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Die Opferrolle opfern

Höre ich Menschen sprechen und sehe ich ihre Mienen, dann erscheint es mir mitunter, als wäre die Welt voll von Opfern. Und sehe ich in den Spiegel, dann erkenne ich an manchen Tagen das Opfer der Opfer. Tragisches Gebaren, zu schwach, um klar zu sprechen, ein Tonfall, der mehr als tausend Worte sagt. Tiefes Seufzen, zu müde, um die Hände zu ringen. Ich mag mich im Spiegel gar nicht anschauen, ich weiß, welcher arme Mensch mich aus trüben Augen anblicken würde. Leiden ist sein Name. Geschlagen vom Schicksal, umringt von Ignoranten, Schuften, Dränglern und überhaupt: böse Menschen, böse, böse, böse Menschen.

Wenn mir bewusst wird, in welche bemitleidenswerte Rolle ich mich wieder einmal manövriert habe, geht es mir gleich besser. Ich atme tief durch und denke nach, was mich in die Defensive gebracht hat. Welch böser Mensch hat mich schief angesehen? Oder hat es gar jemand gewagt, mich mit einem wenig huldvollen Tonfall zu belegen? War er nicht meiner Meinung? Warum irren sich die anderen bloß ständig und warum behalten sie ihre irrigen Meinungen nicht für sich? Wenn ich die letzten Stunden Revue passieren lasse, kommt mir nichts in den Sinn, was mich verletzt oder beleidigt haben könnte. Aber, ah, ja doch, da hat diese arrogante Schnepfe von Redakteurin gemeint, ich hätte mir nicht sonderlich viel Mühe gegeben bei der Arbeit. Hätte den Artikel lieblos aus den Fingern gesaugt. Diese Kuh, diese blöde. Wie kann sie es wagen, diese Anfängerin, jung und blond (und blöd hätte ich jetzt fast geschrieben) und keine Ahnung von nichts, erdreistet sich zu einem derartigen Tonfall. Das schreit nach Konsequenzen. Kündigen werde ich ihr, soll sie einen Anfänger ins Boot holen, den sie anschnauzen kann, diese Möchtegern-Journalistin. Also ehrlich, das hat bisher noch niemand gewagt, mich so frech zu kritisieren. Viele Chefredakteure habe ich schon mit Artikeln beliefert, angesehene und erfahrene, ja ausgezeichnete Frauen und Männer, und da kommt jetzt diese Tussi daher und hält mir vor, ich hätte mich nicht angestrengt. Ob sie Recht hat oder nicht, darüber will ich gar nicht nachdenken, ist ja auch egal, aber von so einer muss ich mir das nicht gefallen lassen. Der kündige ich. So viel steht fest. Wenn ich mich nächste Woche immer noch über diese „Frau“ ärgere, dann kündige ich, das verspreche ich.

Und während auf der Puppenbühne meiner Gedanken der Kasperl den Knüppel schwingt und auf die blonde Uschi munter drauflosschlägt, erkenne ich den Prügel in meiner Hand, schlage noch ein paarmal kräftig zu und lassen ihn dann sinken. Ja, das tut doch gut. Nicht wahr? Jetzt kann ich doch glatt wieder lächeln.

Die Opferrolle wird gerne den Frauen zugeschrieben. Sie bringen Kinder zur Welt, opfern ihre Figur, ihre freie Zeit, ihren bisherigen Lebensstil, und was kommt dabei heraus? Undank! Die Kinder werden größer, aus den süßen Lieblingen werden pubertierende Wesen und man selbst kommt in die Wechseljahre, und das war es dann auch schon. Und der Mann? Entweder ist er längst über alle Berge oder er sehnt sich danach. Jedenfalls ist er kein Rückhalt für die alte Idee, die man einst gemeinsam geschmiedet hat, vom Lebensglück als Familie.

Unser Leben ist ein wunderbarer Nährboden für ein nicht enden wollendes Opferdasein, in das man sich mit betrübter Miene fallen lassen kann. Oder eben auch nicht.

Aber, meine Damen: Die Herren der Schöpfung sind auch nicht mehr, was sie einmal waren. Wenn man beim Familienmodell bleibt, zeigt sich das Bild, dass der Mann sich immer noch als Ernährer sieht und sich dafür abschuftet, die einen mehr, die anderen weniger. Auch sie trifft in der Mitte des Lebens oder einige Jahre danach die Erkenntnis, dass das noch nicht alles gewesen sein kann. Arbeiten ohne Ende und ohne dass es einem gedankt würde. Die Ehefrau hat sich längst in den sexuellen Vorruhestand verabschiedet und selbst ist man mit seiner schlappen Figur und dem trüben Gesicht auch kein Hingucker mehr. Und auch hier gilt: ein wunderbarer Nährboden für ein Opferdasein, in das man sich mit betrübter Miene fallen lassen kann. Oder eben auch nicht.

Ob man sein restliches Leben als Opfer verbringt oder ob man ein beschwingtes Leben führt, hat jeder Mann und jede Frau selbst in der Hand. Freilich bedarf es eines Aktes der Bewusstwerdung und dann eines Aktes der Entscheidung. Wer sich nicht bewusst ist, dass er sich in die Rolle des Opfers begeben hat und hier seine Tage absitzt, der kann sich auch nicht entscheiden, diese Rolle abzulegen. Wer wenigstens weiß, in welcher Sackgasse er steckt, der kann sich zumindest überlegen, was ihn bis zum Ende seines Lebens erwartet, wenn er so weitermacht und sich nicht gegen die Opferrolle entscheidet.

Gut, ich nehme an, die meisten Leserinnen und Leser haben langsam, aber sicher die Nase voll, das Opfer zu sein oder es zu spielen. Was bleibt zu tun? Als Erstes braucht es einen definitiven Entschluss: Groß und fett auf ein Blatt schreiben: Schluss damit! Ich bin kein Opfer mehr! Die Herren dürfen auch schreiben: Kein Waschlappen mehr! Es reicht!

Bleibt die Frage: Was jetzt? Wenn man etwas weggibt, und sei es auch nur eine Rolle, dann braucht man eine neue Rolle. Wie die aussehen könnte, kann ich hier natürlich nicht generell vorschlagen, aber wie wäre es zum Beispiel mit der Rolle eines selbstbestimmten Menschen, der sein Glück ab sofort selbst in die Hand nimmt?

Jetzt werden sicherlich viele Aber kommen. „Ja, das wäre schön, aber ich bin schon zu alt, zu schwach, zu sehr in Verpflichtungen verstrickt, habe nicht die finanziellen Mittel, um meine Lebenssituation zu ändern …. Welche Aber haben Sie? Tauchen Aber auf, und das werden sie, dann fragen Sie sich mal ehrlich: Wollen Sie Ihre Opferrolle überhaupt opfern? Oder lebt es sich nicht doch auch ganz angenehm in ihr? Als Opfer ist man immerhin nicht selbst schuld an seinem miesen Leben. Man verbringt seine Tage ruhig und fühlt sich wenigstens halbwegs sicher. Man muss seine Ängste nicht überwinden und nichts Neues wagen. Alle Tage verlaufen gleich, nicht gerade schön oder gar begeisternd, aber wenigstens weiß man, was man hat und wie es morgen aussehen wird. Wenn das auf Sie zutrifft und Sie wissen nun um Ihre Lage und lassen alles so, wie es ist, dann ist das auch eine Entscheidung. Eine Entscheidung, dass die Opferrolle zu Ihnen passt und dass Sie diese Rolle behalten wollen. Soll so sein, eine jede und ein jeder ist frei in seinen Entscheidungen.

Wer dagegen jetzt erstmals so richtig erkennt, dass er schon lange und ohne es zu wissen sich in der Opferrolle befindet, der darf sich nun dagegen entscheiden und sich der Aufgabe stellen, sich auszumalen, wie seine Rolle und sein Leben anders gestaltet sein könnte und was er dafür tun muss. Denn eines ist gewiss: Ohne Taten ist die Entscheidung schnell vergessen und man wird sich in der altbekannten Rolle einzementiert wiederfinden.

Ein jeder muss sich klarmachen, wie er nun sein will, was es dafür zu ändern gilt. Danach beginnt der spannende Prozess der Umsetzung, der einem zeigt, ob man das Zeug für eine andere Rolle und ein besseres Leben hat oder nicht.

Raus aus der Angst - rein ins Leben

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