Читать книгу halbtote schmetterlinge - Thomas Schadler - Страница 8
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In seiner Panik begann er, lange Listen zu schreiben, was alles noch zu tun und zu erledigen wäre, bevor er starb. Dabei fühlte sich Ambühl zugleich chaotisch und exaltiert. Alles war anders als jemals zuvor, so hatte er sich bisher noch nie erlebt.
Wie der Hasenstall zu reinigen sei, ohne die Glasscheibe zu beschädigen, wo die Bedienungsanleitung der neuen Waschmaschine deponiert, die Zugangsdaten für den WLAN-Router und die Verträge der TV-Kinderkanäle zu finden waren. Sämtliche Kontaktdaten der verschiedensten Handwerker fürs Bad, das Dach, das ab und zu undicht war, und das Garagentor, wenn es wieder einmal klemmte. Und dem neuen Gärtner sollte klargemacht werden, dass der alte Rasenmäher zwar beim Kaltstart erst einmal spuckte, er aber dessen ungeachtet nicht ersetzt werden müsse, weil er sonst noch recht gut funktionierte. Außerdem dürften die unteren Äste der Bäume nicht runtergeschnitten werden, weil die Kinder gerne daran hochkletterten. Eigentlich waren sie inzwischen schon fast zu alt dafür und interessierten sich mehr für freien Ausgang und ungestört pubertierendes Alleinsein in ihren Zimmern, für die er ihnen schon lange neue und altersgerechte Möbel versprochen, jedoch den verhassten Besuch im schwedischen Möbelhaus immer wieder hinausgeschoben hatte. Diese Einkaufstouren endeten regelmäßig mit völlig überladenen Einkaufswägen voller Dinge, die man eh nicht brauchte. Vor allem nicht, wenn man starb.
Die Nachbarn besaßen eine lange Leiter, die man ausleihen und ausziehen konnte, einmal im Jahr nur, im Herbst, zur Reinigung der Dachrinnen. Wie würden die wohl reagieren, wenn sie von ihm hörten? Man hatte zwar sonst fast keinen Kontakt, aber mochte sich distanziert. Und der Schlüssel zum Keller funktionierte ausschließlich, wenn man die Tür stark zu sich heranzog und leicht anhob, bevor man ihn drehte. Niemand außer ihm ging je in den Keller. Da gammelten neben nicht mehr benutzten, ausgetretenen Bergschuhen die Umzugskartons aus seinen früheren Leben. Spinnweben und schlechtes Licht. Eklig, da würde er auch noch ausmisten müssen, weil heute sicher nicht mehr alles, was dort gelagert wurde, in die immer wieder neu zusammengeschusterte Lebensgeschichte passte!
Wen sollte er benachrichtigen? Eltern, Geschwister, Freunde, Arbeitskollegen? Und was sollte er ihnen sagen? Gab es eine Verpflichtung, den Arbeitsgeber darüber zu informieren, dass man höchstwahrscheinlich bald sterben würde? Und die Freunde aus der Vergangenheit, zu denen er über den Zauber des Internets eben erst wieder Kontakt gefunden hatte. Was würden die sagen? Was würden sie in den entsprechenden Foren und Chats schreiben? Mein Gott, hast du es auch gehört? Von wem denn? Ist es wirklich so schlimm? Müsste man ihn dann noch ein letztes Mal besuchen? Und was, wenn er das nicht wollte? Wir standen uns doch gar nicht so nahe. Wie nimmt man überhaupt Abschied vor dem Tod? Ich glaube, der will das nicht.
Wie ließ sich ein Facebook-Konto löschen und wo blieben all die E-Mails, wenn der mit dem Passwort tot war? Die verschiedenen geheimen WhatsApp-Chats mit anderen Frauen? Blieben die irgendwo versteckt im Cyberspace? Hoffentlich. Ganz zu schweigen von Bankkonten und den komplizierten Online-Zugangslösungen für verschiedenste Dienstleitungen, Memberships und Abonnemente Abonnements. Wer kam da ran und würde sich darum kümmern, das kleine Vermögen gerecht zu verteilen? Und das diskrete Notfallkonto in der Schweiz, von dem niemand wusste? Das Geld war damals einfach so liegengeblieben und hatte ihm immer ein fadenscheiniges Gefühl der Sicherheit gegeben. Was passierte mit den Backups aller Familiencomputer und Telefone auf seinem leistungsstarken Laptop, die über seinen Namen und sein Konto liefen? Weil es damals einfacher gewesen war wegen der Kreditkarte und er nicht daran gedacht hatte, dass auch er sterben könnte. Müssten alle Nummern gewechselt werden? Die Kinder würden es hassen, da sie sich doch so viele Kontakte auf Instagram und TikTok aufgebaut hatten. Oder verstand er wieder etwas falsch, wie in letzter Zeit so oft bei den neuen sozialen Medien?
Quatsch, da gab es bestimmt eine Lösung. Er war nicht der erste, der starb.
Was sollte mit den restaurierten Motorrädern passieren? Er wollte sie nicht abgeben. An irgendeinen, der sie nicht so liebte und verstand wie er. Auf keinen Fall. Warum gab es heute keine Grabbeigaben mehr? Früher wurden die Menschen doch auch mit ihren Pferden begraben.
Wer würde Zugriff haben auf die ganzen digitalen Fotoarchive auf dem Laptop, in denen es vieles gab, was er löschen sollte, bevor es in trauernde Hände fiel? Passwortübergabe auf dem Sterbebett oder Passwort verweigern? Dann hätten die Kinder keinen Zugriff auf all die Fotos ihres Heranwachsens, die Familienfeste, Schultheater, Geburtstage, all das, was man zur Dokumentation der Familiengeschichte wichtig fand und fotografisch festzuhalten versuchte. Den ganzen Computer seinem Freund übergeben, der das ganze verräterische Ding aussortierte und löschte, aufteilte wie einen Kuchen und nur einzelne Schnitten weitergab? Das hätte er sich alles früher überlegen müssen!
Die gesamten digitalisierten Dokumente, Urkunden, Zeugnisse. Er hatte sich viel Mühe gegeben, keine Papierkopien mehr aufzubewahren. Alles sollte nun weg sein? Ausgelöscht, zusammen mit ihm? Brauchte das noch jemand? Er hatte mal eine Familie gekannt, die beim vollständigen Abbrand ihrer Wohnung alles verlor. Sie standen in Pyjamas auf der Straße. Alles war zerstört. Aber irgendwie ging es dann trotzdem weiter.
Ambühl wollte nicht, dass es ohne ihn weiterging.