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Vorwort

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Mit dem vorliegenden Lehrbuch »Soziologie verstehen – eine problemorientierte Einführung« möchten wir Menschen, die sich für die Soziologie interessieren, einen roten Faden durch diese Wissenschaft anbieten. Wenn Sie diesem Faden bis zum Ende folgen, werden Sie verstehen, worum es der Soziologie als Wissenschaft geht.


Das Entstehen dieses Buches hat eine längere Vorgeschichte. Die Idee hierzu hatte ich bereits 2005 nach vielen Diskussionen mit Informatikern im Rahmen eines Forschungsprojekts zur »Sozionik«.1 Während dieser Zeit hat die Forscher:innengruppe rund um Uwe Schimank2 an der FernUniversität in Hagen, deren Teil ich sein durfte, die Frage diskutiert, was die Soziologie erklärt (Schimank/Greshoff 2006). Von Informatiker:innen kann die Soziologie viel lernen. Diese Frage wurde deshalb auch an die Informatiker in dem Projekt weitergegeben: Wann ist für Euch etwas erklärt? Die Antwort lautete: Wenn ein Problem gelöst wurde, dann ist es erklärt.

Diese Antwort hat mich irritiert: Kann das etwa auch für die Soziologie gelten? Welche Probleme löst die Soziologie denn eigentlich? Welche Probleme soll sie lösen? Löst sie Probleme, die die Gesellschaft hat?3 Oder löst sie die Probleme, die ihr bei der Untersuchung der Gesellschaft in den Blick geraten? Diese Fragen hat die Soziologie nicht eindeutig beantwortet. Und sie gibt auch keine einhellige Antwort auf die Frage, was ihr als eine Erklärung gilt.

Solche Vagheiten sind typisch für die Soziologie. Und, nicht überraschend, ist Vagheit dementsprechend eine typische Erfahrung von Studierenden der Soziologie. Fragt man diese nach einem Jahr des Soziologiestudiums, was die Soziologie insgesamt will, dann erntet man in der Regel nicht mehr als ein Achselzucken. Das deckt sich mit meiner Erfahrung während meines eigenen Soziologiestudiums. Damals, noch im Magisterstudiengang, wurde mir insbesondere von Richard Münch4 (1994a) die Soziologie als ein historischer Ablauf der wichtigsten Gedanken und Theorien von den 1850er Jahren bis zur Gegenwart präsentiert. Zugleich blieb mir lange verborgen, was denn der soziologische rote Faden durch alle diese klugen Gedankengebäude sein mag. Gibt es den einen roten Faden überhaupt?

Schon in dieser Zeit meines Studiums habe ich an der Lehre von Uwe Schimank teilgenommen. Bereits im ersten Seminar präsentierte Schimank die Soziologie als einen großen, faszinierenden Werkzeugkasten. Diesen Werkzeugkasten hat er (2000) später in seiner »akteurtheoretischen Soziologie« aus einem Guss vorgelegt. Mit Werkzeugen repariert man Dinge, baut etwas auf oder bringt etwas an – allgemeiner: Mit Werkzeugen löst man Probleme. Der schimanksche Werkzeugkasten enthält also bereits starke Hinweise auf jene Probleme, die die Soziologie löst.5 Der Titel des dazugehörigen Buches drückt dies auch aus: Es geht um Handeln und Strukturen. Anders formuliert: Es geht um das Handlungsproblem und um das Ordnungsproblem, wie bereits Jeffrey C. Alexander6 (1982) in seiner Einführung in die Soziologie dargelegt hatte.

Beide Lehransätze von Münch und Schimank habe ich bei der Übernahme meiner Professur an der RWTH Aachen in der Veranstaltung zur Einführung in die Soziologiezur Anwendung gebracht. Das heißt, ich habe die Werkzeuge anhand von »Handeln und Strukturen« präsentiert, ergänzt um die ausführlichere Darstellung einzelner Theorien in ihrem historischen Kontext wie in Münchs »Sociological Theory«. Zugleich hat sich rasch herausgestellt, dass dies immer noch nicht dazu führt, den Studierenden einen hinreichend roten Faden soziologischen Denkens zu präsentieren.

Thomas Kron

Die Schwierigkeiten zu erkennen, worum es der Soziologie als Wissenschaft insgesamt geht, hatte ich ebenfalls. Ich habe diese Veranstaltung von Thomas Kron ›genießen‹ dürfen – inklusive der Frage nach dem Gesamtzusammenhang der Soziologie. Wenn ich mich an jene ersten Semester zurückerinnere, war mit den Inhalten der Veranstaltung zwar der Grundstein für die soziologische Begeisterung gelegt: Das Angebot, auch alltägliche Erfahrungen in Schemen und Muster überführen zu können, hat mitunter zu Aha-Erlebnissen geführt. Das hat Lust auf mehr gemacht! Nichtsdestotrotz schien mir der Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Ansätzen und Theorien oftmals ungeklärt oder diffus. Wenigstens war es die Unterscheidung zwischen sog. »Mikro«- und »Makro«-Zuständen des Sozialen, die den Anschein erweckte, alles Soziologische zu ordnen. Anhand dieser umstritten Unterscheidung von Mikro//Makro7 habe ich gemeinsam mit meinen damaligen Kommiliton:innen versucht, die Zusammenhänge der unterschiedlichen Theorien herzuleiten. Dieses Unterfangen ist allerdings sehr anspruchsvoll, da es ein profundes theoriehistorisches Wissen voraussetzt, das üblicherweise eher im fortgeschrittenen Studium erworben wird.

Mit dem »soziologischen Survival-Sixpack« (Schimank/Kron/Greshoff 2002) von Hartmut Esser8 (1999–2001) wurde mir von Kron in der Einführungsvorlesung zwar ein Angebot gemacht, wie sich die verschiedenen Werkzeuge und historisch relevanten Theorien in ein Modell integrieren lassen. Zugleich war damit die studentische Verwirrung nicht aufgehoben, sondern nur verschoben. Denn das Angebot von Esser ist ein integrales Modell neben anderen Modellen, die ebenfalls integrale Ansprüche hegen, sich selbst mitunter als Supertheorien etikettieren und ebenfalls sehr gute Argumente aufführen. Und leider widersprechen sich diese integralen Theorien und Modelle oftmals. Wäre mir nur eine dieser Theorien und Modelle in der Lehre präsentiert worden, hieße das, mich zu zwingen, mich für eine Theorie zu ›entscheiden‹ und alle anderen abzulehnen bzw. gar nicht erst kennenzulernen. Dieses Entweder-Oder in der Theoriewelt der Soziologie ist nie der Aachener Weg der Soziologie gewesen. Dort gebührt insbesondere Paul B. Hill9 das Verdienst, darauf bestanden zu haben, dass den Studierenden die Soziologie nicht direkt zu Anfang mit einer Verengung präsentiert wird. Die Perspektivenvielfalt der Soziologie wird als ein wertvolles Gut gesehen und die Studierenden sollten vielmehr selbst in die Lage versetzt werden zu entscheiden, auf welches Werkzeug und welche (integrale) Theorie sie im Laufe ihres Studiums setzen wollen oder eben nicht.

Christina Laut

Diese Lehranschauung beizubehalten bedeutet wiederum, dass die Beantwortung der Frage, welche Probleme die Soziologie denn nun löst, als Leitfaden einer Einführung in die Soziologie nicht an Attraktivität verliert, im Gegenteil. Die Problemorientierung kann, so unsere Annahme, einen roten Faden durch die Soziologie ziehen, dem dann die verschiedenen soziologischen Ansätze, Theorien, Modelle usw. zugeordnet werden können. Auf diese Weise lässt sich die typische Verwirrungserfahrung des Soziologiestudiums mildern.

So reizvoll uns diese Annahme erschienen ist, so schwierig war sie für uns umzusetzen. Die Rede von dem Handlungs- und Ordnungsproblem hat sich als zu allgemein herausgestellt. Mindestens können diese Probleme in sechs differenziertere Probleme unterteilt werden, nämlich in die Fragen

1. wie Handlungen durch die Gesellschaft geprägt werden,

2. wie die Handlungen durch die Menschen ausgewählt werden und

3. wie Handlungen zusammenwirken.

Und es kann gefragt werden,

4. wie gesellschaftliche Ordnungen entstehen,

5. wie sie sich stabilisieren und

6. wie sie sich wandeln.

So plausibel uns diese Aufteilung zunächst erschien, sind wir damit doch erst mal in weitere Schwierigkeiten hineingeraten. Es ist uns z. B. sofort aufgefallen, dass die Antworten auf diese Fragen miteinander verwoben sind, was die Darstellung mindestens erschwert. Wenn man bspw. davon ausgeht, dass die Gesellschaft die Handlungen der Menschen prägt, dann unterstellt man ja bereits, dass es eine gesellschaftliche Ordnung gibt. Die Entstehung dieser gesellschaftlichen Ordnung ist aber zugleich nicht ohne jene Handlungen zu erklären, die sich als geprägt herausstellen. Dies ist wohl das Henne-Ei-Problem der Soziologie. Uns bleibt die Hoffnung, mit dem vorliegenden Lehrbuch einen guten Umgang mit diesem Problem gefunden zu haben. Der Begriff der Problemorientierung ist hier also mehrdimensional, denn er betrifft die Probleme der Soziologie sowie die Probleme der Darstellung der Soziologie.

Eine weitere Herausforderung ist der Zwang zur Begrenzung. Die Idee für dieses Lehrbuch ist, sich praktisch in der Lehre im Rahmen einer Einführung in die Soziologie zu bewähren, in der überwiegend Studierende des ersten Semesters sitzen. Dafür standen an der RWTH Aachen einst im Magisterstudiengang vier Semester zur Verfügung. Durch die Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge wurde diese Einführung letztlich auf ein Semester verkürzt.10 Daraus folgt die Unumgänglichkeit, sich zeitlich und sachlich zu beschränken und tatsächlich auf Probleme zu konzentrieren. Es ist eine problemorientierte Einführung. Wollten wir zu diesen Problemen gleichermaßen alle soziologischen Lösungen angemessen präsentieren, dann wäre dies ein sehr dickes Buch für eine viersemestrige Einführungsveranstaltung geworden. Schön, aber nicht hilfreich für unsere aktuelle Praxis. Wir präsentieren demnach eine Auswahl von soziologischen Lösungen zu den Problemen und stellen diese recht verkürzt dar.

Zugleich soll damit sehr deutlich angemerkt sein: Das vorliegende Lehrbuch ersetzt kein anderes Lehrbuch. Ausdrücklich empfehlen wir die bereits genannten Lehrbücher von Hartmut Esser, Richard Münch und Uwe Schimank. Wer diese Bücher alle gut durcharbeitet, erhält einen hervorragenden Überblick über die Soziologie. Und selbstverständlich sind dies nicht die einzigen sehr nützlichen Einführungen in die Soziologie. Wer sich gut umschaut, findet noch sehr viele andere hervorragende Werke. Das vorliegende Lehrbuch versteht sich ausdrücklich als Ergänzung zu all diesen Einführungen. Es hilft, einen roten Faden durch die Soziologie zu ziehen. In diesem Sinne gilt der Titel: »Soziologie verstehen«. Erste Ergebnisse aus den Vorlesungen, die entlang dieser Struktur gehalten wurden, stimmen uns jedenfalls hoffnungsvoll, dass dies gelungen ist.

Im Laufe dieser Zeit haben wir verschiedenste Aspekte mit unterschiedlichen Personen diskutiert. Ihnen allen sind wir zu Dank verpflichtet. Leider ist es unmöglich, diese alle hier namentlich einzeln aufzuführen. Wir picken lediglich einige Menschen heraus, mit denen besonders viel diskutiert wurde: Neben den o. g. Personen sei aus dem Hagener Team rund um Uwe Schimank Lars Winter hervorgehoben, mit dem Aspekte zu den gesellschaftlichen und soziologischen Problemen sowie zur Erklärung der Soziologie ausgefochten wurden. Aus Aachen haben Lena M. Verneuer-Emre konstruktive und Bettina Mahlert sehr kritische Impulse gegeben. Einen besonderen Dank ist den Studierenden der Soziologie an der RWTH Aachen geschuldet, die an der Einführungsvorlesung teilgenommen und diese sowohl wohlwollend als auch kritisch bewertet haben. Ganz besonders hilfreich sind uns die Kommentare, Anmerkungen und Hinweise von folgenden Menschen gewesen, die das Buch vorab gelesen haben: Ralf Becker, Sven Graumüller, Betim Kai Gecaij, Marina Langohr, Daniel Scherer, Torsten Stephan, Anna-Maria Weihrauch, Benjamin Wittorf. Diese hervorragende Idee, Nicht-Soziolog:innen das vorliegende Buch auf Verständlichkeit prüfen zu lassen, verdanken wir Aladin El-Mafaalani. Viele ihrer Anregungen sind in dieses Lehrbuch eingeflossen. Alles das, was unverständlich geblieben ist, ist natürlich uns zuzurechnen.

Ein ganz besonderer Dank geht an Eylou, den großartigen Zeichner der islieb- und isfies-Comics11, die wir hier verwenden dürfen! Wir sind selbst große Fans und können nur empfehlen, in den Fan-Club einzutreten!

Zu guter Letzt: Wir danken den Mitarbeiter:innen vom Kohlhammer Verlag für die Unterstützung in allen Belangen!

Thomas Kron & Christina Laut

1 Es handelte sich um ein Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft, in dem Soziologie und Informatik interdisziplinär kooperiert haben. Das Hagen-/Dortmunder-Projekt hat unter dem Titel »Untersuchungen zur Dynamik sozialer Systeme anhand der Simulation komplexer, adaptiver Agenten« firmiert.

2 Uwe Schimank, geboren 1955, ist Professor für Soziologie. Ein Großteil des vorliegenden Lehrbuchs schließt an Schimanks Einführung in die akteurtheoretische Soziologie »Handeln und Strukturen« (2000) an bzw. übernimmt von ihm wesentliche Argumente.

3 Unsere Antwort ist: Ja, die Soziologie löst Probleme, die die Gesellschaft hat. Das bedeutet, die Soziologie kümmert sich nicht nur ausschließlich um das, was sie anhand von Theorien in den Blick bekommt, sondern sie nutzt, dass sie selbst Teil der Gesellschaft ist und diese zugleich soziologisch beobachtet (mithin: sich selbst soziologisch beobachtet). Dies mag erkenntnistheoretisch schwierig sein. Zugleich wäre der Versuch, gesellschaftliche Probleme zu ignorieren, wenn diese nicht in soziologische Sichtapparaturen passen, ebenfalls nicht einfach.

4 Richard Münch, geboren 1945, ist Professor für Soziologie und galt lange als relevantester Vertreter der parsonsschen Theorie in Deutschland.

5 Es wundert nicht, dass wir etliche von Schimanks Vorschlägen hervorragend übernehmen und für unsere Zwecke hier einsetzen können.

6 Jeffrey C. Alexander, geboren 1947, ist US-amerikanischer Soziologe und einer der führenden Sozialtheoretiker und Vertreter der Kultursoziologie.

7 Wir verwenden die doppelten Bindestriche »//« im Folgenden als Unterscheidungsmerkmal. Die Anregung dazu verdanken wir Ben von https://ueberschriften.de.

8 Hartmut Esser, geboren 1943, ist emeritierter Professor für Soziologie und Wissenschaftslehre mit einem Forschungsschwerpunkt zur theoretischen Integration der Sozialwissenschaften.

9 Paul B. Hill, geboren 1953, war Professor für Soziologie an der RWTH Aachen mit dem Schwerpunkt Methoden der empirischen Sozialforschung.

10 Dies betrifft nur die Vorlesung als Veranstaltungsform. Die weitere Vermittlung der Einführung in die Soziologie wird an der RWTH zu Beginn des Soziologiestudiums in seminaristischer Form geleistet.

11 https://islieb.de und https://isfies.de.

Soziologie verstehen

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