Читать книгу halbtote schmetterlinge - Thomas Schadler - Страница 14
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Hedi war schon immer tot. Seit Ambühl sich erinnern konnte, war Willi Witwer. Hedi hatte an einem Raucherbein gelitten und nach der Amputation weiter gepafft. Daran war sie verstorben. Willi war trotzdem lustig. Er lachte, machte faule Sprüche, trank viel und rauchte Zigarillos.
Mehr wusste Ambühl nicht. Er war ein Jugendfreund seines Vaters und damit ab und zu Gast im Haus. Zusammen mit zwei anderen Freunden aus der Schulzeit kam er zweimal pro Jahr zum Herrenabend. Da mussten die Kinder früh ins Bett und für die geladenen Männer kochte die Mutter so gut es ging. Die vier Freunde trafen sich abwechselnd bei einem von ihnen zu Hause und hatten es unverkennbar gut zusammen. Am folgenden Tag stank die ganze Wohnung nach Rauch und die Nachbarn beschwerten sich, da es spät nachts im Treppenhaus noch viel Lärm gegeben hatte.
Für Ambühl war es eine seltene Gelegenheit, den Vater als Mann mit Vergangenheit und im Umgang mit Freunden wahrzunehmen. Sie hielten immer ein gutes Wort, eine witzige Frage oder einen frechen Kommentar für ihn bereit, bevor er ins Bett verschwinden musste. Sonst kam ihm das Leben seines Vaters langweilig vor, wie ein Bühnenspiel ohne Skript. Er spielte darin einen beharrlich rechtschaffenen, fleißigen, verständnisvollen Mann ohne Tadel. Man hatte nur Gutes über ihn zu sagen und seine fragwürdigen Seiten hielt er gut verborgen. Gerade diese hätten Ambühl ganz speziell interessiert.
Nun saß er am Schreibtisch seines verstorbenen Vaters. Schon fast leergeräumt, nur ein paar Bleistifte, Büroklammern und Gummibänder lagen noch verloren in einer Schublade. Zwei Stunden lang hatte er alles hervorgeklaubt, hinausgetragen und auf dem Flur zwischengelagert. Doch das war erst der Anfang.
Sein Vater war vor zehn Jahren gestorben. Mit fünfundachtzig Jahren. Jetzt zog seine Mutter ins Altersheim. Sie war vierundneunzig, schon zweimal gestürzt und mehrfach operiert. Es ging nicht mehr, dass sie in dieser großen Wohnung alleine weiterlebte. Hier hatten die beiden die letzten zwei Jahrzehnte verbracht, nachdem sie zuvor lange in der kleinen Behausung gelebt hatten, in der Ambühl aufgewachsen war.
Seine Aufgabe war es, den Lebensraum seiner Eltern zu räumen, aufzulösen, zu entrümpeln, zu reinigen und in einem genau definierten Übergabezustand an die Vermieter zurückzugeben. Wo fange ich an, wie gehe ich vor, fragte sich Ambühl. Es war ein Ort, an dem er nie selbst gelebt hatte und der ihm lediglich dadurch vertraut war, dass er hier öfters seine Eltern besucht hatte und dabei erkannte, wie erstaunlich zufrieden sie in dieser großen, hellen Wohnung waren.
Beim Umzug ins Altersheim hatte seine Mutter nur wenige Dinge mitnehmen können und vor allem Dinge ausgewählt, die voller Erinnerungen waren. Fotoalben, Tagebücher, Briefe und Ansichtskarten der Kinder, Enkel und Urenkel. Vieles hatte sie mit erstaunlicher Leichtigkeit aussortiert und zurückgelassen. Die meisten Schränke steckten noch voller Kleider und Alltagsutensilien. Daneben fand er viele Ordner mit Schriftstücken, Akten, Schachteln voller Dokumente oder Fotos, Notizbücher, Mappen mit Korrespondenz und einen ganzen Koffer voller Dias, die früher – nur bei besonderer Gelegenheit – mithilfe eines Projektors auf einer Leinwand angeschaut worden waren. Sowohl Vater als auch Mutter hatten furchtbar ordentlich und peinlich organisiert gelebt. Dementsprechend waren alle Habseligkeiten fein säuberlich geordnet und dokumentiert. Zwei ganze Leben lagen vor ihm, die sich ganz nebenher durch enorme Veränderungen der Gesellschaft und der Welt gewunden hatten.
Mühelos hätte man hier das Leben beider Eltern akkurat rekonstruieren, belegen und nachvollziehen können, wie sie sich gefühlt, was für Träume und was für Ängste sie gehabt hatten. Zumindest den öffentlichen Teil. Eine Fundgrube für den privaten Familienhistoriker. Doch wollte er das? Durfte er das? Interessierte es ihn wirklich? Oder war er es gar dem Leben seiner Eltern schuldig? Ambühl war sich nicht sicher. Sollte er in diese Intimsphäre eindringen und in alten Liebesbriefen des jungen Paares schnüffeln? Durfte er das Tagebuch seines Vaters lesen, in dem er sich vielleicht als unsicheren Außenseiter dargestellt hatte? Er war der Sohn eines armen Briefträgers, der es doch irgendwie geschafft hatte, gesellschaftlich aufzusteigen, Betriebswirt zu werden und eine Frau aus einer deutlich höheren sozialen Schicht zu heiraten. Sollte er dem Schriftwechsel seiner Mutter mit ihrem eigenen Vater folgen, nur um darin das vermutete, leicht inzestuöse Verhältnis bestätigt zu sehen?
Nein.
Letztendlich entschied sich Ambühl dazu, Vater und Mutter dabei behilflich zu sein, ihre Intim- und Privatsphäre für sich zu behalten. Er merkte, dass er dadurch auch sich selbst besser schützten konnte, seine eigene Unabhängigkeit, sein eigenes Leben. Obwohl auf dem Silbertablett präsentiert, weigerte er sich, sein Leben nochmals von dem beeinflussen zu lassen, was seine Eltern gewesen waren, was sie zu sein wünschten oder vorgaben zu sein.
Was für ihn zählte, war das, was noch kam, sagte er sich. Er war jetzt über fünfzig Jahre alt und hatte hinreichend lange Jahre damit verbracht, herauszufinden, warum er so war, wie er war. Familienstrukturen, Elternbeziehung, frühkindliche Erlebnisse, Schulversagen und -erfolg, erste Lieben und erste Beziehungskatastrophen hatten immer genügend Material geboten für Therapiestunden, nächtelange Gespräche mit Freunden und meditative Erfahrungskurse auf dem Berg.
Ambühl besorgte im Baumarkt die reißfesten 110-Liter-Plastiksäcke und packte die Vergangenheit seiner Eltern ein, um sie zu entsorgen. Ordner, Briefbündel, Schachteln voller Schriften, Fotos, Akten, Belege, Hefte, Urkunden und Bücher, alles fand den Weg in den Müll. Genauso die Kleider, Schuhe, Leibwäsche, Socken, Toilettenutensilien, Bett- und Badwäsche. Sack um Sack wurde gefüllt, um am nächsten Tag der Müllverbrennung übergeben zu werden. Eigenhändig wollte er alles in den großen Verbrennungsofen werfen und verschwinden sehen. Später in der Woche würden die Männer vom Antiquariat kommen, um die nun leblos wirkenden Möbel und alle weiteren Einrichtungsgegenstände mitzunehmen. Danach würde dasselbe Team die Wohnung reinigen, genau nach den Vorgaben der Frau von der Hausverwaltung mit Blick auf die Übergabe. Absolut leergeräumt und gut geputzt. Keine Spuren des früheren Lebens sollten hinterlassen werden.
Und es fühlte sich gut an. Die Entsorgung des weltlichmateriellen wirkte befreiend und Entsorgen hieß ja auch wortwörtlich, die Sorgen loswerden, sagte Ambühl zu sich selbst, als er die Treppe ein letztes Mal hinunterging.
Willi seinerseits hatte sich nach dem Tod einer der vier Freunde mit dessen Witwe zusammengetan. Die beiden machten das Beste aus der Situation, reisten viel in der Welt herum und waren glücklich. Ambühl hätte damals gerne gewusst, ob die zwei Alten auch noch Sex hatten. Es hätte ihn zuversichtlich gestimmt. Das war das Ende der Männerfreundschaft seines Vaters gewesen. Es gab keine Einladungen mehr, kein Kochen, kein Trinken und Rauchen bis spät in die Nacht. Das Verständnis für Willi und die Witwe fehlte bei den Zurückgebliebenen und entwickelte sich gar zu Feindseligkeit.