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Die endlosen Weiten der Danakil-Wüste lagen vor ihr. Joe Sanderson blickte voller Ehrfurcht in Richtung Horizont, wo langsam die Sonne glutrot unterging. Die letzten Monate waren hart, aber sie hatte es geschafft. ‚Queen of Kath‘ wurde sie überall genannt. Ihr Ruf hatte sich in jeder Bevölkerungsschicht des armen Landes durchgesetzt und dafür gesorgt, dass man in Äthiopien vor kaum jemandem größeren Respekt hatte als vor Joe Sanderson. Ein fein verästeltes Netzwerk aus Informanten, geschmierten Politikern und Industriellen, die alle ein großes Stück vom Kath-Kuchen abbekamen. Joe wusste, wie sie ihre Kunden und ihre Hintermänner bei Laune halten musste. Darüber hinaus hatte Joe sie alle in der Hand: Ihre Sucht nach Kath war größer als die Angst, von der Justiz des Landes entdeckt zu werden. Und selbst dort hatte Joe an den entscheidenden Stellen ihre Verbündeten.

Leicht angewidert beobachtete sie, wie Senait, ihr Fahrer, eine weitere Portion Kath in den Mund warf und eifrig begann, darauf herumzukauen. „Schmeckt’s?“ Senait hob den Daumen und grinste zufrieden. Joe musste ein Lachen unterdrücken. Wie einfach in diesem Land doch alles war. Die Einheimischen waren extrem leicht beeinflussbar und unfassbar naiv. Eigentlich schade, dass sie ihre Karriere als Popstar nicht längst ad acta gelegt hatte. Hier in Ogolcho gab es keinerlei Probleme. Obwohl: Das mit dem Mädchen stellte sich immer deutlicher als eines dar. Die Kleine war süß, konnte Dinge im Bett, die kein Mann drauf hatte. Aber mit Kath kam sie leider nicht klar. Es war tragisch.

Sechs Wochen später, gegen Endes eines ungewöhnlich kalten und verregneten Wonnemonats Mai, machte Joe Sanderson die letzten Gesangs-Warm-ups. Noch dreißig Minuten bis zum Auftritt. Joe zog sich in ihre Garderobe zurück und legte los. Sie holte tief Luft und ließ diese langsam und kontrolliert wieder durch ihre leicht zusammengepressten Lippen ausströmen. Dabei entwich ihr ein sehr hoher Ton, den sie im Verlauf der Übung immer tiefer werden ließ. Das Ganze klang ein wenig wie eine Sirene, der man langsam den Saft abdrehte. Joe kam sich dabei immer noch ziemlich dämlich vor, sie wusste aber, dass ihre Stimme es ihr danken würde, wenn sie gleich zum Finale ihrer umjubelten Comeback-Tour auf die Bühne gehen würde. Das Programm ihres Abschlusskonzerts hatte es in sich: Zweieinhalb Stunden Vollgas würden sie und ihre Band geben, niemand sollte ihr jemals nachsagen können, sie hätte nicht alles aus sich herausgeholt. Joe Sanderson war nach der Trennung von ihrer Stammband zweifellos auf einem neuen Höhepunkt ihrer Karriere angelangt. Viele, und davon wusste Joe natürlich, gönnten ihr diesen Erfolg nicht. Für die Fans von früher war der Erfolg von Joe Sanderson unweigerlich mit ihrer Band Crusade verknüpft. Allen voran Gitarrist Daniel LaBoitte hatte, so die landläufige Meinung, maßgeblichen Anteil daran, dass Crusade innerhalb von fünfeinhalb Jahren vom Geheimtipp aus der irischen Provinz zum europaweiten Megaseller geworden war. Drei Studioalben und eine Live-DVD hatten Crusade in dieser Zeit herausgebracht, mehr als sechs Millionen Exemplare hatten sie allein vom zweiten Album Weekends verkauft. Die Singles der Band, vor allem Risky Business, liefen in den Radios Europas rauf und runter. Es gab wenige Anzeichen dafür, dass diese Band jemals auseinandergehen sollte. Immerhin waren sie schon Jahre vor ihrem Durchbruch zusammen und hatten viele magere Zeiten erlebt. So etwas schweißt gemeinhin zusammen.

Ende 2013, beim Abschlusskonzert ihrer Europatournee in Dublin, platzte dann die Bombe: Joe Sanderson verlässt Crusade, um sich ihrer Solokarriere zu widmen! Die Bekanntgabe vollzog Joe nur 45 Minuten nach der letzten Zugabe in einer eigens anberaumten Pressekonferenz in den Katakomben der Dubliner Arena. Niemand, nicht einmal ihre Band, ahnte etwas, als Joe Sanderson sich in kurzen, sehr emotionslosen Sätzen von Crusade verabschiedete und ihren Fans für die Treue dankte, die, so hoffte sie, auch für die Zeit danach anhalten möge. Daniel LaBoitte musste von zwei Security-Helfern zurückgehalten werden, um nicht auf Joe loszugehen und sie windelweich zu schlagen. „Du dämliche Bitch, was fällt dir überhaupt ein? Häh? Wenn ich dich erwische, prügle ich dir das Hirn aus dem Schädel und wisch damit den Boden vor dem Puff, in dem du früher gearbeitet hast!“

In dieser Nacht trank Daniel LaBoitte sich buchstäblich ins Jenseits. Die Ärzte, die herbeigerufen wurden, konnten nichts mehr für ihn tun. Seine letzte Mahlzeit waren drei Flaschen Wodka und zwei Dutzend Schmerztabletten. Bei seiner Beerdigung hielten Fans Transparente hoch, auf denen „May she rot in hell“ und ähnliche Nettigkeiten standen.

Joe Sanderson hatte sich ein halbes Jahr zurückgezogen. Sie lebte abgeschirmt von der Außenwelt, quasi wie in einem Zeugenschutzprogramm, in einem kleinen Ort im Hochschwarzwald, wo sie definitiv niemand vermutete. Sie genoss die Ruhe und Abgeschiedenheit und die abendlichen Spaziergänge entlang der Dreisam. Sie verzichtete komplett auf jedwede Motorisierung, sondern legte sämtliche Strecken entweder zu Fuß oder mit dem Mountainbike zurück. Wenn sie dann abends in die Idylle von Hofsgrund, ihrem Refugium, zurückkehrte, bekam sie regelrechte Kreativitätsschübe. Innerhalb von nur wenigen Tagen schrieb sie alle zwölf Songs ihres ersten Soloalbums. Die benachbarte Scheune hatte ein Freund für sie in ein kleines, aber feines Homestudio umgebaut, wo Joe die neuen Songs direkt in ein Soundgewand kleiden konnte.

Seit frühester Jugend beherrschte sie sieben Instrumente, das mit der Singerei hatte sie erst mit Anfang zwanzig begonnen, obwohl es Joe niemals danach gelüstete, im Rampenlicht zu stehen. Als ihre Mutter damals jedoch zum ersten Mal ihre Gesangsstimme hörte, war das Rampenlicht nur noch eine Frage der Zeit. Rita Sanderson kaufte zwei Flugtickets nach London und schleifte ihre Tochter in die Zentrale von New Horizons, einer der größten Konzertagenturen weltweit. Mit Harry Lamar, dem mittlerweile greisen Chef, hatte Rita vor über 25 Jahren mal einen One-Night-Stand nach einem Gig von The Who. Rita wollte unbedingt Roger Daltrey kennenlernen, landete über Umwege bei Harry, der ihr allerhand versprach, nichts davon hielt, sie aber zur Belohnung trotzdem abfüllte und mit ins Hotel nahm.

Die Zeit war gekommen, dass Harry ihr den Blowjob von damals endlich bezahlte. Und obwohl Harry Lamar an diesem Tag deutlich Wichtigeres zu tun hatte, als einem vermeintlich talentierten irischen Mädchen beim Singen zuzuhören, ließ er Rita und Joe nicht lange warten und bat sie in sein Büro. „Rita, weißt du eigentlich, wie sehr ich dich seit jener Nacht begehre …?“ Rita knuffte Harry kräftig in die Seite, sodass sein letztes Wort nur geröchelt daherkam. Sie zog ihn sanft, aber bestimmt zu sich und flüsterte in sein Ohr: „Harry, ich bin nicht hier, um mit dir über unser Schäferstündchen zu sprechen, alles klar? Meine Tochter wird dir jetzt was vorsingen, und ich möchte, dass du ihr zuhörst. Comprende?“ Harry nickte behäbig und ließ sich in seinen Sessel plumpsen. Joe nahm die Akustikgitarre, die in Harrys Büro in der Ecke stand, stimmte sie kurz und legte los. Keine fünf Minuten später hatte Harry Lamar bereits die erste Europatour von Joe Sanderson im Kopf geroutet. „Joe, mein Kind, du bist wirklich gesegnet, weißt du das? Ich mache den Job jetzt über vierzig Jahre und war bereits ein paar Mal kurz davor, die Brocken hinzuschmeißen und dem Business den Rücken zu kehren.“ Harrys Augen begannen zu glänzen. „Es gibt jedoch immer wieder Momente wie diesen hier und besondere Menschen, die mich umstimmen, die mir zeigen, wie besonders und erfüllend mein Leben als Konzertagent immer noch ist. Du wirst die Welt im Sturm erobern. Deine Stimme und deine Ausstrahlung sind einfach magisch. Lass mich dir bei deinem Weg an die Spitze des Rockolymps helfen. Mit mir wirst du ihn schneller erreichen als mit allen anderen, das verspreche ich dir!“

Joe sah Harry etwas hämisch an: „Aber ohne dich wird’s auch gehen, richtig?“ „Ja, schon“, entgegnete Harry zögerlich, „aber du bist zu unerfahren, um …“ „Genug gehört, genug gesehen. Mum, Harry, nicht böse sein, aber ich will meinen eigenen Weg gehen. Danke, dass ihr mir zugehört habt!“ Sie verließ das Büro von Harry Lamar, ohne sich noch einmal umzudrehen. Das hysterische Geschrei Ritas war bis auf die Oxford Street zu hören, aber es half nichts: Von nun an sollte Joe Sanderson ihr Leben und ihre Karriere selbst in die Hand nehmen.

Als allerletzte Zugabe durfte natürlich Risky Business nicht fehlen. Bereits bei den ersten Akkorden rastete die Menge in der ausverkauften Dortmunder Westfalenhalle total aus. Dort standen tatsächlich 12.000 Menschen, die Joe die unerwartete Trennung von Crusade verziehen hatten. In Berlin, München und Hamburg war das ganz ähnlich abgelaufen. Vereinzelte Transparente waren dennoch zu sehen, auf denen ein paar Hardcore-Fans von Crusade ihr ein unheilbares Krebsgeschwür wünschten, aber damit war zu rechnen, damit kam sie klar.

Nun schwebte sie im siebten Himmel, ihre Euphorie kannte keine Grenzen. Joe Sanderson hatte es allen Unkenrufen zum Trotz geschafft, ihr eigenes musikalisches Ding durchzuziehen, also anders zu klingen und trotzdem den Großteil der Crusade-Fans bei der Stange zu halten. Nach dem letzten Chorus ließ ihre Band noch einmal alles raus, weiß-blauer Nebel waberte über den Bühnenboden, der Lichttechniker zauberte LED-Blitze im Sekundentakt, die letzten Pyros wurden gezündet, einfach alles schien in Ekstase zu versinken.

Nur einen Wimpernschlag später lag Joe Sanderson leblos vor dem Drumpodest, aus ihrer Kehle rann das Blut flutartig auf den Bühnenboden. Die uneingeschränkte Verzückung wich blanker Panik, sowohl das Publikum, aber auch die Band wussten für einen kurzen Moment nicht, ob das, was sie da sahen, real war. Mike Martin, Joes neuer Drummer, schoss hinter seinem Podest hervor und beugte sich als Erster zu Joe Sanderson herunter. Als er wieder aufsah, stand der pure Schock in seinen Augen. Der Videobeamer übertrug diesen Gesichtsausdruck auf die Großleinwände links und rechts von der Bühne, im nächsten Moment kreischten 12.000 Menschen ohrenbetäubend. Die herbeieilenden Sanitäter konnten für Joe nichts mehr tun. Eine 9mm-Kugel hatte ihre Halsschlagader sauber durchtrennt, innerhalb weniger Sekunden war sie einfach verblutet. Sie wurde in eine Decke gehüllt und auf einer Trage hinter die Bühne geschafft. Die verzweifelten Wiederbelebungsmaßnahmen der Sanitäter mussten nach knapp drei Minuten eingestellt werden, Joe hörte einfach nicht auf zu bluten.

In der Halle waren circa zwei Dutzend Fans kollabiert, außerdem gab es Unzählige, die nicht aufhören konnten zu schreien. Die Hysterie war greifbar, der Veranstalter musste mehr Sanitätspersonal und Ärzte aus den umliegenden Kliniken rufen, damit die betroffenen Menschen behandelt werden konnten und die Panik nicht weiter um sich griff. Noch verstand niemand, was eigentlich genau passiert war. Niemand hatte einen Schuss gehört, nur die Musiker und Leute hinter der Bühne wussten um den Zustand von Joe. Das Publikum hatte bloß mitbekommen, dass sie gestürzt und von der Bühne getragen worden war. Einige drängten deshalb nach vorn zum Bühnenrand und riefen nach ihr. Nur mit Mühe konnte die Security verhindern, dass sie backstage gelangten. Es war ein einziges Chaos, das sich draußen vor der Halle fortsetzte, weil viele Fans völlig aufgelöst davonliefen und es nicht einmal mitbekamen, wenn sie eine Straße überquerten.

Die junge Frau, die den ersten Notruf bei der Polizei absetzte, stand unter Schock und brachte lediglich gestammelte Sätze heraus. Dass jedoch irgendetwas höchst Dramatisches passiert sein musste, war nicht zu verleugnen. Etwa fünfzehn Minuten später trafen die ersten Streifenwagen an der Halle ein. Ein Absperren des Tatorts war mehr als schwierig, weil immer noch zahllose Fans vor und teilweise auch auf der Bühne lagen und ihrer Trauer freien Lauf ließen.

„Wer ist denn heute hier aufgetreten? Michael Jackson?“ Polizeiobermeister Kai Leitner zuckte hilflos mit den Schultern, wusste er doch wirklich überhaupt nicht, wo er anfangen sollte. „Lass uns bitte schnell die Bühne absperren und den Leichnam inspizieren“, schlug Lars Kruschek, sein Kollege und Vorgesetzter, vor. „Jetzt bloß keine Fehler machen. Wenn ein Promi umkommt, zerreißt die Pressemeute doch immer als Erstes die Sicherheitskräfte, die den Tod nicht verhindern konnten. Fakten zählen da wenig bis nichts. Wenn es sich um ein Gewaltverbrechen handelt, rufen wir sofort die Kollegen von der Mordkommission, das ist ’ne Nummer zu groß für uns! Und jetzt komm mit, hilf mir und versuch, so wenig Schaden wie möglich anzurichten!“ Leitner unterdrückte ein Gähnen und stapfte seinem Kollegen hinterher.

Man hatte Joe Sanderson in ihrer Garderobe auf eine Couch gelegt und mit einem Laken bedeckt. Ihr Gesicht war weiß wie die Wand, so viel Blut hatte sie innerhalb kürzester Zeit verloren. Kruschek zog nur kurz das Laken zur Seite, betrachtete die Schusswunde unter dem linken Ohr der Sängerin und gab seinem Kollegen zu verstehen, dass hier nun schnellstens die Mordkommission gerufen werden musste. „Frag bitte direkt nach Kommissar Modrich. Peer Modrich. Der Typ ist wirklich gut, ein bisschen durchgeknallt, aber ein brillanter Kriminalist. Wenn du den nicht bekommst, brauchen wir zumindest seine Partnerin hier, Gudrun Faltermeyer. Und jetzt gib Gas, ich halte hier solange die Stellung.“

Kruschek wischte sich mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Er war langsam echt zu alt für den Scheiß. Noch knapp achtzehn Monate, dann würde er in Pension gehen und mit seiner Frau und seinem Hund nach Norwegen ziehen. Sehnsüchtig blickte er aus dem schmalen Fenster.

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