Читать книгу Der Ideen-Entzünder - Thomas Hamblin Harry - Страница 19

Der Außenseiter

Оглавление

Thomas: Deine Asthmaerkrankung ist ein anderes Thema, das dich durch dein Leben begleitet. Wann fing das an?

Uli: Ein großes Thema wurde es, als ich zehn oder elf war. Da schlug das Asthma durch – offensichtlich mit allergischem Auslöser, Hausstaub. Ich war zu Besuch bei meiner Oma und schlief in den frisch aufgeschüttelten Federbetten ihres Gästezimmers. Nach einer Stunde kriegte ich keine Luft mehr. Nur mit Mühe bin ich durch diese Nacht gekommen. Für mich war es die Begegnung mit einer fremden Macht, die ich nicht verstand. Es hat lange Jahre gedauert, ehe man die konkreteren Auslöser kannte und verstand. Aber ich war wohl durch meinen Vater familiär vorbelastet.

Von da an gab es immer wieder mal einen Krankheitsschub. In der Pubertät wohl auch sehr bedrohlich mit akuter Atemnot bis hin zu Szenen, die meine Eltern sehr belastet haben müssen, wo ich mehrfach verzweifelt gerufen haben muss, dass ich nicht mehr kann und keine Luft kriege und lieber sterben will. Schließlich gab es irgendwann diese Sprays, das war hilfreich. Mit sechzehn oder siebzehn hat es sich nach und nach etwas verloren und spielte nicht mehr eine so große Rolle.

Aber an dieser Asthmageschichte ist auch vieles gescheitert. Ich fehlte öfter in der Schule. In den ersten beiden Gymnasialklassen war ich ein richtig guter Schüler, motiviert, unproblematisch. Dann zog die Familie von Stade an der Unterelbe 70 Kilometer weiter nach Cuxhaven an die Elbmündung. Ich kam auf eine neue Schule, und die waren dort mit dem Stoff an anderen Stellen. Ich kriegte Französisch. In Mathe begannen diese ganzen binomischen Sachen, a², b², x, y. Ich hatte offensichtlich bei der Einführung mal wieder gefehlt und so war mir das Ganze völlig fremd. Ich hatte keine Ahnung: Was ist ein x, was ein y? Ich kriegte Nachhilfe, aber die nette Studentin hat nie mein Systemproblem verstanden – diese Unkenntnis darüber, dass hier auf einmal Buchstaben für Zahlen stehen. Dann fehlte ich wieder drei, vier Tage in der Schule und irgendwann kriegte ich das nicht mehr aufgeholt.

Französischarbeit – Uli Eggers 60 Fehler. Warum? Keine Ahnung von den Akzenten und Vokabeln – das mir unbekannte französische Wort »Komma« (»virgule«) habe ich immer schön mitgeschrieben, statt gesetzt.

Dann der Deutschunterricht, Schillers Glocke, 60 Strophen. Die Klasse schlug sich tapfer Woche für Woche durch, addierte immer mehr gelernte Strophen – ich kam nie über die ersten drei Strophen hinaus. Als die anderen bei Strophe 40 waren, bot es sich für mich an, lieber wieder krank zu sein. Mit Distanz kann ich lächeln, damals war es traumatisch: ein wachsendes Verhängnis – wie sollte ich das je aufholen?

Witzigerweise hatte ich aber zu Hause meine Schule. Da habe ich extrem viel gelesen. Das war ja superschön: Ich im Bett, Mama versorgte mich. Schulfunk hören vormittags, spannende Allgemeinbildung, die mir Spaß machte. Gleichzeitig wuchs aber die Gefahr, dass ich mich mit meiner Krankheit unangenehmen Schulsituationen entzog. Ich war ja so ein »armer« Junge, da hatte man Verständnis. Die Folge: Ich habe mich selbst als jemand wahrgenommen, der auch durch sein häufiges Fehlen ein Stück Außenseiter ist. Im Sportunterricht saß ich am Rand, obwohl ich nicht unsportlich war.

Eine dramatische Szene gab es damals, als der Kinderarzt sagte: »Der Junge muss in die Kur!« Das war wie ein Todesurteil für mich – ich sollte aus meiner sicheren Familie ausgestoßen werden! Ich habe mich auf die Erde geschmissen, habe geheult und geschrien: »Ich will das nicht!« Ich fühlte mich verraten und verkauft. Von zu Hause weg! Die wollten mich loswerden! Ich gehörte nicht mehr dazu!

Thomas: Wann kam der Wendepunkt?

Uli: Ich sollte vom Gymnasium runter, weil »der Junge das mit so viel Sechsen nicht schafft!« Mein Vater ging mit mir zur Realschule ins Direktorenzimmer und wollte mich dort anmelden. Der Schuldirektor meinte gut preußisch: »So einen Schrott nehmen wir hier nicht!« Gemeint war: Wer so schlecht ist, hat auch auf der Realschule keine Chance. Mein Vater ging mit mir nach Hause und – seltener Fall, dass man gegen die Obrigkeit kritisch war – empörte sich vor meiner Mutter flammend darüber, wie dieser Direktor so etwas sagen konnte. Das wiederum hat mich stolz auf meine Eltern gemacht, dass sie mich so verteidigten und zu mir standen.

Ich kam dann in die 8. Klasse der Hauptschule – und dort platzte der Knoten. Ich war ja nicht blöd! Ich war nur hoffnungslos hinterher. Auf einmal konnte ich was, war richtig gut und ganz schnell mit Abstand der Beste. Ich konnte eine Klasse überspringen, habe den Hauptschulabschluss gemacht und mich hochgeangelt über die Handelsschule und das Wirtschaftsgymnasium zu einem schließlich sehr guten Abitur mit Auszeichnung.

Thomas: Ist von diesem Gefühl, ein Außenseiter zu sein und nicht richtig reinzukommen, etwas hängen geblieben?

Uli: Nicht von diesem traumatischen Empfinden. Aber ein Gefühl dafür, was es heißt, am Rande zu stehen oder Außenseiter und Minderheit zu sein, das ist tief in mir eingewachsen. Eine Sensibilität dafür, wie es Menschen geht, wenn sie einer wie auch immer empfundenen Mehrheit oder einem System gegenüberstehen, begleitet mich mein ganzes Leben. Ich bin vertraut damit, mich am Rand einzurichten – bis hin zu meinem Lebensort. Ich lebe ja am Meeresrand Deutschlands und habe an zwei Seiten Wasser. Ich kann mir gar nicht vorstellen, irgendwo mittendrin zu leben, in alle Richtungen fahren zu können.

Thomas: Das Leben am Rand als Lebensmotto, wesentlich mitgeformt durch die Kindheit, die Familie, die Frömmigkeit …

Uli: In großer Geborgenheit.

Der Ideen-Entzünder

Подняться наверх