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Veränderte Verhältnisse

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WirtschaftskriseDer gesetzliche Auftrag der Invalidenversicherung, «Eingliederung vor Rente» anzustreben, hängt «vom Entgegenkommen und der Mithilfe unserer Wirtschaft» ab.[41] Die konjunkturelle Abkühlung in der 1970-er Jahre war daher auch eine Herausforderung für den Gesetzesauftrag der IV: Wenn die Eingliederung von behinderten Personen in wirtschaftlich schwierigen Zeiten nicht gelingt, gewinnt die Rentenfrage an Aktualität. Wirtschaftliche Krisenzeiten erschwerten denn auch seit je die Abgrenzung von Erwerbsunfähigkeit und Erwerbslosigkeit:[42] Die Rechtsprechung stellte aber bereits Mitte der 1970-er Jahre klar, dass rezessionsbedingte Schwierigkeiten, eine Stelle zu finden, nicht zu einer Invalidenrente führen sollen.[43] Dieses Risiko war über die Arbeitslosenversicherung abzudecken, die dann auch 1976 auf eidgenössischer Ebene obligatorisch erklärt wurde.[44]

SpardruckDer langjährige Leiter der IV-Regionalstelle Basel, Richard Laich, umschrieb die Situation zur Eingliederung von behinderten Personen Mitte der 1970-er Jahre wie folgt:

«Der Gesetzgeber der IV hat sich seinerzeit zum Grundsatz «Eingliederung vor Rente» entschieden und mit Eingliederung damals in erster Linie die einseitig erwerbsorientierte Eingliederung gemeint. Gerade darum hatte das Invalidenversicherungs-Gesetz überhaupt Chance, von unseren damals massgebenden Politikern angenommen zu werden, weil das IV-Konzept u. a. versprach, ein zusätzliches Arbeitskräftepotential zu erschliessen. Aber wo stehen wir heute nach 14 Jahren IV mit dem Grundsatz «Eingliederung vor Rente»? Ist unsere Volkswirtschaft, ist unsere Arbeitgeberschaft heute bereit, den Behinderten die reale Chance einer angepassten beruflichen Eingliederung zu geben, und sind die Arbeitnehmer bereit, den behinderten Mitarbeiter zu akzeptieren und in das Betriebsgeschehen zu integrieren?

Die berufliche Eingliederung der Behinderten, d. h. die Arbeitsplatzvermittlung an die Behinderten ausserhalb von geschützten Werkstätten, bereitet uns von Jahr zu Jahr grössere Schwierigkeiten. Der Spardruck und der Sparwille im Personalsektor sowohl in der Privatwirtschaft wie in der öffentlichen Verwaltung, gestatten offenbar immer weniger soziales Entgegenkommen.»[45]

Persönliche VerhältnisseNoch vor der Konjunkturabkühlung und ca. bis Mitte der 1970-er Jahre war vereinzelt der gegenwärtig vorhandene, konkrete Arbeitsmarkt massgebend.[46] Das EVG verwies darauf, dass bei der Frage der Zumutbarkeit einer bestimmten Erwerbstätigkeit die gesamten persönlichen Verhältnisse zu beachten seien, insbesondere auch die berufliche und soziale Stellung des Versicherten,[47] seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten von einem medizinischen Standpunkt aus, die Art der Behinderung sowie seine Kenntnisse und sein Alter.[48] Massgebend sei jedoch das objektive Mass des Zumutbaren, nicht die subjektive Wertung des Versicherten.[49]

AbstraktionParallel zur schweren Wirtschaftskrise der 1970-er Jahre ging die Verwaltungspraxis zu einer zunehmend theoretischen und abstrakten Betrachtungsweise über.[50] Das BSV führte 1975 und 1976 zwei Konferenzen über rezessionsbedingte Probleme Behinderter durch und behandelte dort namentlich auch die «Grenzfälle» zwischen Erwerbsunfähigkeit und Erwerbslosigkeit. Der Vertreter des BSV umschrieb dabei den ausgeglichenen Arbeitsmarkt wie folgt:

«Wir betrachten jenen Arbeitsmarkt als ausgeglichen, auf dem jedermann ein seinen geistigen und körperlichen Fähigkeiten und seiner Ausbildung entsprechender Arbeitsplatz offensteht.»[51]

Abgrenzung zur ALVZiel der IV sei es, den durch einen Gesundheitsschaden verursachten Erwerbsausfall in einem gewissen Rahmen auszugleichen, während die Arbeitslosenversicherung das Risiko von Arbeits- und damit Verdienstausfällen, die durch die wirtschaftlichen Verhältnisse bedingt seien, teilweise abdecke (konjunkturelle, strukturelle, technologische Arbeitslosigkeit).[52]

Absehen von ArbeitsmarktBemerkenswert an diesen Ausführungen der Verwaltung ist die Tendenz zum «Wegdefinierten des Arbeitsmarktes»: Während die Rechtsprechung zuvor «zufällige Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt» und damit Konjunktureinflüsse als invaliditätsfremd ausgeschieden hatte, wurde nun tendenziell vom Arbeitsmarkt als solchem bzw. von den gesamten wirtschaftlichen Verhältnissen abstrahiert: Die Verwaltungspraxis ging dazu über, einen Arbeitsmarkt zu fingieren, «auf dem jedermann ein seinen geistigen und körperlichen Fähigkeiten und seiner Ausbildung entsprechender Arbeitsplatz offensteht» (Rz. 35). Erschwernisse bei der Stellensuche von behinderten Personen – sei es aufgrund ihres Gesundheitsschadens, sei es aufgrund übriger persönlicher Verhältnisse – wurden ausgeblendet, und zwar auch dann, wenn sie sich unter «normalen» bzw. «durchschnittlichen» Arbeitsmarktverhältnissen negativ auswirkten.[53]

Historischer KontextIn den Krisenzeiten der 1970-er Jahre flammte auch erstmals die Debatte um Versicherungsmissbräuche auf.[54] Trotz der Einsetzung einer Arbeitsgruppe für die Überprüfung der Organisation der Invalidenversicherung (sog. Arbeitsgruppe Lutz[55]) konnte keine Lösung für den langfristigen Kostenanstieg in der Invalidenversicherung gefunden werden.[56] Als «typische Fälle bedenkenlosen und ungerechtfertigten Rentenbezuges» erkannte die Arbeitsgruppe Lutz u.a. den «arbeitsmüden Gastarbeiter».[57] Dabei äusserte die Arbeitsgruppe vor allem auch die Besorgnis, dass angesichts des (damals) bevorstehenden BVG-Obligatoriums Rückwirkungen auf Pensionskassen und Privatversicherungen zu erwarten seien: «Ganz allgemein können bei der Invaliditätsbemessung der IV Rückwirkungen auf die Pensionskassen und Privatversicherungen nicht ausbleiben.»[58]

Grundprobleme der Invaliditätsbemessung in der Invalidenversicherung

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