in denen es – um im Bild zu bleiben – keine Hotels (mehr) gibt («abgelegenes Gebirgstal»), zusätzlich die Frage, ob der versicherten Person ein Wechsel des Arbeitsortes zugemutet werden kann.

Grundprobleme der Invaliditätsbemessung in der Invalidenversicherung

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