Читать книгу Blutgeschwister - Thomas Matiszik - Страница 16
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Оглавление„Da hat aber einer den Mund besonders voll genommen, was?“ Der Arzt, der Peer untersuchte, war nicht älter als Ende zwanzig, hatte den Namen irgendeiner Olivia auf seinen Unterarm tätowiert und roch aus dem Mund nach Salmiak. Während sich Modrich noch fragte, warum Dr. Jens Oemmler das gesagt hatte und wieso es ihm immer noch eimerweise aus dem Mund tropfte, hatte der Doc sich hinter ihm aufgebaut und seine Daumen auf die Kauflächen seines Unterkiefers gelegt. Dann ging alles sehr schnell: ein kurzer Ruck, ein trockenes Knacken, ein stechender Schmerz, der sich Gott sei Dank in Luft auflöste, bevor er unerträglich wurde. Dr. Oemmler stellte sich nun vor Peer und richtete den Kiefer zurecht, bis alles ineinander passte. „So, jetzt müsste es wieder stimmen. Versuchen Sie bitte mal, den Mund zu schließen.“ Unter gewaltiger Kraftanstrengung schaffte es Modrich, den Mund nicht nur zu schließen, sondern auch geschlossen zu halten. Keine Sabbereien mehr, es tat zwar noch höllisch weh, aber Peer hatte das Gefühl, dass sich das geben würde, je öfter er wieder normale Kaubewegungen machen würde. „Sie hatten wirklich großes Glück“, betonte Dr. Oemmler, „es hat nicht viel gefehlt und Ihr Kiefer wäre gebrochen gewesen. Dann hätten Sie mit mehreren Wochen Rekonvaleszenz rechnen müssen. Er war aber nur ausgerenkt. Passiert immer dann, wenn man häufig gähnt und den Mund dabei zu weit aufsperrt. Oder haben Sie heute in einen besonders großen Apfel gebissen?“ Modrich traute sich immer noch nicht zu sprechen. Die Blöße, wie ein willenloser Greis sabbernd vor sich hinzubrabbeln, wollte er sich nicht noch mal geben. Und so zuckte er vielsagend nichtssagend mit den Schultern, gab dem Arzt die Hand und verließ den Behandlungsraum. „Warten Sie“, rief Oemmler ihm hinterher, „nehmen Sie die hier. Sie werden sicherlich noch ein paar Tage Probleme beim Essen oder bei der Zahnpflege haben. Und falls Sie an Sex denken: Überspringen Sie die Knutscherei. Zungenküsse sind in Ihrer Verfassung besonders schmerzhaft!“ Er zwinkerte Peer zu. Modrich warf einen Blick auf die Verpackung und musste schmunzeln: Wenn der wüsste, wie viele Brüder und Schwestern von den kleinen Ibu-800ern bei ihm zu Hause im Badezimmerschrank als Notration lagen.
Den letzten Meulengracht’schen Hangover hatte Peer, nachdem sie Karl Ressler zur Strecke gebracht hatten. Er war mit Guddi und Meike Ressler aufs Übelste versackt. Danach ging es ihm drei Tage hundsmiserabel und er schwor sich, sein Leben umzukrempeln: kein Alkohol, keine Zigaretten mehr. Er stellte seine Ernährung um. Fleisch aß er nur noch sonntags, den Rest der Woche nahm er vegane Kost zu sich. Seine Fitness war besser als zu Jugendzeiten, Peer sah vitaler aus denn je, was ihn für die Krone der Schöpfung umso begehrenswerter machte. Aber auch in diesem Punkt hatte Peer Modrich eine Wandlung vollzogen. Waren es früher noch viel zu junge One-Night-Stands, die er zu Balladen von Bon Jovi oder Bryan Adams in die Kiste bekam, so hielt er es heute sagenhafte drei Monate mit ein und derselben Frau aus. Zuletzt war es eine Architektin aus Lünen, die er auf einem Konzert von Element Of Crime kennengelernt hatte. Sie hatten fast eine Woche über Gott und die Welt geredet, bis sie zum ersten Mal Sex hatten. Schnell stellte sich heraus, dass Melanie, so hieß die Architektin, seit fünf Jahren auf dem Trockenen gesessen hatte und mit Peer in kürzester Zeit alles nachholen wollte. Knappe drei Monate später beendete Peer Modrich zum allerersten Mal in seinem Leben eine Beziehung, weil er körperlich am Ende war. Mehr Sex ging nicht. Beim besten Willen. Sie kam schneller als ein Düsenjet, aber irgendwann braucht selbst der größte Don Juan eine kreative Pause. Melanie aber wollte eine Pause nicht akzeptieren und ließ sich immer neue Experimente einfallen. Zuletzt hatte sie zwei ihrer besten Freundinnen als Zückerchen mitgebracht. Am Morgen danach zeigte Peers Waage nur noch 68 Kilo an. Da wurde ihm klar, dass es Zeit war, diese Tortur zu beenden, auch wenn sein omnipotentes Alter Ego ihn einen Schwächling und Versager schimpfte. Es ging einfach nicht mehr. Melanie versuchte alles, um Peer von seinem Entschluss abzubringen. Noch Wochen nach der letzten Nacht mit ihr schickte sie ihm Päckchen mit Reizwäsche, Dildos und Massageölen. Zuletzt waren es getragene Strings, die Melanie Peer in ihrer Hochphase nur zu gerne um den Kopf gewickelt hatte. Und als er dachte, er hätte alles überstanden, lauerte Melanie ihm an seiner Laufstrecke auf. Natürlich wusste sie, wann und wo er regelmäßig joggte. In dem Waldstück war kurz vor der Dämmerung wenig bis nichts los, was Melanie dazu verleitet hatte, in die bedingungslose Offensive zu gehen. Bei Kilometer 16 sprang sie urplötzlich hinter einem Baum hervor, riss Peer zu Boden und ihm sogleich die Laufkleidung vom Leib. Sie selber trug nichts außer Hotpants und einer durchsichtigen Bluse. Peers Puls stockte, als Melanie Handschellen unter ihrer Bluse hervorzauberte. ,Jetzt ist sie völlig durchgeknallt‘, dachte Peer, als sie sein bestes Stück unsanft aus der Laufhose wurschteln wollte. Er stieß sie mit aller Kraft von sich und versetzte ihr noch einen kräftigen Tritt in den entblößten Hintern. Melanie heulte wie ein kleines Kind, dem man sein Lieblingsspielzeug weggenommen hatte. Und obwohl Peer kurz darüber nachdachte, die Arme zu trösten – immerhin hatte er mit ihr mehr Orgasmen gehabt als mit allen anderen Frauen zuvor – ließ er Melanie liegen und lief seinen Halbmarathon zu Ende.
„Was für eine blöde Kuh“, hörte er sich plötzlich sagen. Hocherfreut stellte er fest, dass er weder sabberte noch großartige Schmerzen verspürte. Ein leichtes Zischen begleitete seine Worte, ansonsten war er wieder der Alte. Es war Zeit, sich dem aktuellen Fall zu widmen. Immerhin musste ein flüchtiger Attentäter dingfest gemacht werden. Zu Hause angekommen duschte er schnell, zog sich um und machte sich auf den Weg ins Präsidium.