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Von Weite und dem Leben am Rand

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Thomas: Du hast vom Rand her immer wieder den Weg in die Mitte gefunden, dich aber auch erneut zurück an den Rand bewegt. Gilt das auch inhaltlich, bei den Themen, die dir wichtig sind?

Uli: Es ist tatsächlich so: Ich lebe gern am Rand in einer sicheren Burg. Mit meiner Frau, mit meiner Familie. Der Rand hat zwei große Vorteile. Er gibt Blick in die Weite. Das ist für mich das Meer. Wenn ich hier in Cuxhaven bin, bin ich fast jeden Tag am Wasser – frühmorgens oder spätabends. Der weite Himmel, die einlaufenden Schiffe, ihre Lichter und Geräusche, die riesigen Wolken. Das tut mir extrem gut. Gucken, was da hinten kommt. Erkenne ich das Schiff? Ich entziffere die Weite ...

Aber dann geht es auch immer wieder um dieses Reingehen in die Mitte – sehr bewusst und programmatisch. Auch die Mitte an den Rand zu bringen. In dem Sinne also ein Stück Übersetzungsarbeit zu leisten von der Mitte zum Rand, vom Rand zur Mitte. Von Weite zu sicherer Burg und von dort wieder raus. Das ist ja auch meine Philosophie für Zeitschriften und christliches Engagement: Journalisten, christliche Medien, Pastoren, alle, die mit Inhalten arbeiten, haben für mich eine Brückenfunktion. Wir bauen Brücken zwischen Menschen, zwischen verschiedenen Verständnissen. Wir führen Dinge zueinander, sorgen dafür, dass niemand im Ghetto seiner Isolation bleibt – das ist ja gerade für Freikirchler wichtig und ein Problem!

Und dann vor allem diese Brücke zwischen »Soll« und »Ist«. Das biblische Soll, der Anspruch, das Soll des Ideals. Und das ehrliche Ist – mein ganz normales, oft ambivalentes Leben. Ich sehe meine Lebensaufgabe darin, an dieser Stelle Brücken zu bauen, immer wieder. In meiner Jugend war dieses hohe Soll verpflichtend, denn ich wusste ja, was richtig war und wo man danebenlag. Und zugleich gab es bei uns die klare Fixierung darauf, dass das nur mit Ehrlichkeit geht – keine Heuchelei, keine übertünchten Gräber, kein frommes So-tun-als-ob! Dick aufgetragene Frömmigkeit und große Worte oder allzu emotional-inbrünstige Gebete, das war ein Gräuel bei uns zu Hause, da war man sofort skeptisch und sehr nüchtern veranlagt. Das zeigte sich auch an der Prägung meines Vaters mit diesem kleinen Spruch über seinem Schreibtisch: »Lieber arm und echt als reich im Schein.« Das war so eine Art Wahlspruch – und deswegen war stets »der untere Weg« der bessere für ihn.

Der Spruch hängt jetzt in meinem Büro. Ich verbinde ihn mit dem Gefühl: Ich bin der arme Prediger, ich bin lieber arm und predige an der Außenseite, dafür aber echt! Manchmal war das vielleicht auch ein kleiner Trost: Die Reichen in unserer Verwandtschaft, die hatten immer gut Geld, und wir hatten es nicht, aber wir waren dafür auf dem richtigen Weg. So ist das nun mal im Reich Gottes …

Thomas: Ein so verstandenes Armsein gibt dir ja auch ein Gefühl der Überlegenheit ...

Uli: Ja, das schwang vielleicht mit. Ein hohes Berufungsgefühl. Du hast zwar kein Geld, aber dafür bist du auf dem richtigen Kurs und weißt um Gottes Liebe. Insofern kann ich mit beidem, Soll und Ist, auch wirklich etwas anfangen – oft wird es unter Christen ja gegeneinander ausgespielt: Nur auf das idealistische Soll schauen – und das schnöde Ist verdrängen und abspalten. Ergebnis ist Heuchelei und viel Zerbruch! Oder umgekehrt: Sich nur am Ist orientieren und traurig alle Ambitionen und die kleinen Brötchen zum schönen Ideal verklären. Genauso verkehrt – beides kann man auch ohne Glauben, ohne Jesus, ohne die revolutionäre Kraft und Botschaft des Evangeliums. Wenn das Evangelium aber wahr ist – dann müssen Ambition und Wahrheit miteinander leben können, dann gehören Soll und Ist versöhnt und sind aufeinander bezogen. Was für eine superstarke Botschaft: Wo gibt es denn so etwas, dass sich diese beiden Werte versöhnt leben lassen?! Eben deswegen bin ich vom christlichen Glauben so begeistert, das ist revolutionär!

Also: Ein hohes Empfinden fürs Soll und ein ambitioniertes Ideal sind mir nicht fremd. Menschen brauchen hohe Ziele! Ich will sehr gern das Richtige tun! Aber ich nehme bei mir selbst auch das andere wahr: das Scheitern an meinen Vorsätzen, Sünde, das Verfehlen dessen, was ich will. Das sind diese berühmten zwei biblischen Wirklichkeiten in mir: Das Gute, das ich will, das tue ich nicht – oh, ich elender Mensch! Aber doch auch: Ich will das Gute, ich kann es erkennen, ich bin nur wenig niedriger gemacht als Gott, bin ein Geliebter Gottes!

Dieser Brückenbau zwischen Soll und Ist gehört für mich zu den zentralen Aufgaben des Glaubens. Ich nenne es »das Nord auf dem Kompass«. Es bedeutet: Diesem guten Nord verpflichtet zu sein, aber mit großer Ehrlichkeit und Barmherzigkeit auf dem Weg in seinem jeweiligen Ist sein zu dürfen. In unserer bunten Wirklichkeit mühen wir uns, da ist es widerspenstig und es gibt auch Umwege und Rückschritte. Und so habe ich im Laufe meiner Glaubensbiografie gelernt: Jesus kam ja gerade deswegen, um mich in meinem Ist zu beglücken und mir einen Weg vom Ist zum Soll zu eröffnen. Fantastisch! Wow! Was ist das für eine tolle Nachricht – pures Evangelium! Sich dem verpflichtet zu fühlen, so laufe ich im Grunde durch die Gegend. Das empfinde ich als zutiefst beglückend, weil ich mich ja immer wieder selbst auf diesem Weg und in diesen beiden Wirklichkeiten entdecke.

Thomas: Deine Kindheit, mit allen schönen Seiten, mit allen Zumutungen, war ein Ort, an dem Gott dich geformt hat. Inmitten einer spezifischen Zeit, in dieser Familie, diesen Umständen und dem damit verbundenen Lebensgefühl. Das Gute wie auch das Problematische hat Wesentliches zu dem beigetragen, wer du heute bist und was du bis heute zu geben hast. Sie ist etwas dir Anvertrautes, auch Zugemutetes, klar: Außenseiter sein, dich in die Mitte kämpfen müssen. Aber daraus ist eine Kompetenz gewachsen, die dich bis heute begleitet und die möglicherweise ohne diese Geschichte so nicht vorhanden wäre.

Uli: So verstehe ich es heute und bin deswegen wirklich versöhnt mit der Vergangenheit. Bin superdankbar, trauere nicht nach. Das verbindet uns beide übrigens auch stark: »Wunden als Aufgabe und Chance« ist das Thema eines deiner Bücher. Genau das ist es: Widerstand ist nicht schön, aber du wächst an ihm! Und ganz klar: Das Schwere und Belastende ist nicht gut – das sollte keiner behaupten! Aber es kann etwas Gutes mit dir machen! Du kannst daraus eine besondere, nämlich gewachsene und durchlebte Kompetenz gewinnen. Eine, die in deinem Leben verankert ist und dir ein Mandat eröffnet und dich sensibel macht. Ein Auftrag, den du begeistert weitergeben kannst.

Thomas: Ich erinnere mich, dass du mal gesagt hast: »Das Meiste habe ich nicht auf dem formalen Weg erlernt.«

Uli: Genau. Das Meiste, was ich kann und weiß, habe ich irgendwie nebenbei gelernt und unterwegs empfangen, nicht akademisch oder aus Lehrbüchern erworben. Deswegen ist es so tief verankert. In meinen inneren Schatzkammern habe ich mittlerweile unheimlich viel. Manchmal denke ich heute: »Mensch, was du in der Schule damals gehabt hast – das ging so oft über deinen Kopf hinweg! Literaturunterricht – das würdest du gern noch mal haben! Biologie – keine Ahnung davon! Das müsste ja richtig interessant sein!«

Thomas: Französisch!

Uli: Ach ja, können würde ich es gern, lernen eher nicht mehr …


Man kann nicht anders, als es mit der eigenen Geschichte zu vergleichen, wenn das Gegenüber so intensiv aus seiner Kindheit erzählt. Es gibt Parallelen: Hausstauballergie, Asthma – bei mir allerdings erst mit 20. Dann die zugängliche Mutter, der eher spröde Vater. Doch Ulis Lebenswelt als Kind spielte sich in einem ganz anderen Kosmos ab: Pastorenhaus, Freikirche, Frömmigkeit, die alles durchdrang, aus allen Ritzen des Lebens quoll. Herzensbildung durch Stapel christlicher Jugendbücher.

Das alles kenne ich nicht. Bei uns zu Hause roch es nach Kühen, Schweinen, Schafen und Heu. Glaube kam vor, aber landeskirchlich zurückhaltend – abgesehen vom Tischgebet selten ein Thema. Etwas mehr davon hätte mir gutgetan. Am Tisch ging es stattdessen um die lahmende Kuh, die nächste Hofschlachtung oder die Maisernte. Aufgaben, bei denen wir vier Jungs uns nützlich zu machen hatten. Es manchmal gerne, manchmal unter Protest taten. Auch hier entsprechende Erwartungen der Eltern – auf einem ganz anderen Spielfeld des Lebens.

Dann die Entdeckungen zur Sexualität. Unser Haus war so hellhörig, dass wir von unseren Eltern mehr mitbekamen, als beabsichtigt war. Wir fanden Präservative, füllten sie mit Wasser. Der älteste Bruder, stolz auf sein Geheimwissen, erklärte, wozu sie eigentlich gedacht waren. Brachte BRAVOs und auch mal ein Schmuddelheft mit, die wir auf der Heubühne im fahlen Licht und mit pochendem Herzen studierten.

Eines deutet sich bereits an, nämlich, dass es auch bei Uli diesen Zusammenhang gibt zwischen Kindheitserfahrung und späteren Lebensthemen. Noch deutlicher zeigt sich das bei unserem nächsten Gespräch …

Der Ideen-Entzünder

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