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Das Erbe der Eltern

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Thomas: Du bist der jüngste von drei Brüdern. Dein Vater war im Krieg. Wer waren deine Eltern? Wie haben sie dein Leben geformt?

Uli: Erst mal: Aus der Metaebene heruntergebeamt in das Kleine würde ich sagen, dass ich eine superglückliche Kindheit und eine tolle Familie hatte. Wunderbare Eltern, denen ich enorm viel verdanke. Zugleich waren sie Menschen, die sich selbst immer als »kleine Leute«, als »am Rand der großen Welt« empfunden haben. Dieses Gen habe ich aufgesogen, es zieht sich in meinem Leben durch. »Wir sind kleine Leute vom Rand« – gesellschaftlich, von der christlichen Szene her.

Mein Vater Wilhelm Eggers war Prediger im Bund Freier evangelischer Gemeinden in Norddeutschland. Und er legte Wert darauf, dass er »Prediger« war, nicht Pastor oder gar Pfarrer, was typisch für die evangelische Landeskirche wäre, von der sich die norddeutschen FeG-Gemeinden im Zuge einer missionarischen Erweckung gelöst hatten.

Das hat uns als Kinder geärgert. »Pastor« klang ein bisschen vorzeigbarer, beim »Prediger« hat man sich eher geschämt. Ich kann mich an Schulsituationen erinnern, wo es um den Beruf des Vaters ging. Ich fand es peinlich zu sagen: »Mein Vater ist Prediger.« Die Hälfte der Klasse wusste wahrscheinlich gar nicht, was das war, und die anderen fanden es vielleicht doof. Einmal habe ich ganz erfinderisch gesagt: »Der ist Angestellter der Stiftung Elim!« Das stimmte juristisch – und kam viel harmloser rüber. Aber das Lebensgefühl war: »Wir sind irgendwie kleine Leute, wir gehören nicht zur großen Gesellschaft, wir sind nicht wichtig.« Zugleich aber auch: »Wir haben eine wichtige Aufgabe! Und das ist die Gemeinde. Dafür leben wir! Wir tun das zusammen, Vater und Mutter als Pastorenehepaar – und ihr Kinder gehört auch dazu!«

Thomas: Was für eine Persönlichkeit war dein Vater?

Uli: Er war der Leiter, die unbestrittene und gute Autorität. Er hatte vor dem Studium Zimmermann gelernt und dann mit den Gemeindeleuten ganz handfest mehrere neue Gemeindehäuser gebaut. Er war ein Unternehmer mit Ideen und Bewegungsenergie. Auch ein kluger Prediger. Ein guter Bibelausleger, mitten im Leben. Ich habe von seiner Art, Beispiele zu erzählen und Lebensgeschichten zu nutzen, viel gelernt. Aber er war auch ein Typ in Halbdistanz, ein bisschen scheu. Klug zwar, als Leiter auch vorneweg und sattelfest, sehr mutig – aber persönlich manchmal fast ein bisschen unbeholfen und scheu. Davon habe ich auch was mitgekriegt ...

Thomas: Und die Mutter?

Uli: Meine Mutter Erika war das Gegenteil, die optimale Ergänzung: eine musisch-kreative, warmherzige Gemeindemutter, die extrem gut mit ihrem Mann zusammengespielt hat. Sie hat all das eingebracht, was er nicht so hatte – gemeinsam waren sie wie Eltern für die Gemeinde. Meine Mutter war eine sehr kluge Frau, belesen und gebildet. Sie hat mein Interesse am Lesen geweckt, an den Künsten und am Schönen. Mutter hatte ein großes Herz, war im besten Sinne die anschmiegsame Zuflucht. Das hat mir extrem gutgetan. Ich hatte ein sehr enges Verhältnis zu ihr – und sie, glaube ich, auch zu mir, weil ich so ein Krankheits-Sorgenkind war und sie vielleicht in mir auch etwas erkannte. Was sie natürlich nicht so laut sagen durfte, weil man die Kinder ja nicht verwöhnen darf ...


Die Eltern als junges Paar, 1938

Das Wichtigste an meiner Mutter war: Sie war jemand, der Anteil nehmen und sich mitfreuen konnte – eine wunderbare Resonanzquelle, sie war wissbegierig und empathisch. Das hat in mir etwas Optimales angespielt. Ich habe mich schon immer gern anvertraut, davon gelebt: Wie reagiert jemand? Wie geht er mit? Für mich ist eines der schönsten Dinge im Leben, jemanden zu haben, dem ich mich anvertrauen kann, dem ich was erzählen kann, der sich mitfreut! Der mit mir dankbar ist, einfach Anteil nimmt.

Thomas: Das heißt: Du warst in deiner Familie der Kommunikative? Als Kind war ich das auch, als Jugendlicher dann innerhalb meiner Familie eher verschlossen. Du aber hast dich mitgeteilt, deine Eltern wussten, wie es dir geht und was in dir vorgeht?

Uli: Na ja, ich war der Jüngste, das Nesthäkchen, von allen geliebt. Ich war kommunikativ, ich war frech, ich war spritzig – und zugleich schüchtern, wie das irgendwie in meiner Familie so ist: mutig im Amt, privat zurückhaltend ... Und ich war von Anfang an aufgrund meiner Asthmaerkrankung ein Sorgenkind.

Im Grunde waren wir eine Unternehmerfamilie – das Unternehmen war die Gemeinde. Alle arbeiteten in irgendeiner Form mit. Meine Eltern haben 1940 geheiratet. Das erste Kind, mein ältester Bruder Otto, kam noch während des Krieges 1941 zur Welt – er ist leider vor einigen Jahren gestorben.

Vater war in Russland. Nach seiner Rückkehr 1948 – acht Jahre später! –wurde mein Bruder Dieter 1949 geboren, der mittlere. Und nach weiteren sechs Jahren kam ich Meine Eltern lebten ihre Ehe unter dem Schatten der Kriegssituation – ich war der Nachzügler, wurde erst 1955 geboren, meine Mutter war schon 42 bei meiner Geburt. Ich war der »kleine Bruder« dieser Familie, der junge Sohn, offensichtlich irgendwie, obwohl ich so spät kam, Wunschkind. Alle waren alt genug, um den kleinen Kerl irgendwie zu mögen. Aber »der Lütte« war auch eine Nervbacke ...

Thomas: Ich bin bei euch Deutschen immer wieder fasziniert und betroffen davon, wie sehr eure Lebens- und Familiengeschichten mit dem Zweiten Weltkrieg verwoben sind. Du bist zehn Jahre nach diesem Krieg auf die Welt gekommen. Wenn du jetzt zurückblickst: Wie sehr hat die Kriegsgefangenschaft deines Vaters, aber auch die Nähe zu dieser dunklen Stunde Deutschlands in dir Spuren hinterlassen? War das ein mitlaufender Schatten in deiner Familie und Kindheit? Gab es Nebenwirkungen, Spätwirkungen – auch durch seine Gefangenschaft?

Uli: Das ist insofern eine spannende Frage, als dass man sie im Grunde in Jahrzehntschritten beantworten müsste. Bis ich zwanzig war, war das für mich ein selbstverständlicher Horizont ohne politische Dimension. Ich hatte einen Vater, der eben – wie viele andere – im Krieg gewesen war. Deutschland befand sich im Aufbau, es ging ständig vorwärts. Gleichzeitig war da auch die Sache mit der Teilung Deutschlands in BRD und DDR – und einem dritten Teil in Russland. Die Mauer und Grenze war da, dort drüben waren die »bösen« Russen, bei denen Vater in Gefangenschaft gewesen war – eine schlimme Zeit! Erst drei Jahre nach dem Krieg ist er nach Hause gekommen. Was für eine lange Zeit!

Wir haben unsere Mutter immer gefragt: »War das nicht sehr schwer für dich?« Sie meinte: »Natürlich war das schwer, aber zugleich ... «, und das fand ich eine spannende Beobachtung, die mir heute noch viel mitgibt, » ... es ging ja vielen so!« Wenn es vielen so geht, macht das die Situation etwas einfacher. Bei manchen kam der Partner gar nicht wieder – Mutters Mann aber lebte! Zwar in Gefangenschaft, aber sie hatte Hoffnung und Hilfe durch die Familie.

Dann kam der Vater nach Hause. Er brachte eine Zeltbahn aus Russland mit –ich sehe sie heute noch vor mir liegen –, eine geflickte, gelblich-braune Plane, ein Paar Galoschen, eine Wärmflasche. Und dann gab es da diese geheimnisvolle Holzkiste, die er sich gebastelt hatte – voll mit Kriegsfotos. Er war drei Jahre lag in Gefangenenlagern als Zimmermann, hatte vor Hunger manchmal Gras und Rinde gegessen. Dennoch war er ganz gut durchgekommen, konnte raus aus dem Lager, da er Bäume fällen musste. Als gelernter Zimmermann gehörte er im Krieg zu einer Einheit von Eisenbahnpionieren, musste aus Holzstämmen riesige Brücken neu aufbauen. Da gab es tolle Fotos, wo die halb nackten Arbeitsmänner stolz vor der neuen Brücke standen – obendrauf mehrere Dampflokomotiven zur Belastungsprobe und Abnahme. Krieg war also auch Arbeit, vielleicht sogar ein bisschen Berufsabenteuer.

Thomas: Dein Vater hat Krieg und Gefangenschaft also vergleichsweise mild erlebt?

Uli: Letztlich kann ich das nicht beurteilen. Wir haben ihn als Familie Jahre später oft gefragt: »Wie war es denn wirklich?« Er erzählte, wie die Russen ihn aus dem Lager ins Dorf zu Zimmermannsarbeiten gebracht hatten. Da haben sie ihm manchmal ein Stück Brot dafür gegeben. Dann erzählte er aber auch widerstrebend von den schlimmen Dingen. Wir merkten: Er wollte sich gar nicht in diese Erinnerungen einlassen, verdrängte das – und mit ihm unsere ganze Gesellschaft.

Einmal erzählte er davon, dass er von der Front überrollt worden war und sich dann ganz allein im gegnerischen, im russischen Hinterland befunden hatte. Umgeben vom Feind war er während mehrerer Nächte zurückgewandert, um durch die Front zu den eigenen Leuten durchzubrechen. Er hat sich an Mond und Sternen orientiert, erzählte von der extremen Gefahr. Irgendwann fand er wieder zurück – pure Bewahrung.

Bei solchen Geschichten spürten wir, was für eine traumatische Situation das gewesen war: Ganz allein! Jede Begegnung konnte den Tod bedeuten. Er konnte sich nur nachts bewegen. Ich empfinde ein total wehes Gefühl für ihn, möchte ihn da am liebsten noch heute herausretten, kann das als Albtraum nachempfinden. Damals dachte ich: Was hat das mit meinem Vater gemacht? Wie kam er darüber hinweg? Es war schon 40 Jahre nach diesen Ereignissen, als meine Mutter nach einer solchen Erzählzeit sagte: »Fragt ihn nicht mehr, er konnte wieder nicht schlafen!« Erst da habe ich verstanden, wie viel mein Vater und seine ganze Generation aus absolut nachvollziehbaren Gründen verdrängt haben.

Thomas: Mir scheint, die politische Aufarbeitung des Krieges, des Nationalsozialismus und der Judenverfolgung geschah in Deutschland vorbildhaft. Gleichzeitig fällt auf, dass die Auseinandersetzung mit den traumatischen Auswirkungen auf Kinder und Enkel der Kriegsgeneration erst in den letzten zwei Jahrzehnten Fahrt aufgenommen hat. Ich denke zum Beispiel an die Bücher von Sabine Bode, in denen Betroffene vom großen Schweigen der Eltern und dem sorgfältigen Hüten von Geheimnissen erzählen. Deine Familiengeschichte scheint das zu bestätigen.

Uli: Ich glaube, das ist alles sehr ambivalent. Für meine Generation mag das stimmen – wir leben mit der Verpflichtung, die dem großen Unrecht entstammt, das von Deutschland ausging. Das war großes Schulthema, immer wieder. Zugleich gab es die 68er-Bewegung und die damit verbundenen Unruhen – das waren Nachgeborene, Ältere als ich, die sahen, dass zu vieles nahtlos weiterging, dass die Elterngeneration Schuld und Auseinandersetzung auch verdrängte.

Ich war damals zwischen zehn und vierzehn Jahre alt und bekam es nur am Rand mit. Ich habe lange gedacht: »Das sind ganz böse linke Studenten, die sind gegen die Gesellschaft, was ist da bloß los?« Noch mit vierzig habe ich – gut konservativ und verteidigend geprägt – so empfunden. Heute weiß ich, dass diese 68er-Studentengeneration zu Recht ein Thema hatte. Ihre Eltern hatten einfach nur mit Tempo weitergemacht, wiederaufgebaut – und diese ganzen Kriegserfahrungen weggedrückt. Man wollte nichts mehr davon wissen, keine Rechenschaft darüber abgeben. Nicht preisgeben, was man gewusst hatte. Wie bei meinem Vater, der im Grunde sagte: »Lasst mich nach vorne schauen! Ich möchte nicht mehr an dieses Trauma denken, ich kann dann nicht schlafen! Das alles war schrecklich, kein Zweifel! Ich wollte das doch nie! Wir mussten aber ... Es bedeutete Unglück für meine Ehe. Ich konnte mein Kind jahrelang nicht sehen, meine Frau nicht. Wie gut, dass das vorbei ist, warum soll ich noch mal darüber nachdenken?«

Heute verstehe ich das total! Ich kann es absolut nachempfinden – so etwas kostet enorme emotionale Kraft, das will man nicht! Aber ich verstehe auch, dass es gesellschaftlich richtig und nötig war, sich der Vergangenheit zu stellen.

Thomas: Was ist das Wertvollste, dass dir dein Vater für dein Leben mitgegeben hat?

Uli: Sein klares Denken. Mein Vater war analytisch, ein sehr guter, strukturierter Prediger mit lebensnahen Anwendungen und guten Beispielen. Er bemühte sich darum, dass die Leute wirklich etwas mitnehmen konnten. Mein Vater war nüchtern, mit großer Klarheit und weitem Blick auf die Dinge. Und er war bekannt als unangepasster Typ mit Mut.

Peter Strauch erzählte mir einmal, wie mein Vater an der Mitarbeiterkonferenz der FeG Norddeutschland einen Vortragenden nach der Bedeutung eines Fremdwortes gefragt hat, nach dem sich sonst niemand zu fragen traute. Er wies auf Dinge hin, die er als unehrlich und unwahr empfand – auch wenn es sich mal gegen den großen Direktor Friedrich Heitmüller richtete, der die norddeutsche Arbeit gegründet hatte. Nach dem Motto: »Da muss man doch was sagen!« Diese sehr gerade und manchmal vielleicht auch kantige Art hat mich geprägt.

Von seinen Predigten habe ich enorm viel Biblisches mitgenommen. Sodass ich heute sage: Es geht mir wie Obelix. Ich bin das Kind, das in den Zaubertrank gefallen ist, in den biblischen Riesentopf. Ich bin gesotten mit Bibel, das prägt mich bis heute tief. Zugleich steckt darin auch eine gewisse Interesselosigkeit oder mangelnde Erwartung beim eigenen Bibellesen, weil ich immer denke: »Ach, ich kenn das doch alles schon! Habe es als Kind über Jahre in den Gottesdiensten meines Vaters aufgenommen.«

Mein Vater hat mich immer wieder an seine Hobelbank und zu den Holzvorräten mitgenommen, wo ich helfen konnte. Er hat im Haus ständig etwas gebaut – Regale, neue Türen, irgendwas am Dach. Du warst als Kind einbezogen. Vater war ein guter Pädagoge, aber nicht der große Lobestyp. Man fühlte sich geliebt und hatte Erfolgserlebnisse beim Helfen, die dann vor Mutter positiv erwähnt wurden – indirektes Lob. Aber er hat keine großen Worte gemacht.

Thomas: Auch das ein Merkmal, das für die Mehrheit der Väter seiner Generation gilt. Die meisten waren von der sogenannten »schwarzen Pädagogik« geprägt: Zu viel loben verweichlicht und verwöhnt. Man muss die Kinder fürs Leben (in Deutschland: und für den Krieg) stählen usw.

Unsere Väter sind in diesem Klima aufgewachsen – sie haben von ihren eigenen Vätern kaum Zärtlichkeiten und Lob erhalten und taten es ihnen gleich. Ich kenne Dutzende von Männern in unserem Alter, die genau das an ihren Vätern vermissten: den bestätigenden Zuspruch, das Lob: »Ich bin stolz auf dich!«

Uli: Ich fühlte schon eine zärtliche Liebe, ich war für ihn der »Emmels«, mein Kosename. Aber man war verbal wohl viel zurückhaltender als heute. Es gibt ein einziges richtig großes Lob, an das ich mich erinnern kann. Ich bin bis heute stolz darauf, weil ich merkte, dass es spontan kam – wie gegen die eigene Überzeugung, dass man Kinder nicht mit zu viel Lob verwöhnen darf. Irgendwann brach es unvermittelt verwundert aus ihm heraus: »Der Junge hat mehr Ideen als ein Hund Flöhe!« Das begleitet mich bis heute. Was für ein schöner Ausdruck! Und tatsächlich, da ist ja was dran – und war wohl schon immer irgendwie so! Da ist so ein kleiner Stolz in mir: Wie schön, dass Papa das gesagt hat!

Thomas: Diesen Satz hättest du auch als Kritik hören können: »Der hat so viele Ideen, vergiss es, da wird ja nie was draus ... «

Uli: Nein, das war klar als Lob gemeint, aber vielleicht auch ein bisschen aufseufzend nach dem Motto: »Was muss ich da immer alles mitmachen?! Was will er jetzt schon wieder von mir?«

Thomas: Du hast deine Mutter als warmherzige Person beschrieben. Was ist das Wichtigste, was sie in dich hineingelegt hat?

Uli: Das Interesse für Lesen und Bildung. Die Herzenswärme, Anteilnahme und Fürsorge. Mutter hatte viele Bücher, leitete den Büchertisch der Gemeinde. Bei den Bestellungen hat sie immer etwas für uns mitgeordert. Lesen war ihr enorm wichtig und sie wollte, dass auch wir lesen. Meine große Liebe zu Büchern ist durch sie entstanden.

Der Ideen-Entzünder

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