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Kruschek hatte Guddi einen Kaffee gebracht. Es würde eine lange Nacht werden, darüber waren sie sich, ohne viele Worte zu verlieren, einig. Die Zeugin schwieg immer noch beharrlich. Fast eine Stunde war vergangen, seitdem die Sanitäter Peer mit seinem lädierten Kiefer weggebracht hatten. Seither schien es so, als sei die Zeugin in eine Art Trance gefallen. Fast regungslos saß sie auf dem Plastikstuhl im Büro des Pförtners, wiegte ihren Kopf kontinuierlich hin und her und starrte mit offenem Mund den Linoleumboden an. Die Neonröhren an der Decke des Büros summten monoton. Guddi nahm an, dass der Zusammenprall mit Peers Eisenschädel die Zeugin benommen gemacht hatte und es eine Weile dauern würde, bis sie mit der Vernehmung würde fortfahren können. Nun aber verlor sie langsam die Geduld. Sie hatte ihr etwas zu trinken, einen Müsliriegel und ein Kühlpäckchen gebracht, nichts davon hatte sie angerührt. Guddi hatte leise und bedächtig auf sie eingeredet. Sie solle sich erst einmal entspannen, die Schwellung am Kopf mit Eis kühlen und ihr dann signalisieren, wenn Guddi mit der Befragung fortfahren könnte. Nichts. Keine Reaktion. Zumindest ihre Identität konnte Kruschek klären. Die Dame hieß Stefanie Mellinger, war 28 Jahre alt und seit drei Jahren in Wuppertal-Oberbarmen gemeldet. Keinerlei Einträge im zentralen Polizeiregister. Es war nicht gerade viel, was sie über die vermeintlich wichtigste Zeugin in diesem spektakulären Mordfall wussten, aber Guddi war nach wie vor guter Dinge, etwas aus der Frau herauszuholen.

„Stefanie Mellinger … das ist doch Ihr Name, oder?“ Guddi hockte sich vor die Zeugin und versuchte, ihren leeren Blick einzufangen. Einen Wimpernschlag lang hatte sie das Gefühl, dass Mellinger ihren Blick erwiderte, doch dann verlor sie sich wieder im Linoleumboden des Pförtnerbüros. Guddi seufzte und nahm einen tiefen Schluck aus dem Kaffeebecher. Die Plörre schmeckte schlimmer als das, was man ihnen seit Jahren auf dem Revier zumutete. Vor knapp zwei Wochen erst hatte Heppner dem Antrag des gesamten Reviers endlich stattgegeben, einen Kaffeevollautomaten zu besorgen, es konnte also nur noch ein paar Tage dauern, bis sie und Modrich endlich etwas während der Arbeit trinken konnten, das den Begriff „Kaffee“ wirklich verdient hatte. Gut, bei Modrich würde das jetzt noch etwas dauern, und Kaffee aus einer Schnabeltasse war dann vermutlich doch nicht das, was er sich unter einem gelungenen Start in den Arbeitstag vorstellte.

Sie ertappte sich dabei, zu lächeln, als die Zeugin leise vor sich hin summte: „He came into my life, when darkness was surrounding me. He brought me back to life, the day he left will never be forgotten … never be forgotten!“ ,Was zum Teufel‘ – diese drei Worte standen Kruschek auf die Stirn geschrieben. „Jetzt ist sie völlig durchgeknallt“, bemerkte er, doch Guddi hielt den Zeigefinger an ihre Lippen und bedeutete ihm zu schweigen. „We were children of the night, building bridges of love and hate, we were children of the night, building castles full of fate“. Gerade als Kruschek wieder ansetzen wollte, frohlockte Guddi: „Das sind Textzeilen aus Children of the night, eine der ersten Singles von Joe Sanderson. Das war nicht ihr erfolgreichster Song, aber eigentlich der einzige, den die Musikpresse unisono und über den grünen Klee hinweg lobte. Viele ahnten damals schon, dass der Song nicht aus Joes Feder stammen konnte … na ja, und wenige Monate später kam heraus, dass Joe einen alten, unveröffentlichten Song von Crusade zu ihrem eigenen gemacht hatte. Ein bisschen daran herumproduziert, ein paar Zeilen umgeschrieben und zack: Fertig war der nächste Hit. Joe Sanderson war wohl kurz nach dem Selbstmord von Daniel LaBoitte noch mal in dessen Penthouse in der Kensington High Street in London gewesen und hatte dort eine ganze Reihe unbekannter Songs und Songfragmente gefunden und an sich genommen. Tja, das war der Moment, als Joe Sanderson ihren guten Ruf als Künstlerin vollends zerstörte und von der Musikpresse fortan nur noch verrissen wurde. Die Fans aber …“

„Die Fans liebten sie, nicht wahr?“ Na bitte, wer sagt’s denn? Stefanie Mellinger taute weiter auf. Kruschek hatte mittlerweile mehr Fragezeichen über dem Kopf als Haare auf demselben, aber Guddi setzte ihren Weg zum Innern des Fankerns unbeirrt fort. „Genauso war es, Frau Mellinger. Oder darf ich Stefanie zu Ihnen sagen?“ Guddi reichte der Zeugin die Hand. „Mein Name ist Gudrun Faltermeyer, aber alle, die mich kennen, nennen mich Guddi. Das dürfen Sie natürlich auch. Wissen Sie, auch ich bin ein großer Fan von Joe Sanderson. Ich möchte genau wie Sie herausfinden, wer Joe Sanderson umgebracht hat. Und Sie sind im Moment der einzige Mensch, der uns dabei helfen kann. Sie haben den Täter gesehen, richtig? Richtig?“

Stille. Stefanie Mellingers Geist schien abermals den Raum verlassen zu haben. Ihr Körper begann hin- und herzuwiegen, der Blick war wieder starr und ausdruckslos geworden. Guddi stand verzweifelt auf, atmete tief durch und gab Kruschek mittels einer eindeutigen Geste zu verstehen, dass sie mal zur Toilette musste. Als Guddi im Türrahmen des Pförtnerbüros stand und die Tür dabei war, hinter ihr zuzufallen, durchbrach ein hoher markerschütternder Schrei die Stille. Guddi kehrte auf dem Absatz um und ins Büro des Pförtners zurück, wo Kruschek über der Zeugin stand, die auf dem Boden lag und wie besessen um sich trat. Der Schrei hatte den gesamten Korridor der Backstage-Area durchflutet, und kurze Zeit später standen mehrere Mitarbeiter der Halle vor dem Pförtnerbüro und wollten wissen, was die zwei Polizisten mit der Zeugin anstellten. Die beiden Beamten, die Guddi zu ihrer Sicherheit auf dem Flur platziert hatte, schafften es mit letzter Kraft, die neugierigen Gaffer zurückzuschicken. „Kruschek, was ist passiert? Was haben Sie mit ihr gemacht?“ „Ich? Gar nichts. Aber als Sie gerade das Büro verließen, sagte die Dame hier so etwas wie ‚Heil dem Erlöser‘ und fing dann an zu schreien, als ziehe man ihr die Fingernägel einzeln heraus. Wenn Sie mich fragen, gehört die Dame in die Klapse.“ „Hat sie das wirklich so gesagt? Sind Sie da ganz sicher? Was zum Geier soll das bedeuten? Oder haben wir es hier mit einer fanatischen Spinnerin zu tun?“

Blutgeschwister

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