Читать книгу Girga - Waldsterben - Thomas Ladits - Страница 6
Der göttliche Tyrann
ОглавлениеKastro grunzte verächtlich, als ihm sein Opfer gereicht wurde. Auf dem Fell eines großen Büffels legte man ihm Fleisch, Gold, Schmuck und anderes mehr vor die Füße. Die Orks verneigten sich tief vor ihm und wagten es nicht, ihn anzusehen. Die dummen, grauhäutigen Kreaturen mit den schmalen, schwarzen Augen fühlten sich anscheinend geehrt, und für sie war diese ganze Prozedur höchst aufregend und bedeutsam.
Kastro hingegen fand sie enttäuschend und todlangweilig. „Fällt euch denn nichts Neues ein?“, fuhr er den Ork an seiner Seite an, Kramus, den Orkhäuptling. Der Ork fuhr unter Kastros mächtiger, lauter Stimme zusammen. „Mein Herr … wir haben Euch jedes Jahr solche Opfer gebracht und Ihr wart nie … verärgert darüber. Stimmt dieses Jahr etwas nicht?“ Kramus war groß und von kräftiger Statur, doch er stotterte wie ein unbeholfener Junge. Kastro erhob sich von seinem großen Stuhl und betrachtete den Stapel Opfer vor ihm skeptisch. Ein kunstvoll geschmiedetes Amulett darin erregte seine Aufmerksamkeit. „Was ist das?“, fragte er laut. Er zog das Amulett heraus und stellte fest, dass die Kette daran zerrissen war, was ihn nicht interessierte. Das kleine, bronzene Ding konnte er mit einem seiner klauenbesetzten, roten Finger zerdrücken. Doch stattdessen sah er sich die Gravur darauf genau an. Für ein Volk wie die Orks war es harte Arbeit, eine solche Gravur in ein Amulett zu schmieden. Es zeigte einen fünfzackigen Stern, der an der oberen Zacke brannte und zwischen den beiden unteren einen Eiskristall sitzen hatte. Das Zeichen der Wächter, der Abadakaner. „Wer wagt es …!“, brüllte Kastro in die Menge der versammelten Orks hinein. Das leise Geflüster, das bisher unter den grauhäutigen Kreaturen geherrscht hatte, verschwand vollkommen. „Wer hat mir das geopfert!?“, wollte Kastro wissen. Keiner rührte sich, was verständlich war. Niemand wäre dumm genug, sich freiwillig zu melden. Aber für ein Wesen wie Kastro stellte das kein Problem dar. Er fand den Schuldigen ganz leicht – dank seiner überirdischen, halbgöttlichen Kräfte.
„Du“, sagte er und zeigte auf einen Ork, der in der ersten Reihe stand und schluckte, als die Kralle von Kastros rotem Zeigefinger in seine Richtung deutete. „Du schenkst mir ein Symbol Abadakons? Bist du noch bei Sinnen!?“ Der Ork wagte nicht zu antworten. Kastro machte ein paar schwere Schritte auf ihn zu und blieb dann vor dem Ork stehen. Kastro überragte ihn um mehr als einen Meter. Der große Halbgott bemerkte, dass Kramus ihm gefolgt war, ignorierte den Orkhäuptling allerdings. Kastro blickte aus seinen schwarzen Augen auf den Ork, der vor ihm noch kleiner zu werden schien. Er legte ihm seine Hand auf den Kopf. Der dichte, braune Haarwuchs des Orks fühlte sich rau und ungepflegt an. Kastro übte permanent stärker werdenden Druck auf den Schädel des Orks aus. „Du solltest wissen, was ich verboten habe. Jegliche Huldigung von Abadakon!“ Schon beim zweiten Wort floss Blut aus den Wunden am Kopf des Orks, und beim letzten ließ Kastro den Ork los und er fiel auf den Boden. Sein Schädel war zerdrückt. Kastro wandte sich an Kramus: „Schafft diesen Frevler fort.“ Dann wandte er sich an einen weiteren Ork in den Reihen: „Und du, hol mir einen Eimer Wasser. Aber einen großen. Und beeil dich gefälligst.“ Der Ork rannte sofort los. Es war wohl eine Erleichterung für ihn, dieses Gelände zu verlassen.
Kastro setzte sich wieder zurück auf seinen Steinstuhl und sprach zu der Menge: „Nun, ich würde sagen, eure Opfer sind … ausreichend. Ihr habt euren Gott einigermaßen zufriedengestellt. Für das kommende Jahr könnt ihr beruhigt schlafen, aber wagt es nicht, mir so etwas noch einmal vorzuwerfen. Geht jetzt!“, fügte er mit lauterer Stimme hinzu. Binnen Minuten war keiner der tausend Orks übrig, die sich auf dem Platz versammelt hatten. Nur der eine kam zurück, um Kastro Wasser zu bringen. Der Halbgott wusch sich das Blut des Frevlers von der Hand, dann befahl er auch dem letzten Ork, zu gehen.
Er wedelte mit der Hand in der Luft, um sie zu trocknen, und sah sich die zahlreichen Opfer an, die von den Orks für ihn dargereicht worden waren. Für die Orks war all dies von unschätzbarem Wert, Kastro hingegen interessierte es nicht. Es waren Dinge, die irdische Bedürfnisse stillen konnten. Nahrung, Schmuck, Reichtümer … All das brauchte Kastro nicht. Er hatte gerade wieder auf eindrucksvolle Weise gezeigt, dass er sein Land mühelos regieren konnte – mit Angst und Schrecken.
Die Belange der Orks waren für ihn bedeutungslos, ebenso wie die Orks an sich. Kastro kümmerte sich wenig um den Kult, der sich um seine Person gebildet hatte, und war sich seiner Überlegenheit sicher. Dennoch verstand er es, die grenzenlose Ergebenheit des Volkes zu nutzen, indem er seine Macht demonstrierte und sie einschüchterte. Auch wenn es nichts gab, was Kastro nicht tun konnte, war es sicher von Nutzen, eine Schar loyaler Helfer zu haben.
Kastro war kein Ork. Kastro war ein mächtiger Halbgott, der Sohn des Licht- und Friedensgottes Abadakon und der Schöpfungs- und Naturgöttin Rodalla. Kastro hatte immer an das Prinzip des Stürzens geglaubt: Der Sohn stürzt eines Tages den Vater. Oder der Vater vermacht dem Sohn alles. Doch Kastro war nicht der älteste Sohn des Abadakon. Er hatte einen älteren Bruder, Zirto, den Gott der Elemente und der Natur, Schutzgott der Elfen. Kastro war der Schutzgott der Orks. Aber da Zirto der ältere Sohn war, stand ihm das Haupterbe Abadakons zu und nicht Kastro. Kastros Gier allerdings war so stark gewesen, dass er Zirto in einen Hinterhalt gelockt und ermordet hatte. Um die Schmach zu vervollständigen, hatte Kastro in Zirtos Blut gebadet und es getrunken. Abadakon hatte sofort eine Maßnahme ergriffen und Kastro aus der Welt der Götter in die Welt der Sterblichen verbannt. Er hatte Kastro seine göttliche Gestalt genommen. Der einst junge, dunkelhaarige Mann mit schulterlangen Haaren, nackten, muskulösen Oberarmen und einer prunkvollen Tunika war nun ein Ungetüm. Er hatte einen plumpen, rotgeschuppten Körper, zwei kräftige, ebenso schuppige Arme, krallenbesetzte, lange Finger, einen langen Hals mit einem großen Kopf darauf, auf dessen Hinterseite zwei kleine Hörner saßen. Sein Gesicht war frei von Schuppen und wies die Gesichtszüge eines Menschen auf, sein Kopf war kahl, er trug keinen Bart. Seine Beine waren plump und seine drei Zehen mit langen Krallen besetzt, die vierte Zehe stand wie bei einem Vogel nach hinten – ebenfalls mit einer langen Kralle als Waffe ausgerüstet. An seinem Rücken liefen scharfe, verschieden hohe Stacheln vom Genick bis zum Ende des Schwanzes entlang, zwischen den Schulterblättern saß der höchste Stachel, der ein Meter zwanzig lang war.
Sein irdischer Körper war dem eines jeden Orks natürlich weit überlegen: Kastro hatte das getrocknete Blut seines Bruders überall auf der Haut. Diese war so hart geworden, dass die Waffe eines Sterblichen sie unmöglich durchdringen konnte. Außerdem hatte er das Blut des Zirto getrunken. Es verlieh ihm die Möglichkeit, körperliche Anstrengungen, bei denen der kräftigste Sterbliche zusammenbrach, ohne Weiteres zu bewältigen. Kastro brauchte keine Nahrung. Das Blut eines Gottes versorgte ihn mit allem, was er brauchte. Wenn er aß, dann nutzte er die Nahrung als Genussmittel, nicht so wie die Orks als Lebensgrundlage.
Kastro bemitleidete die armen Sterblichen ein wenig, die essen und trinken mussten und nur so wenig mit sich und ihrem Leben anstellen konnten. Diese niederen Kreaturen hatten einfach keine Macht. Kastro hingegen hatte Macht. Die Orks verehrten ihn, als er der Schutzgott gewesen war. Seit er der Halbgott war, fürchteten sie ihn. Er hatte sich nach der Verbannung aus der Welt der Götter zu den Orks zurückgezogen, weil er dort am ehesten empfangen wurde – nicht dass Kastro sich um so etwas gekümmert hatte, doch er genoss es, wenn die Sterblichen glaubten, ihm etwas schuldig zu sein. Tatsächlich aber konnte sich Kastro nicht an nur eine Minute erinnern, in der er sich um die Orks gesorgt hatte, in der er nur an die Orks gedacht hatte. Sie dienten nur dem Zweck, nerven- und zeitaufwendige Arbeiten für ihn zu erledigen. Sie fürchteten ihn und taten immer, was er wollte. Kastro hätte die Orks einfach töten können, doch darin sah er keinen Sinn. So sehr er diese bemitleidenswerten, primitiven Kreaturen auch verachtete, sie einfach abzuschlachten, kostete Zeit und war außerdem sinnlos.
Kastro betrachtete das Amulett in seiner großen Hand skeptisch. Dieser Stern erinnerte ihn an Abadakon und an all den Zorn, den er gegen seinen Vater hegte. An dem Tag, an dem er verbannt worden war, hatte Kastro gelernt, seinen Vater zu hassen. Kastro benutzte einen Zauber, der für die Orks unglaublich, für ihn ein Spaziergang war, und ließ die Gravur des Sternes abschwärzen. Das Bronzefarbene verfärbte sich dunkel und wurde schwarz, begann zu dampfen und schließlich war der Stern aus dem Amulett verschwunden. Der Rauch daraus stieg Kastro in die Nase und kratzte im Hals. Er hustete kurz, dann warf er das Amulett zu Boden und stand auf. Er trat darauf und zermalmte es unter seinem enormen Gewicht zu Abertausenden kleinen Krümeln, bevor er das Gelände verließ.
Die Stadt, in der er sich befand, war die größte Orkstadt überhaupt. Erst unter Kastros Leitung hatten diese Kreaturen überhaupt begonnen, befestige Städte mit Mauern und Türmen zu bauen. Sie hatten vor seinem Auftauchen nur eine kleine Siedlung gehabt, die nicht einmal eingezäunt war und aus Lehmhäusern bestand. Kastro hatte sie eine neue Stadt an einer Flussbiegung gründen lassen und nannte diese schlicht Kastros Machtsitz. Um den Orks das Gefühl zu geben, ein bisschen wichtiger zu sein, nannte er sie manchmal auch Kastros Orkmachtsitz. Dass sie nur Mittel zum Zweck waren, wussten die Kreaturen ja nicht. Und selbst wenn sie es gewusst hätten, hätte das nichts an der Situation geändert. Kastro hatte über die Jahrhunderte seines unsterblichen Lebens hinweg die Generationen der Orks zurechterzogen. Er hatte Furcht in ihre Gehirne gefüllt, er hatte sie gelehrt, ihn zu fürchten und zu verehren.
Die kleine Siedlung, die von den Orks gegründet worden war, wurde dann bald zu einer weiteren Stadt ausgebaut, in der Kramus und seine Vor- und Nachfahren ihren Hauptsitz hatten. Kastro nannte sie die Stadt des Orkhäuptlings. Vor seinem Auftauchen hatten die Orks ihr irgendeinen Namen gegeben, den Kastro es aber nicht für wert erachtete, ihn sich zu merken. Orks, die irgendwelche Probleme mit Nachbarn hatten, oder denen etwas gestohlen worden war, gingen zum Orkhäuptling und trugen ihre Bitte dort und nicht bei Kastro vor. Denn wer Kastro mit solch unwichtigen Dingen auf die Nerven ging, verließ den Saal nicht mehr lebend – oder zumindest nicht unverletzt. Obwohl der Orkhäuptling ein offenes Ohr für das Volk hatte, lebte ein Großteil der Orks in Kastros Machtsitz, wo sie sich wegen der Anwesenheit des Halbgottes einfach sicherer fühlten.
Außer der Stadt des Orkhäuptlings und dem Machtsitz gab es noch Sumpforkheim. Diese seichten Gewässer voller Schlamm und Alligatoren warfen für Kastro persönlich nur wenig ab, für die Orks hingegen zahlte es sich aus, dort eine Stadt zu haben. Sumpforkheim lag zwischen den Sümpfen der Verlorenheit und dem Meer, und nirgendwo gab es so viele und große Fische in Küstennähe als in Sumpforkheim. Außerdem, hatte Kastro festgestellt, waren die Orks in Sumpforkheim wesentlich härter gesotten als die hier. Während sich Bewohner des Machtsitzes oder der Stadt des Orkhäuptlings nur mindestens zu zehnt bis nach Sumpforkheim wagten, reisten die Sumpforkheimer alleine zwischen den Städten hin und her. Die Strecke zwischen dem Machtsitz und Sumpforkheim war für Kastro innerhalb weniger Stunden zu bewältigen, während Orks Tage brauchten. Es war hauptsächlich weites Gelände, und außerdem führte der Weg am Friedhof vorbei. Und Friedhöfe waren ein gefährlicher Ort geworden. Unerklärlicherweise standen dort Nacht für Nacht die Toten auf und schienen alle wie ferngesteuert durch die Landschaft zu ziehen, auf der Suche nach Leben, das sie auslöschen konnten, um ihre Zahl zu vergrößern. Oft waren es nur noch fleischlose Knochengerüste, die einem in weiter Pampa entgegengetrottet kamen. Vor allem in der Ausweglosen Wüste, die nördlich vom Machtsitz lag, gab es diese Klappergeister zuhauf. Welche Macht hier am Werk war, war sogar Kastro ein Rätsel. Irgendwelche Priester der Orks hatten die Schuld auf eine neue Gottheit geschoben. Kastro wusste als ehemaliger Gott aber, dass diese Gottheit frei von den Priestern erfunden worden war, um das Volk irgendwie zu beruhigen. Die meisten Untoten fielen sowieso auseinander, wenn man ihnen mit einem Holzpflock eins überzog, hatte Kastro festgestellt, und sie kamen auch nur bei Nacht raus. Tageslicht schien nicht tödlich, aber unangenehm für sie zu sein.
Dank der Untoten konnte Kastro wenigstens testen, ob die Orks in der Lage waren, zu kämpfen. Er hatte Kramus die Vollmacht über den Krieg gegen die Untoten erteilt, um sich selbst nicht damit aufhalten zu müssen und sich seinen Rachepläne gegen Abadakon widmen zu können, denn diese waren sein ureigenstes Ziel, seit er zum Halbgott degradiert worden war.