Читать книгу Girga - Waldsterben - Thomas Ladits - Страница 13

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„Fliehen?“, fragte Goltan. „Vor dem Unheil, das du prophezeit hast?“

Loz nickte langsam. „Ja. Ich hatte wieder eine Vision.“

„Noch eine?“, sagte Goltan. „Du träumst, Loz.“

Der alte Elf schüttelte den Kopf. „Nein, dieses Mal nicht! Ich hatte die zweite Vision mitten am Tag.“

„Was war es diesmal?“, wollte Goltan wissen.

Loz schaute sich um, dann sprach er leiser, damit nur Goltan es hören konnte: „Fast genauso wie die erste. Ein furchtbares Waldsterben, eine rothäutige Kreatur, jede Menge kleinerer Kreaturen, die sich alle über unsere Bäume hermachten … Dann sah ich einen Stern, dann einen Mann und am Schluss einen fliegenden Falken, der Lauft! rief.“

Goltan schüttelte traurig den Kopf. „Du spinnst, Loz.“

Loz klopfte Goltan mit dem Stab einmal auf die Schulter. „Sei weise genug, mir zu glauben, Goltan. Halte dich bereit und sieh zu, dass dein Sturmbezwinger fertig ist. Wir könnten ihn jederzeit brauchen. Das Unheil kann jeden Moment hereinbrechen.“

„Was für ein Unheil soll das eigentlich sein?“, wollte Goltan wissen.

Loz zuckte mit den Schultern. „Wenn ich das nur wüsste … Ich habe nur unglaublich viele Kreaturen gesehen. Und dann dieser Stern und der Mann …“

„Was war das für ein Mann?“

Loz starrte auf einen Punkt hinter Goltan und sagte, ohne dabei mehr als die Lippen zu bewegen: „Kein Mann. Ein Gott.“

Goltan schnitt eine Grimasse. „Ein Gott? Welcher Gott sagt uns das Unheil voraus?“

Für einen Moment verlor Loz die Beherrschung und warf die Hände in die Luft. „Verdammt, ich weiß es nicht! Dieser Gott hat nur gesagt, wir sollen fliehen.“

„Ich dachte, er sagte Lauft!“, warf Goltan ein.

„Ist doch das Gleiche“, protestierte Loz. „Wir sollen nicht gegen das Unheil, also diese Horde unbekannter Kreaturen, die kommen wird, kämpfen, sondern vor ihnen fliehen.“

„Du meinst, die Horde unbekannter Kreaturen, die kommen könnte“, korrigierte Goltan.

Loz seufzte. „Du glaubst mir also immer noch nicht.“

„Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Du machst auf mich einen sehr verwirrten Eindruck, andererseits hattest du immer einen weisen Rat für mich, wenn ich einen brauchte, Loz. Ich weiß nicht, ob ich dir glauben soll“, antwortete Goltan mit einem traurigen Lächeln.

Loz sah ihn flehend an. „Halte dich und dein Schiff einfach bereit. Bitte.“

„Das werde ich. Auch wenn ich nicht weiß, wofür“, versprach Goltan. Loz lächelte warm. „Danke.“ Dann drehte sich der ältere Elf um und ließ Goltan aufgewühlt und verwirrt allein.

Die erste Ratssitzung zum Thema Weltuntergang endete ohne Ergebnis. Lunc und all seine Fürsprecher hatten jeden Satz, den Mathros von sich gegeben hatte, auseinandergenommen und versucht, ihn oder Machutoc dazu zu bringen, sich doch noch gegen die Debatte über diese Prophezeiung zu entscheiden. Beide waren eisern bei ihrer Meinung geblieben. Es war Mathros in einer dreistündigen Verhandlung immerhin gelungen, dass der Rat bei der morgigen Diskussionsrunde mal so verhandeln würde, als würden sie alle glauben, dass das Unheil kam. Morgen wurde also von der Wahrheit der Prophezeiung ausgegangen.

Doch was morgen war, interessierte Machutoc am Vorabend noch nicht. Er saß auf der Kante seines mit Blättern gepolsterten Bettes in seinem Gemach, welches in der dritten Etage der Kopfbirke lag. Während längerer Verhandlungen übernachteten alle Ratsmitglieder in der Kopfbirke, jeder hatte sein eigenes Gemach, in dem er all seine Habseligkeiten lagern konnte und welches seine Welt war. In Machutocs Gemach war es nicht sehr interessant. Die gleichen Möbel wie in allen anderen, verschiedene Anzüge für die Verhandlungen, ein bequemes Abendgewand, ein Stoß Papier auf einem Schreibtisch, mehrere Fässchen Tinte und eine große Feder daneben, eine Obstschale und eine kunstvoll geschwungene Flasche, in der sich der Nektar verschiedener Früchte befand.

Machutoc saß nun schon seit fast einer Stunde auf seinem Bett und lauschte angestrengt. Nun hatte er aber schon sehr lange kein Geräusch mehr gehört. Das bedeutete, das letzte Ratsmitglied war eingeschlafen. Außer Machutoc. Auch sonst war niemand mehr wach in der Kopfbirke. Zeit für Machutoc, selbst zu erwachen. Er ging zu seinem Schreibtisch und öffnete eine Schublade, in der sich eine würfelförmige Holzkiste befand. Machutoc zog eine Hand tiefer in den Ärmel seines Nachthemdes und holte die Hand gleich darauf wieder heraus – mit einem winzigen Schlüssel zwischen den Fingern. Machutoc öffnete die Holzkiste und legte die vier schwarzen Gegenstände auf seinen Schreibtisch, dann verschloss er die Kiste, legte sie zurück in die Schublade und schloss auch diese. Den Schlüssel versteckte er wieder in der Innenseite seines Nachthemdes. Die vier Gegenstände, die er herausgeholt hatte, konnte er wie Schuhe und Handschuhe anziehen, was er auch tat. An den Zehen der dunklen Schuhe, die nur bis zum Knöchel gingen, saß eine kurze, scharfe Klinge aus hartem, stabilem Stahl. Dieselbe Klinge befand sich auch an den Handschuhen. Machutoc ging zu seinem Kleiderschrank und öffnete ihn. Er schob ein paar Roben und Wämser beiseite, um eine weitere, geheime Tür freizulegen, die er auch mit einem Schloss versperrt hatte. Dieses Mal zog er den Geheimschlüssel aus dem anderen Ärmel und öffnete die Tür. Die Kammer war zu klein für Machutoc, aber er musste auch nicht rein. Er zog nur ein Bündel schwarzen Stoffes heraus und schloss die Tür dann wieder. Das Stoffbündel warf er auf das Bett, dann schloss er auch den Kleiderschrank wieder und rollte das Bündel aus. Es war ein schwarzer Tarnanzug. Machutoc streifte sich das Gewand über und verhüllte sein Gesicht bis auf die Augen. In der schützenden Dunkelheit der Nacht würde er kaum mehr als ein Schatten sein, wenn er dieses Gewand trug. Dann ging er zum Fenster. Der Baum war so gewachsen, dass hier ein Fenster entstanden war. Die Elfen hatten also kein Holz weggeschnitten, um dem Raum ein Fenster zu verpassen, und sie hätten es auch niemals gewagt. Die Elfen wagten auch nicht, dieses Loch natürlichen Ursprungs durch Gitter oder Glas zu verstopfen, und deshalb konnte Machutoc geräuschlos herausklettern. Die Klingen an seinen Füßen und Händen gruben sich in das Holz der Kopfbirke und verhinderten seinen Absturz, als er draußen wie ein Käfer senkrecht an der Wand hing. Machutoc kletterte vorsichtig ein Stockwerk höher, wobei er sich die Klingen zur nützlichen Kletterhilfe machte. Der scharfe Stahl grub sich stark und unnachgiebig in das Holz der Kopfbirke und gewährte Machutoc so sicheren Halt. Ein Stockwerk über ihm lag Rätin Zamjjas Gemach. Machutoc fand ihr Fenster schnell und kletterte hindurch.

Nun stand er im Inneren des Zimmers von Rätin Zamjja. Die alte Elfe schlief tief und fest, Machutoc konnte ihr leises Schnarchen hören.

Khem“, flüsterte er leise. Seine Augen wurden glasig und die Dunkelheit der Nacht konnte sie nicht mehr trüben. Machutoc sah nun alles so, wie es bei Tageslicht aussah. Er schlich zu dem Schreibtisch von Zamjja, sorgfältig darauf achtend, nicht mit den Klingen an seinen Zehen den Boden zu berühren, da dies zu einem verräterischen Klirren hätte führen können. Als Machutoc beim Schreibtisch angekommen war, erkannte er, dass er genauso aussah wie seiner. Machutoc hatte sein kleines Geheimnis – die Klingenhandschuhe und die dazugehörigen Schuhe – in der untersten Lade aufbewahrt. Er öffnete daher leise zuerst die unterste Lade von Zamjjas Schreibtisch.

„Volltreffer“, flüsterte er, als er darin eine kleine Holzkiste fand. Manchmal gab es schon witzige Zufälle. Zamjja hatte ihre Holzkiste auch mit einem Schloss verriegelt, doch das hielt Machutoc nicht auf. Er vergrub die ganze Kiste unter seinem Tarnmantel, dann schloss er die Schublade wieder und verließ Zamjjas Gemach. Ohne dabei mehr Geräusche als sein Atmen gemacht zu haben.

Als er wieder in seinem Zimmer angelangt war, hob er den Zauber auf, der seine Augen gegen Nachtdunkelheit immun machte. Auf seinem Schreibtisch brannten drei Kerzen, und die verlangten ihm keine magischen Kräfte ab.

Lurdwee“, sagte Machutoc und schaute dabei die Holzkiste an. Sie wurde langsam durchsichtig und Machutoc konnte den Inhalt erkennen: eine einzelne Schriftrolle. Machutoc griff durch das schattenhafte Bild der Holzkiste hindurch und zog die Schriftrolle heraus, dann brach er den Zauber ab und sackte zusammen. Gegenstände körperlos zu machen, war ein anstrengender Zauber. Er hatte jetzt nicht die Kraft, wieder nach oben zu klettern und die Kiste zurückzubringen. Er würde es noch diese Nacht tun, doch zuvor musste er sich ausruhen. Diese Zeit nutzte Machutoc, um herauszufinden, was an der Schriftrolle so geheimnisvoll war, dass Zamjja sie hüten musste. Er löste das Band, das sie zusammengerollt hielt, und sie rollte sich fast von alleine auf. Machutoc erkannte das Siegel eines früheren Ratsvorsitzenden an allen Ecken der Schriftrolle. Sie war länger als Machutoc gedacht hatte, was aber nicht auf den vielen Text, sondern auf die Schriftgröße zurückzuführen war. Es war nicht Zamjjas Handschrift, es war eine normale Überlieferung, geschrieben von irgendwelchen Schriftgelehrten, die es sich zum Hobby gemacht hatten, weltbewegende Dinge für die Nachwelt aufzuschreiben. Ein sehr nützliches Hobby, vor allem für die in der Nachwelt. Machutoc überflog die ersten Zeilen, die von Belanglosigkeiten in Zamjjas Leben berichteten, und suchte nach einem Hinweis darauf, was sie mit den Propheten wirklich gemacht hatte. Machutoc las sehr aufmerksam, doch das Wort „Prophet“ fand er in der ganzen Schriftrolle nicht. Doch da … Machutoc schaute auf den Tag, an dem das niedergeschrieben wurde, was er gerade entdeckt hatte. Er las sich selbst leise vor: „… Zum Glück zog der ganze Rat an einem Strang. Natürlich, schließlich waren wir alle darin verwickelt und uns würde ohne Weiteres der Prozess gemacht werden. Glücklicherweise ist es uns gelungen, alles abzustreiten, und die Propheten wurden jetzt in die Zeitlosen Grüfte unter Treelive gebracht und die Grüfte wurden verschlossen. Niemand wird sich da hineinwagen, nur um nachzuforschen, ob der frühere Rat tatsächlich die Propheten gewaltsam ausgerottet und gegen die Heilige Regel verstoßen hat …

Zamjja hatte also tatsächlich der gewaltsamen Vernichtung der Propheten zugestimmt? Diese Zeilen waren an dem Tag niedergeschrieben worden, als die vielen Leichen gefunden worden waren, von denen vermutet wurde, dass sie zu Lebzeiten Propheten gewesen waren.

Noch am selben Tag klagte man Zamjja und den Rat ihrer Zeit an. So sehr Machutoc Zamjja und den Rest des Rates auch hasste, eine Massenvernichtungsaktion traute er ihnen nicht zu. Er würde sich selbst davon überzeugen müssen. Davon überzeugen, dass in den Zeitlosen Grüften wirklich die toten Körper von Propheten lagen.

Machutoc rollte die Schriftrolle wieder zusammen und verschnürte sie mit dem kunstvollen, blauen Band, mit dem sie vorher verschnürt gewesen war. Er hatte sehr interessante Informationen in dieser Schriftrolle gefunden. Sie würden ihm sicher noch einmal nützlich sein. Er musste sich zusammennehmen, um den Körperlosigkeitszauber auf die Holzkiste noch einmal anzuwenden, doch es gelang ihm unter einiger Anstrengung. Machutoc legte die Rolle zurück in die schemenhafte Kiste, so wie sie zuvor darin gelegen hatte. Es sah aus, als hätte er sie nie berührt, geschweige denn gelesen. Dann schob er die Holzkiste unter seinen schwarzen Tarnmantel und ging zum Fenster. Er kletterte erneut nach oben zum Gemach der Rätin Zamjja. Die Elfeninstinkte in ihm protestierten jedes Mal laut, wenn er eine Klinge in das Holz des Baumes trieb. Es kostete ihn viel Überwindung, weiterzumachen. Der Baum würde ihn vielleicht noch einmal dafür strafen oder hassen.

Machutoc erreichte das Fenster zu Zamjjas Zimmer und glitt lautlos hinein. Das rhythmische Schnarchen der alten Rätin klang immer noch durch den Raum. Machutoc ignorierte es, schlich zum Schreibtisch und öffnete die unterste Schublade ganz leise. Mit einem kaum hörbaren Geräusch platzierte er die Holzkiste wieder darin und verschloss die Lade wieder. Er richtete sich auf … und stieß dabei mit dem Ellenbogen gegen den Schreibtisch. Ein Poltern ertönte. Machutoc sog scharf die Luft ein. Zamjja schlief weiter in ihrem Bett, doch sie begann, sich zu bewegen. Auf leisen Sohlen eilte Machutoc zum Fenster zurück und schwang sich hinaus. Auf demselben Wege, wie er es schon ein paar Mal geübt hatte, begab er sich unentdeckt zurück in sein Gemach.

Dort angekommen verstaute er Klingenschuhe und -handschuhe sowie den Tarnmantel wieder. Er überlegte, ob er die Zeitlosen Grüfte nicht heute schon aufsuchen wollte. Nach kurzem Überlegen entschloss er sich dagegen. Nach mehrmaligem Auf- und Abklettern sowie einiger strapazierender Zauber rief sein Körper nun nach Schlaf. Zudem war es spät geworden - wenn er jetzt losging, um die Grüfte zu besuchen, würde er sie vielleicht erst irgendwann in den Morgenstunden finden, geschweige denn betreten und wieder zurückkehren. Machutoc brauchte viel mehr Zeit dafür. Körperliche Ermüdung und vernünftige Zeitplanung führten also zu dem Entschluss, sich in sein weiches Bett fallen zu lassen und zu schlafen.

Diese alten Geschichten, von denen er nun wusste, beschäftigten ihn noch lange. Wenn die alten Propheten vielleicht noch lebten oder gar untot waren … Man könnte sie gegen die große Gefahr einsetzen, von der Mathros die ganze Zeit sprach. Und wenn Machutoc sie erweckte, würden sie auf ihn hören …

Girga - Waldsterben

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