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34 | Schneewolf
ОглавлениеDer Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten; ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben. Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe. Der bezahlte Knecht aber, der nicht Hirt ist und dem die Schafe nicht gehören, lässt die Schafe im Stich und flieht, wenn er den Wolf kommen sieht; und der Wolf reißt sie und jagt sie auseinander.
JOHANNES 10,10-12A (EINHEITSÜBERSETZUNG)
Seht zu, dass niemand die Gnade Gottes verscherzt, dass keine bittere Wurzel wächst und Schaden stiftet und durch sie alle vergiftet werden.
HEBR ÄER 12,15 (EINHEITSÜBERSETZUNG)
In einer Jazzbar in Bosnien herrscht dicke Luft. Eingekeilt zwischen Studenten, verbringen wir passivrauchend den Abend. Eine »Walter Wolf« nach der anderen wird aus ihrer exklusiven Packung genommen und angezündet. Die blauen, durchdringenden Wolfsaugen auf der blütenweißen Zigarettenschachtel fangen meinen Blick auf. Sie faszinieren mich, durchdringen meine Gedanken, schlagen mich spöttisch in ihren Bann und raunen mir zu:
»Diese intelligenten jungen Menschen glauben, dass die Zukunft ihnen gehört. Wachsam hüten sie ihre Grenzen. Niemand soll ihnen zu nahe treten. Aber genau das ist der Weg, wie ich mir alles nehmen werde, alles. Verletzungen haben Hass gesät und erneut verletzt. Bitterkeit hat ihr Herzensland im Griff und versucht, alles zu durchdringen. Stolz schlagen sie sich an die Brust – wir sorgen für unser Glück. Lukrative Geschäfte. Selbstbestimmtes Handeln. Vermeintlich frei. Sie ignorieren, dass ›Walter Wolf‹ tödlich ist. Meine Schönheit ist gefährlich unauffällig. So getarnt bekomme ich, was ich will. Aktiv oder passiv, wissend oder unwissend – sie lassen sich von mir regieren. Richtig oder falsch – das ist unwichtig: Hauptsache Spaß, Erfolg, eine goldene Vision.
Bei manchen leistet Religiosität der Verbitterung weiter Vorschub. Für Gott und ihren einzig wahren Glauben tun sie alles. Dann wird dieser Gott doch auch alles für sie tun! Mit diesem Willen regieren sie ihre Welt und ihren Gott. Und sie leiden, weil sie blind für die Wahrheit sind. Ich habe alles unterminiert, sechs Millionen Minen auf ihren Feldern verbuddelt und noch mehr in ihren Herzen vergraben. Hah!
Mein einziges Ziel ist, ihr Herz zu stehlen, echte Liebe abzutöten und Leben zu zerstören. Es gibt nur eines, das ich fürchte, das mich unbarmherzig zurückdrängen kann: Vertrauen statt selbst kämpfen.
Dem Einen, der sie kennt und aus bedingungsloser Liebe alles getan hat für sie. Würden sie ihm total vertrauen, ihren Egotrip aufgeben, zu ihrer Erfüllung nur ihn ansehen, dann hätte ich keine Chance. Sie müssten das Minenräumen ihm überlassen und nicht mehr selbstherrlich für sich selbst sorgen; denn er würde es ja für sie tun. Meine Taktik würde auffliegen, und ich hätte verspielt. Aber mit meiner Wolfsart halte ich die ganze Welt genial im Griff. Und keiner begreift, dass es um Leben oder Tod geht.«
Christiane Ratz