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7.

Früher war das Aufziehen von Kindern einfacher, meinte Ambühl lautstark. In der heutigen, von Überinformation und den sozialen Medien kontrollierten Welt, stünden die Eltern permanent unter Druck, sicherzustellen, dass die akademischen, emotionalen, mentalen, spirituellen, physischen, ernährungsbezogenen und sozialen Bedürfnisse ihrer Sprösslinge fachgemäß gestillt werden. Gleichzeitig sei darauf zu achten, dass sie nicht über- oder unterstimuliert, unsachgemäß mit Medikamenten behandelt werden oder gar vorschnell als vernachlässigt gelten, fuhr er zynisch fort. Alles solle zudem in einem bildschirmzeitkontrollierten, gentechnisch unveränderten, von negativer Energie und Plastik erlösten, körperfreundlichen, sozial bewussten, egalitären, aber ab und zu auch fordernden Umfeld stattfinden, das Unabhängigkeit fördert, sanft, aber nicht zu freizügig ist und keine Pestizide aufweist. Vorzugsweise lebten sie in einem höchstens zweistöckigen, aber mehrsprachigen Haus am Ende einer Sackgasse mit Hinterhof. Die wissenschaftlich gesehen beste Familienplanung sieht durchschnittlich 1,5 Kinder im Abstand von mindestens zwei Jahren vor, denn da sei die gegenseitige positive Beeinflussung der Geschwister am besten.

Ambühl hatte sich in Rage geredet, nachdem eine Kollegin, die er besonders schätzte, weinend in das Lehrerzimmer gestürmt war. Es ging um das fehlgeschlagene erzieherische Vollwertprogramm einer Mutter und eines Vaters. Ihr Sohn war sechseinviertel Jahre alt. Aus welchen schleierhaften Gründen das Alter von Kindern in diesem Lebensstadium stets in Vierteln angegeben wurde, fand Ambühl fragwürdig. Jedenfalls besuchte der kleine Mann die Klasse seiner Kollegin. Er liebte es herzukommen, denn hier war es ganz anders als zu Hause mit all den Lernspielzeugen, computergestützten Zusatzprogrammen, privaten Klavierlehrern, Kinderyogastunden und kindgerechten Kulturausflügen am Wochenende. Hier gab es viele andere Kinder und er war nicht dauernd der positive Fokus der beflissenen erwachsenen Aufmerksamkeit. Außerdem hatte er neulich auch ein frisches Wort aufgeschnappt, das ein anderer Junge offenbar von zu Hause eingeschmuggelt hatte, nachdem er es von seinem Vater im Auto gehört hatte.

Als der Sechseinvierteljährige nach der Schule mit dem Bus nach Hause kam und direkt vor der Tür abgesetzt wurde, lief er durch den kleinen Vorgarten und klingelte. Die Mutter rief, sie sei gleich da, während der Kleine wartete und nur an dieses großartige neue Wort denken konnte. Die Mutter öffnete, kauerte sich vor ihn hin und sagte: Mein Lieber, wie war denn dein Tag? Er antwortete mit einem breiten Lachen im Gesicht: Hallo, Arschloch! Die Mutter fing vor Schreck und Unglauben an zu keuchen, und das Kind dachte: Wow, dieses Wort muss etwas ganz Tolles sein!

Zusammen mit dem eilig aus einem wichtigen Geschäftsmeeting abberufenen und sichtbar genervten Vater tauchten sie umgehend in der Schule auf, wo es zu fünft ins Büro des Schulleiters ging. Wie um alles in der Welt lernt unser kleiner Sohn solche Wörter in dieser Schule, die uns als besonders engagiert empfohlen wurde? Sie verlangten eine sofortige Entschuldigung der Lehrerin bei ihrem verstörten Sohn, der gar nicht begreifen konnte, worum es ging, und der gleich auch den in pädagogisch geschulter Sprache rührend nachfragenden Schulleiter mit dem neuen Zauberwort bediente. Daraufhin drohten sie mit einem Wechsel an eine andere Schule.

Wäre es nicht so tragisch ernst gewesen, hätte das ganze Kollegium spätestens an dieser Stelle lauthals losgelacht. Doch es herrschte erst einmal ein ratloses Wortdurcheinander und dann Stille. Solche Vorkommnisse häuften sich in letzter Zeit. Die Aufgabe der Lehrkräfte war rätselhaft geworden. Einerseits wollten die Eltern alles Erzieherische an die Schule delegieren, andererseits auf jede Entscheidung und das ganze Geschehen detailliert Einfluss nehmen, fasste ein Kollege zusammen. Speziell wenn es nicht in ihr wohlkonstruiertes Konzept passe oder dessen Schwächen aufdecke, erwiderte die betroffene Lehrerin trotzig. Sie wirkte schon ein bisschen gefasster, die Solidarität tat ihr gut. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen, ihr Arschlöcher, sagte Ambühl grinsend. Da mussten nun doch alle lachen, bevor sie wieder wie gewohnt ihrer Arbeit nachgingen. Sie waren unverwüstlicher geworden und hatten mehr Biss im Team.

***

Schon am Vormittag war er völlig außer sich gewesen, nachdem er vom Tod einer früheren Mitarbeiterin erfahren hatte. Mit weniger als fünfzig Jahren war sie erkrankt und innerhalb kürzester Zeit einem aggressiven Krebs erlegen. Nach ihrem Abgang hatten sie nie mehr etwas von ihr gehört und ihr Tod lag wohl auch schon länger zurück. Nachdem man sie rausgeekelt hatte, weil sie schwierig war und nicht ins Team passte, musste sie sich ein völlig anderes berufliches Umfeld gesucht haben, um ein neues Leben aufzubauen.

Und nun dies, als erstes Lebenszeichen von ihr, wollte er schon fast sagen, als ihm das Wort im Hals steckenblieb.

Er hatte sie nie sonderlich gemocht, die exzentrische Frau, die wirkte, als stammte sie aus einer längst vergangenen Zeit, und die sich nicht in den schulischen Ameisenhaufen hatte einfügen können. Sie war überall angeeckt und hatte auch ihn genervt. Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – verspürte er eine leichte Achtung, wenigstens für ihre Unbeugsamkeit. Nun war sie doch gebeugt worden. Endgültig, ohne Verteidigungs- und Fluchtmöglichkeit. Sein Herz pochte und die Finger trommelten auf die Tischplatte. Wo war hier die Gerechtigkeit, ein durchschaubares System, ein Konzept, das man verstehen konnte? Wer entschied, ob man Krebs bekam, nach kurzer Zeit starb, noch ein paar Jahre hatte oder sogar lange damit leben konnte? Innerlich zitterte er immer stärker und die Hand schlug fortlaufend heftiger und lauter auf die Schreibunterlage. Sein Blick raste durch den Raum, glitt an den Wänden entlang über Schreibpulte, Regale, Fenster, Bilder, Schmutzflecken am Boden und zurück. Alles drehte sich, ließ sich nicht fixieren, festhalten, zuordnen. Mit gleicher Wertigkeit stürzte die gesamte Zimmereinrichtung auf ihn zu und er wurde vom visuellen Drehstrom in der Abwärtsspirale mitgerissen, bis er zu Boden fiel. Dort tastete er mit der linken Hand ungeschickt nach dem Beruhigungsmittel, das er neuerdings immer bei sich trug, und schaffte es gerade noch, eine Pille zu schlucken, bevor er abtauchte.

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