Читать книгу Blutgeschwister - Thomas Matiszik - Страница 10
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ОглавлениеEs waren noch 3,5 Kilometer bis zum Ziel. Langsam, aber sicher bemerkte Peer, dass er an seine Grenzen kam. Dabei hatte er sich mit voller Absicht bei diesem Lauf angemeldet. Einer der wenigen Halbmarathons, die abends stattfanden. Die Strecke um den Dortmunder Phönix-See war dafür wie gemalt, die hohen Laternen spendeten ein angenehmes Licht. Allerdings hatte das Wetter nicht mitspielen wollen. 25 Grad bei extrem hoher Luftfeuchtigkeit. ‚Ein Hoch auf den Klimawandel‘, dachte Peer, als er plötzlich ein fieses Zwicken in seiner linken Wade spürte. Der Muskel schien nun endgültig zuzumachen. Die wenigen Male, die Peer von einem Wadenkrampf heimgesucht wurde, fanden alle mitten in der Nacht statt. Ein harmloses Drehen im Bett von links nach rechts, dann dieses unaufhaltsame Ziehen, das sich erst zu einem beißenden, dann reißenden Schmerz entwickelte, bis Peer der Schrei förmlich auf den Lippen saß. In solch einem Moment hielt er kurz die Luft an, wartete, bis das schlimmste Reißen überstanden war, um dann wieder langsam auszuatmen und die Wade durch das behutsame Hochziehen des Fußes zu dehnen. Es war eine echte Wohltat, wenn der Schmerz nachließ. Allerdings spürte Peer noch Tage später das Ziehen in der Wade und ging ein wenig unrund. Beim Laufen oder gar in einem Wettkampf war ihm das noch nie passiert. Jetzt aber bahnte sich die Premiere an. Und das, obwohl er sich wirklich vorbildlich auf diesen Halbmarathon vorbereitet hatte. Peer hatte den Vorgaben seines Laufprogramms minutiös Folge geleistet, Läufe mit hoher und geringer Intensität wohl dosiert und kurze Tempoläufe ebenso eingestreut wie Steigungen. Dabei war sein Puls immer im aeroben Bereich geblieben. Kurzum: Er war fit wie seit Jahren nicht mehr und drohte nun dennoch schlappzumachen.
Die Anfeuerungen der Zuschauer an der Strecke nahm er nur noch gedämpft wahr, er versuchte vielmehr, seine Gedanken in andere Bahnen zu lenken. Wenn er jetzt ständig ,Bloß kein Krampf, bloß kein Krampf‘ dachte, würde er schneller schreiend zu Boden gehen, als es ihm lieb war. Es waren keine drei Kilometer mehr. Karl Resslers Gesicht, seine letzte hässliche Fratze, bevor er starb, war das, was Peer nun auf der Strecke hielt. Er hatte seinen bislang härtesten Fall gelöst, warum sollte ein läppischer Wadenkrampf ihn ausgerechnet jetzt aus der Bahn werfen können? Hatte er gerade wieder das Wort ,Wadenkrampf‘ gedacht? Verdammt, schon war dieses unangenehme Ziehen wieder da, nur diesmal wollte es nicht mehr verschwinden. Peer biss die Zähne zusammen, als sein Handy klingelte, das er zur Zeitmessung an seinem linken Oberarm befestigt hatte. Warum er sich für die Titelmelodie aus Die Straßen von San Francisco als Klingelton entschieden hatte, wusste er nicht, in diesem Moment war es ihm allerdings ziemlich peinlich, weil natürlich alle um ihn herum mitbekamen, wie er mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Knie sank, sogleich aber sein Handy aus der Halterung nahm und das Telefonat mit einem „Auahallo“ entgegennahm. „Wer ist da? Was, woher zum Teufel haben Sie meine Nummer?“ Peer saß wie ein begossener Pudel auf dem Boden und beobachtete die unregelmäßigen Zuckungen in seiner linken Wade. Plötzlich musste er lachen. „Kommissar Modrich, sind Sie noch dran? Hallo?“ Modrich hatte Tränen in den Augen, sein Lachanfall wollte und wollte nicht aufhören. Kopfschüttelnd liefen die letzten Läufer an ihm vorbei, selbst die 72-jährige Dame, die als älteste Teilnehmerin bereits vor dem Lauf geehrt worden war. Modrich starrte unentwegt auf seine Wade, die mittlerweile nicht mehr zuckte, sondern wie verrückt kribbelte – der Wadenkrampf schien sich zu verabschieden. Langsam sammelte Peer sich wieder, konnte es aber weiterhin nicht fassen: „Leichner – oder wie Sie auch immer heißen – Sie wagen es, mich kurz vor dem Ziel meines Halbmarathons anzurufen? Wissen Sie, was ich mit Ihnen mache, wenn ich Sie zwischen die Finger kriege? Und wer zum Teufel hat Ihnen meine Handynummer gegeben?“ „Das war Ihr Chef!“, kam es zurück. „Es gibt einen Mord im Musikbusiness. Sagt Ihnen der Name Joe Sanderson etwas?“,Heppner, dieses qualmende Stück Hundescheiße‘, dachte Peer. Es war an der Zeit, diesem Korinthenkacker eine Lektion zu erteilen. „Joe Sanderson? Sagten Sie gerade wirklich Joe Sanderson? Was ist mit ihr?“ „Sie ist das Mordopfer, Kommissar Modrich. Das ist es ja, was ich Ihnen bereits die ganze Zeit erzählen wollte. Sie wurde während eines Auftritts erschossen!“ Modrich versuchte aufzustehen. Der Wadenkrampf hatte allerdings noch nicht ganz aufgegeben, er war sogar zu neuem Leben erwacht. Peer zog sein linkes Bein hinter sich her wie ein Kriegsversehrter und hielt dabei sein Handy an sein vom Schweiß getränktes Ohr. „Joe Sanderson ist tot? In der Westfalenhalle? Also während eines Auftritts? Wow! Gut, ich beeile mich. Rufen Sie bitte noch mal im Dezernat an und verlangen nach Gudrun Faltermayer. Die soll mich doch netterweise in einer halben Stunde zu Hause abholen. Danke!“
Die Blicke der verbliebenen Zuschauer hafteten auf Peer. Alle anderen Teilnehmer hatten wohlbehalten das Ziel erreicht, offenbar wollte man den armen Kerl mit dem Wadenkrampf doch noch dazu ermuntern, die letzten Meter zu überstehen. Rhythmisch fingen die Leute an zu klatschen, im Dunkeln waren sie kaum noch zu sehen. Plötzlich bekam Peer die zweite Luft und lief langsam los. Nach nicht einmal hundert Metern war das flaue Gefühl in der Wade vollends verflogen, sodass Peer dem Ziel zwar als Letzter, aber dennoch glücklich entgegensteuerte. Joe Sanderson war wichtig, diesen Halbmarathon zu beenden war Peer Modrich in diesem Moment jedoch wichtiger.
„Wie siehst du denn schon wieder aus?“ Guddis Blick war zugleich amüsiert und angeekelt. Peer hatte zwar geduscht, die Zeit, sich optisch wieder einigermaßen auf Vordermann zu bringen, hatte er allerdings nicht gehabt. Als er Guddi die Tür öffnete, trug er lediglich eine frische Unterhose und ein Paar graue Socken, die ursprünglich mal weiß waren und aus deren Vorderseite die viel zu langen Nägel von Peers Großzehen herauslugten. „Igitt“, war Guddis spontaner Kommentar beim Anblick ihres Kollegen. „Gib mir bitte zwei Minuten. Muss nur noch frische Klamotten anziehen und die Zähne putzen!“ „Denk vielleicht besser über eine gute Gesichtscreme nach. Du siehst aus wie nach ’nem Schlaganfall … ach ja, und wie lange haben deine Fußnägel keine Schere mehr gesehen?“ „Ich hab dich auch lieb“, schallte es aus dem Badezimmer zurück. „Hast du schon genauere Infos zur Tat?“ Guddi hob die Augenbrauen. Das war wieder so typisch! Vor gerade mal ein paar Minuten war sie über den Mord an Joe Sanderson informiert worden. Wie um alles in der Welt sollte sie bis jetzt neue Erkenntnisse gesammelt haben? Manchmal machte sie sich Sorgen um ihren Kollegen. Sie ertappte sich sogar dabei, dass sie sich den alten, ständig verkaterten und von Morbus Meulengracht zerschundenen Peer Modrich zurückwünschte. Seit er dem Fitnesswahn verfallen war und ihm seine Lauf-App mehr bedeutete als ein feuchtfröhlicher Abend mit seinen Freunden oder Kollegen, war Peer Modrich schon etwas seltsam geworden. Das Sprichwort ‚Mens sana in corpore sano‘ traf auf Peer definitiv nicht zu. Er las Bücher über Low-Carb-Ernährung, stellte sich zweimal täglich auf die Digitalwaage, machte um Gesottenes und Gebratenes einen Riesenbogen und hörte plötzlich Musik von Element of Crime und Rio Reiser. Was war da los?
„Und? Hast du oder hast du nicht?“ Peer tänzelte die Treppe hinunter, in der rechten Hand seine Sneaker, in der linken einen Kamm, mit dem er sich unbeholfen die frisch geföhnten Haare frisierte. „Wenn du mich fragst, wird die Suche nach dem Täter extrem langwierig sein. Ich kenne allein in meinem Bekanntenkreis mindestens ein halbes Dutzend Leute, die Joe Sanderson die Trennung von Crusade nie verziehen haben und ihr die Beulenpest an den Leib wünschten. Und unter uns: So gut sie bei Crusade war, so belanglos sind ihre Songs seit Beginn ihrer Solokarriere geworden. Oder was meinst du?“ „Lass uns bitte im Auto weiterquatschen, Peer“, entgegnete Guddi etwas gequält, „die Kollegen von der Spurensicherung sind bereits in der Halle, alle warten nur noch auf uns. Und nein: Es gibt bislang noch keine neuen Erkenntnisse. Der Täter scheint nach dem tödlichen Schuss in der Menschenmenge aufgegangen zu sein und die Panik ausgenutzt zu haben, um das Weite zu suchen. Liegt ja auch nahe.“