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Bei Eggers am Mittagstisch

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Thomas: Wenn du die Art und Weise, wie du erzogen und geprägt wurdest, mit der Erziehung deiner eigenen Kinder vergleichst: Was haben du und Christel anders gemacht?

Uli: Wir haben versucht, es auf etwas modernere Art ähnlich zu machen. Das Vorbild von Eltern, Familie und Gemeinde ergab für uns ein Lebensmodell, nach dem auch wir leben wollten. Natürlich ohne manche Kanten und Ecken. Zum Beispiel wenn es um dieses übertriebene Gucken auf Menschen geht: »Das tut man nicht! Das gehört sich nicht! Was denken die anderen?« Das kam in meiner Kindheit stark durch das Leben mitten in der Gemeinde – da musste man immer Vorbild sein. »Was sollen sonst die Leute sagen?!«

Auch diese Sicht auf uns selbst als die »kleinen Leute« am Rande der Gesellschaft wollten wir als Eltern lockerer handhaben. Also nicht: wir als Freikirchler, die nicht zur großen Amtskirche gehören, also zu denen, die oft nicht richtig fromm sind im Gegensatz zu uns, der kleinen, frommen Truppe.

Heute sehen wir und freuen uns, dass wir da wohl vieles intuitiv richtig gemacht haben. Wichtig war uns immer: »Wärme und Liebe über alles.« Wobei ich heute rückblickend sage: Hier oder da hätten wir noch freier sein können. Zum Beispiel Kinder in den Fußballverein schicken, weil es ihnen gutgetan hätte. Aber der Fußballverein kollidierte natürlich mit Gemeindeterminen. Alles, was gesellschaftlich am Wochenende lief, war Konkurrenz zur Gemeindearbeit und blieb deshalb auf Sparflamme – war mir also ein Stück fremd.


Familie Eggers am Mittagstisch, 1970er

Thomas: Wenn ich damals, als du Kind warst, bei euch am Mittagstisch gesessen hätte, was hätte ich gesehen und gehört?

Uli: Neben den normalen Familiendingen natürlich besonders stark Gemeindethemen: Was oder wer gestern Abend in der Bibelstunde war. »Ach, Papa hat da wieder Obst und Gemüse von einer Stunde auf dem Land mitgekriegt« – oder manchmal so ein merkwürdiges Einweckglas mit einem todesblass aussehenden Huhn. Wie der Gottesdienst war. Wer krank war. Wer was und von wem gehört hat. Vieles sollten wir Kinder natürlich eigentlich nicht mitbekommen. Und so habe ich nebenbei gelernt, Menschen einzuschätzen, Verhalten zu hinterfragen, die Doppelbödigkeit mancher Dinge zu sehen. Nicht jede Oberfläche so zu nehmen, wie sie ist. Das war »Volkshochschule« in Menschenkenntnis und Einschätzungsvermögen – auch durch die älteren Brüder, die ja manches mit einbrachten.

Thomas: War dieser Filter vor allem von der Wahrnehmung deiner Eltern geprägt oder hast du manches, was sie sagten, auch kritisch interpretiert?

Uli: Beides. Die Eltern waren im internen Gespräch schon recht offen. Ich habe viel mitgenommen, zugleich manches auch kritisch gehört und gesagt: »Das überzeugt mich jetzt nicht!« Was wir als Kinder nicht mitgekriegt haben, waren die Kämpfe, die sie als Pastorenpaar hatten mit schwierigen Menschen in ihrer Gemeinde, mit Verwandten oder mit Vaters Vorgesetztem, dem großen Friedrich Heitmüller aus Hamburg.

Vater war dieser kritische Pastor, der manchmal nur deshalb vom Verband mitgetragen wurde, weil er die liebe Erika Zöllner geheiratet hatte, die Tochter einer verdienstvollen Gemeindegründerin in Buxtehude, dem Nachbarstädtchen hier an der Unterelbe. Meine Oma war eine Ikone im Norddeutschen Bund. Und ihre Tochter hatte nun diesen »aus der Welt« bekehrten jungen Zimmermann Wilhelm Eggers geheiratet, der ein feuriger Evangelist und Prediger, aber offensichtlich auch widerständig war. Da gab es schon einige Auseinandersetzungen – auch mit zwei alten Tanten, die in der Gemeinde in Bremervörde ein strenges Regiment führten.

Als Kind war man natürlich solidarisch mit den Eltern – und es bildete sich auch so ein Grundgefühl: Du gehst einen Weg, du hast Gutes vor – aber es gibt am Rande immer auch Strukturen oder Menschen, die das kritisch sehen oder sogar gegen dich kämpfen. So hörte ich immer wieder Menschen sagen: »Ich kannte deinen Vater. Das war ein mutiger Mann! Der ist aufgestanden!«

Thomas: Gab es Tabuthemen in eurer Familie, bei denen du dachtest: »Ich würde gern, aber ich kann nicht«?

Uli: Nichts wurde bewusst vermieden. Es war sicherlich spröde und prüde in Bezug auf Sexualität wie in den meisten frommen Haushalten damals. Aufklärung geschah unpersönlich: Mein Vater hat mir eine Broschüre vom Gemeindebüchertisch gegeben, so ein kleines 40-Seiten-Heft, wo man dann über die Bienen und die Befruchtung hin zu den Dingen kam. Ich war eher befremdet – »was soll mir das jetzt?«. Man hat nicht über diese Themen gesprochen. Ich kann mich an eine Szene erinnern, wo ich im Alter von ungefähr acht, neun Jahren über die »Vorbeuler« einer Frau geredet habe. Alle lachten. Ich wusste nicht, dass das »Brüste« oder »Busen« heißt. Und so erfand ich das Wort »Vorbeuler« – der junge Publizist halt. Niemand sprach mit mir darüber, es war kein Thema.

Thomas: Dass deine Eltern miteinander Sex hatten, das hast du erst spät mitbekommen ...

Uli: Da hatte ich keine Vorstellung, nein. Sie waren durchaus zärtlich miteinander. Aber was Sex ist und wie wir entstanden sind – keine Ahnung. Sie waren Jahrgang 1913 und 1914 – sie hatten es sicher auch nicht anders erlebt.

Thomas: Wer hat dich schlussendlich aufgeklärt?

Uli: Diese Broschüre gab manches her. Erst in der späteren Pubertät gab es dann auch christliche Bücher über Sex und Liebe ...

Thomas: Die Zeitschrift BRAVO war kein Thema?

Uli: Vielleicht mal mit 15,16. Doch da wusste ich eigentlich bereits alles – auch die Schule bildet ja fort. Aber es gab auch Dunkelheit und Schweigen. Selbstbefriedigung war für mich Fantasiebegabten ein großes Thema. Ich war viel krank, da hatte ich Zeit, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Das war in meiner Jugendphase eine Not. Auch die geistliche Selbstverurteilung: »Ach, bist du ein Böser! Das ist eine Sünde, das weißt du ja von deinen Eltern.«

Einmal sagte mein Vater zu mir nach einer langen Badezimmerphase: »Aber du spielst auch nicht an dir rum!« – »Nein, nein!« Im Nachhinein denke ich: »Au Backe, geballte Hilflosigkeit auf allen Seiten.« Da war Not und Einsamkeit, Selbstverurteilung. Daher kommt auch eine Beauftragung bis heute in manche von mir gegründete Zeitschriften hinein, weil ich bewusst machen will: »Leute, es gibt so viel Einsamkeitsnot rund um Sexualität. Die Hilflosigkeit der alleingelassenen Menschen, die denken, nur ich bin so! Nur ich bin so ein Schlimmer – oder eine Schlimme! Nur ich bin so speziell!« Da bin ich auch ein Stück zornig auf die christliche Szene, die viel erwartet und wenig Hilfestellung gibt – und bis heute ja bei vielen dieser Themen vor allem groß im Ausmalen des Missbrauchs und der Gefahren und wortlos oder hilflos beim Gebrauch ist.

Thomas: Die sexuelle Revolution und auch die damit positiven Öffnungen haben daran nichts geändert?

Uli: Die Not ist da, bis heute. Viel Verurteilung, viel Zeigefinger, viel hohe Moral und wenig Hilfe, wenig Freiheit, Freude und Gelassenheit. Es war für mich immer eine Verpflichtung, dagegen etwas zu tun – auch aus meinem eigenen Erleben.

Der Ideen-Entzünder

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