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III. Ausdrückliche und versteckte Kollisionsnormen

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1. Versteckte Kollisionsnormen sind in anderen Normen verborgene, implizite kollisionsrechtliche Regeln. Sie sind nicht zu verwechseln mit den lediglich ungeschriebenen, gewohnheits- oder richterrechtlichen Kollisionsnormen, die zwar nicht ausdrücklich im Gesetz stehen, aber als ausdrücklich formulierte Verweisung außerhalb des Gesetzes existieren. Ausdrückliche Kollisionsnormen als Gegenbegriff zu den versteckten, umfassen also die Gesamtheit der gesetzlichen, richter- oder gewohnheitsrechtlichen Kollisionsnormen.

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2. Der wichtigste Fall ist die Annahme einer in Zuständigkeitsbestimmungen versteckten Kollisionsnorm, insbesondere im Fall der sog versteckten Rückverweisung (hidden renvoi) aus US-amerikanischem Recht. Da verbreitet die Zuständigkeit eines amerikanischen Gerichts (jurisdiction) zur Anwendung der lex fori führt und die Zuständigkeitsregeln darauf zugeschnitten sind, einen Inlandsbezug zu gewährleisten, lässt sich die Zuständigkeitsregel aus deutscher Sicht als eine Rechtsanwendungsregel interpretieren, ohne dass aus amerikanischer Sicht ursprünglich ein kollisionsrechtliches Bewusstsein hinter dieser Regel stünde.

Bedeutung hatte diese Figur vor allem für das Scheidungsstatut unter Art. 17 Abs. 1 aF bei Verweisung in das Recht eines US-Bundesstaates: Gerichte sind dort für die Scheidung einer Ehe zuständig, wenn ein Ehegatte seit einer gesetzlich bestimmten Zeit (häufig sechs Monate) dort domicile, häufig auch nur residence hat. Hieraus lässt sich eine Kollisionsnorm entwickeln, die besagt, dass das Recht dieses Bundesstaates auf eine Scheidung anwendbar ist, wenn einer der Ehegatten dort für diese Zeit sein domicile bzw residence hat. Verallseitigt man diese Norm („auf die Scheidung ist das Recht des Staates anwendbar, in dem ein Ehegatte seit mindestens … sein domicile [residence] hat)“, so kann sich für den deutschen Richter, der das IPR dieses Bundesstaates im Rahmen des Art. 4 Abs. 1 S. 1 prüft, daraus zB eine Rückverweisung auf deutsches Recht ergeben. Die Konstruktion entspricht herrschender Meinung, erscheint aber gewagt; amerikanische Juristen sind erstaunt zu hören, was der deutsche Kollisionsrechtler in ihren Zuständigkeitsregeln verborgen findet. Unter der Rom III-VO entfällt die Problematik, weil deren Verweisungen keine Gesamtverweisung sind und deshalb das ausländische IPR nicht interessiert.

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3. Oft werden auch in selbstbegrenzten Sachnormen verborgene Kollisionsnormen vermutet. Es geht hier um Bestimmungen, die ohne Rücksicht auf das von der allseitigen Kollisionsnorm berufene Recht auf bestimmte Sachverhalte, häufig mit Inlandsbezug, jedenfalls angewendet sein wollen. Das impliziert in dem Sinn eine Kollisionsnorm, dass für Zwecke der Anwendung der konkreten materiellen Bestimmung die allgemeine Verweisung außer Kraft gesetzt wird. Zwangloser lässt sich eine solche Regelung aber auch als dem IPR vorgelagertes zwingendes Sachrecht verstehen, das seinen begrenzten Anwendungsbereich selbst beschreibt. Man kann insoweit von ausdrücklichen Bestimmungen des deutschen ordre public sprechen, die selbst beschreiben, wann der für ihre Anwendung erforderliche Inlandsbezug besteht.

Nach § 244 BGB können Fremdwährungsschulden mangels ausdrücklicher anderer Abrede im Inland in EUR erfüllt werden. Da dies unabhängig von dem auf das zugrundeliegende Schuldverhältnis anwendbaren Recht (Schuldstatut) und für im gesamten Euro-Raum erfüllbare[2] Geldschulden gelten soll, obgleich § 244 BGB an sich systematisch dem deutschen Schuldrecht zuzuordnen wäre, kann man in § 244 BGB eine Kollisionsnorm hineinlesen, die implizit sagt, für Zwecke des § 244 BGB sei jedenfalls deutsches Recht anzuwenden. Weniger gekünstelt erscheint es, § 244 BGB als Ausnahmenorm mit Vorrang vor dem Schuldstatut einzuordnen.

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Selbstbegrenzte Sachnormen können auch im EGBGB angeordnet sein. Auch wenn dies systematisch nicht der richtige Platz für materielle Bestimmungen ist, hat der Gesetzgeber richtig erkannt, dass der Rechtsanwender solche Normen übersehen könnte, wenn er durch das IPR in ein ausländisches Statut geführt wird und deshalb die deutschen materiellen Regelungen nicht anwenden zu müssen glaubt.

Das Verbot der außergerichtlichen Scheidung einer Ehe findet sich sogar zweifach im Gesetz. Schon vor Inkrafttreten der IPR-Reform von 1986 bestimmte § 1564 S. 1 BGB, dass eine Ehe nur durch gerichtliches Urteil geschieden werden kann. Der BGH[3] verstand dies schon damals als eine Norm, die sich auch gegen ein ausländisches Scheidungsstatut durchsetzt, also als selbstbegrenzte Sachnorm. Art. 17 Abs. 2 wiederholt diese Norm; durch die Einfügung in Art. 17 wird klargestellt, dass sich der Grundsatz der gerichtlichen Ehescheidung gerade auch gegen ein ausländisches Scheidungsstatut durchsetzt. Daran ändert sich nichts dadurch, dass das Scheidungsstatut nun durch die Rom III-VO bestimmt wird. Die Bedeutung des § 1564 S. 1 beschränkt sich nunmehr – als reine Sachnorm des deutschen Rechts – auf Scheidungen, die deutschem Recht unterliegen (im Inland und Ausland).

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4. Nicht verwechselt werden darf die selbstbegrenzte Sachnorm mit den Sondernormen des deutschen Rechts für bestimmte Auslandsfälle (zB § 1944 Abs. 3 BGB). Diese Bestimmungen setzen sich nicht gegen ein ausländisches Statut durch, sondern sind nur anwendbar, wenn deutsches Recht das maßgebliche Statut (hier Erbstatut) ist. Im Einzelfall kann es allerdings fraglich sein, ob eine Bestimmung als Sondernorm des deutschen Rechts oder als selbstbegrenzte Sachnorm zu verstehen ist; dann ist durch Auslegung zu ermitteln, ob die jeweilige Sachnorm nur auf deutschem Recht unterstehende Fälle Anwendung finden will oder sich gegen jedes Statut durchsetzt. Im Zweifel sollte Bestimmungen ein solcher ordre-public-naher Durchsetzungswille nicht unterstellt werden; jedenfalls seit der Reform des Jahres 1986 enthält das deutsche IPR einige Aussagen über schutzbedürftige Personengruppen, so dass eine zwingende Anwendung deutschen Rechts zum Schutz bestimmter schwächerer Beteiligter auf dem Umweg über die Konstruktion der selbstbegrenzten Sachnorm ausscheidet.

Gelegentlich wird erwogen,[4] aus § 92c Abs. 1 HGB (Abdingbarkeit des Ausgleichsanspruchs des Handelsvertreters – § 89b HGB – bei Tätigkeitsgebiet außerhalb der EU und des EWR) eine Kollisionsnorm herauszulesen, die Vorschriften des HGB über den Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters nach §§ 84 ff HGB seien – unabhängig vom Schuldstatut – für Handelsvertreter mit Tätigkeitsbereich innerhalb der EU anzuwenden. Diese Konstruktion ist trotz ihrer richtigen Zielsetzung nicht tragfähig; § 92c Abs. 1 HGB setzt ein deutsches Vertragsstatut voraus. Die Durchsetzung deutscher Schutznormen gegen ein ausländisches Vertragsstatut kommt nur unter den Voraussetzungen von Art. 3 Abs. 3, 6 Abs. 2, 8 Abs. 1, 9 Abs. 1 Rom I-VO sowie Art. 46b in Betracht. Sinnvoll erscheint jedoch eine Erweiterung des Rechtsgedankens des Art. 46b auf anderes EG-/EU-Richtlinienrecht, so dass sich letztlich Schutzbestimmungen aus Richtlinien auch gegen ein Nicht-EU-Vertragsstatut durchsetzen könnten.[5]

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5. Nicht verwechselt werden dürfen auch die in materiell-rechtlichen Nebengesetzen enthaltenen Kollisionsnormen mit selbstbegrenzten Sachnormen. Der Typus einer Norm als Sach- oder Kollisionsnorm wird nicht durch ihren Standort bestimmt, sondern durch ihre Funktion.

Unstreitig gilt das für die Kollisionsregeln im Wechsel- und Scheckgesetz. Aber auch der gelegentlich als Beispiel einer selbstbegrenzten Sachnorm mit impliziter Kollisionsnorm genannte § 130 Abs. 2 GWB in der bis 17.4.2016 geltenden Fassung war (nur) eine – nicht durch Rechtswahl abdingbare – einseitige räumliche Kollisionsnorm des Wettbewerbsrechts.[6]

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