Читать книгу Soziologie verstehen - Thomas Kron - Страница 10

Beispiel: Fußball

Оглавление

Die mitreißende Stimmung in einem Fußballstadion ist weder ausschließlich das Ergebnis des Jubels der Fans noch ist das Fußballspiel an sich mitreißend. Erst wenn die Fußballer:innen auf dem Platz mit den Fans auf den Rängen in bestimmter Weise wechselwirken, also etwa durch abgestimmte Fangesänge oder mittels der Koordination der Namensaufrufung bei Auswechselungen der Spieler:innen durch die Stadionsprecher:innen, dann kann eine mitreißende Stimmung entstehen, die bei den einzelnen Menschen wie bei dem Ganzen wiederum Gefühle einer »kollektiven Ekstase« hervorrufen. Diese Ekstase ist ein kollektives Phänomen und entsteht durch Wechselwirkung bzw. durch handelndes Zusammenwirken.

Menschen und ihr Zusammenwirken sind für Simmel jene Inhalte, die mit ihrem Wechselwirken vielfältige Formen der Vergesellschaftung erzeugen. Später hat er diese Unterscheidung von Wechselwirkungen (Inhalte) und Vergesellschaftung (Formen) durch die Unterscheidung von Leben und Form ersetzt, weshalb man Simmel auch als »Lebenssoziologen« (Berger/Kron 2017) bezeichnen kann. Im Anschluss an Simmel hat es verschiedene Versuche gegeben, Wechselwirkungen – also die Dynamiken des handelnden Zusammenwirkens – dadurch zu analysieren, indem man sie kategorisiert. Die Kategorisierung der Wechselwirkungen resultiert dann in dem Aufzählen bestimmter gesellschaftlicher Formen und Prozesse des handelnden Zusammenwirkens. Simmel selbst hat insbesondere in seiner sog. »großen Soziologie« von 1908 einige solcher typischen »Vergesellschaftungsformen« präsentiert, etwa den Streit, die Konkurrenz, die Über- und Unterordnung oder räumliche Ordnungen. Leopold von Wiese (1966) dürfte derjenige Soziologie sein, der im Anschluss an Simmel diese Art der »formalen Soziologie« am weitesten getrieben hat. Von Wiese hat diese »Formalisierung« – verstanden als Verallgemeinerung der Aussagen über Wechselwirkungen und nicht in dem strengen Sinne der Übertragung in eine formale Sprache wie die Mathematik – als Kategorisierung fortgeschrieben. Er unterscheidet dabei Wechselwirkungen zunächst nach Beziehungen erster und zweiter Ordnung. Zu den Beziehungen erster Ordnungen gehören Beziehungen des Zu- und Miteinanders sowie des Aus- und Ohneeinanders und Mischformen aus beiden. Zu den Beziehungen zweiter Ordnung gehören differenzierende Prozesse, integrierende Prozesse, zerstörende Prozesse und »umbildend-aufbauende« Prozesse. Jede dieser basalen Kategorien wird wiederum in weitere Kategorien unterteilt und mit verschiedenen exemplarischen Prozessen versehen. So unterteilt von Wiese die Beziehungen des Zu- und Miteinanders etwa in allgemeine Beziehungen, Annäherung, Anpassung, Angleichung und Vereinigung. Die integrierenden Prozesse z. B. werden in Gleichmachen, Ein-/Über-/Unterordnung und Sozialisierung unterschieden.

Insgesamt ergibt sich hieraus bei von Wiese eine »Tafel der menschlichen Beziehungen in soziologischer Betrachtung«, die sowohl hilfreich als auch wenig fruchtbar ist: Als eine Art Setzkasten ist sie hilfreich, denn vermutlich dürfte das meiste handelnde Zusammenwirken dort unterzubringen sein. Zugleich sind damit ausschließlich Beispiele des handelnden Zusammenwirkens exemplarisch benannt. Man kann dann zwar konkrete Beobachtungen einordnen, aber die Kategorien selbst sind nur begrenzt generalisierbar. Es ist grundsätzlich fraglich, ob es soziale Kategorien gibt, die alle Zeit überdauern, weil sich Gesellschaften permanent wandeln, wie wir noch sehen werden. Es ist also wahrscheinlich, dass neue gesellschaftliche Phänomene entstehen, für deren soziologische Beschreibung man neue Kategorien benötigen würde, wollte man den Setzkasten von Wieses verwenden. Das bei von Wiese aufgeführte »Proletarisieren« bspw. wird heutzutage nicht als zerstörerischer Prozess eingeschätzt. Auch wenn viele Kategorien bei ihm plausibel erscheinen, beseitigt dies nicht die fundamentale historische Vergänglichkeit seiner Kategorien von Formen und Wechselwirkungen – es könnte eben auch anders sein bzw. ist auch schon mal anders gewesen. Es verwundert wenig, dass sich von Wieses Soziologie nicht hat durchsetzen können, wenngleich man etwa die soziologische Netzwerkanalyse als eine ähnliche, auf Formen ausgerichtete Forschungsrichtung verstehen könnte.14

Die Soziologie interessiert sich also für kollektive Phänomene, die durch handelndes Zusammenwirken von Menschen entstehen. So ganz kommt die Soziologie demnach nicht um das Handeln der Menschen herum. Wichtig für die Soziologie sind dabei die unterschiedlichen Formen und Mechanismen des handelnden Zusammenwirkens. Einige Formen und Mechanismen wollen wir in diesem Buch aus verschiedenartigen theoretischen Perspektiven darstellen. Die Rolle des handelnden Menschen kann in diesen Betrachtungen ganz divergent ausfallen. Im Gegensatz zu Simmel hat insbesondere Max Weber15 das handelnde Zusammenwirken nicht nur auf die Untersuchung gesellschaftlicher Formen begrenzen wollen, sondern eine systematische Verbindung zu einer Analyse des Handelns gezogen. Wenn Weber von Handlung spricht, dann meint er nicht eine »instinktive« Körperbewegung, etwa wenn ich »Aua« schreie, weil ich mir den kleinen Zeh am Tischbein gestoßen habe. Das wäre Verhalten. Handlung ist für Weber immer sinnhaft aufgeladen. Gemeint ist damit jener durchaus berühmt gewordene Sinnbegriff, dessen Abfrage in keiner Soziologieprüfung zu Beginn des Studiums fehlen darf:

»Sinn ist hier entweder a) der tatsächlich α. in einem historisch gegebenen Fall von einem Handelnden oder β. durchschnittlich und annähernd in einer gegebenen Masse von Fällen von den Handelnden oder b) in einem begrifflich konstruierten reinen Typus von dem oder den als Typus gedachten Handelnden subjektiv gemeinte Sinn. Nicht etwa irgendein objektiv ›richtiger‹ oder ein metaphysisch ergründeter ›wahrer‹ Sinn« (Weber 1980: 1).

Auf diesen subjektiv gemeinten Sinn kommen wir noch genauer zu sprechen. Bis hierhin ist subjektiver Sinn das, was Menschen mit ihrem Tun beabsichtigen. Wenn Menschen sich in diesem Sinne sinnhaft verhalten, dann handeln sie. Hier genügt es zunächst zu wissen, dass Weber Handeln auf der einen und soziales Handeln auf der anderen Seite unterscheidet. Seine nicht weniger berühmte Definition zum sozialen Handeln lautet weiter:

»Soziales Handeln […] soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist« (Weber 1980: 1).

Statt die Wechselwirkungen in ihren Ausformungen zu kategorisieren, gibt Weber darüber Auskunft, wie Menschen zusammenwirken, nämlich indem sie jeweils ihren subjektiven Sinn auf das Verhalten anderer Menschen beziehen und sich daran in dem Handlungsablauf orientieren. Wenn ich mich also auf das Verhalten anderer Menschen beziehe und prüfe, inwieweit mir deren Verhalten nützlich ist, dann könnte ich diesen Menschen z. B. auf dem Markt ein Angebot machen, weil ich vermute, dass es sich um potentielle Käufer:innen handeln könnte – dann ist das soziales Handeln. Und dieses soziale Handeln kann sich fortsetzen, wenn die anderen Menschen in der Folge anfangen, mit mir zu feilschen, also ebenfalls ihr Handeln sinnhaft auf mich beziehen und daran orientieren.

Diesem Wie des Zusammenwirkens wollen wir nun weiter auf den Grund gehen. Dabei werden wir sehen, dass die Soziologie zwischen formaleren (wie Simmel) und inhaltlicheren (wie Weber) Darstellungen changiert bzw. darum bemüht ist, die Balance zwischen beiden Betrachtungsweisen zu finden. Es geht uns zunächst darum darzustellen, wie das Handeln mehrerer Menschen mit- und aufeinander wirkt. In einem weiteren Schritt werden wir dann schauen, was als kollektives Ergebnis dabei rauskommt, wenn Menschen handelnd zusammenwirken.

Soziologie verstehen

Подняться наверх