Читать книгу halbtote schmetterlinge - Thomas Schadler - Страница 6
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Das Beste, das Ambühl als Kind geschehen konnte, war, krank zu sein. Nicht wirklich schwerkrank. Aber gerade so krank, dass er nicht zur Schule gehen musste und zu Hause im Bett liegen bleiben durfte. Zugegeben, der Preis, den er dafür zu bezahlen hatte, war groß. Bei seiner Mutter galt die strikte Regel, zum Abschluss einer jeden Krankheit einen Tag fieberfrei im Bett bleiben zu müssen, bevor sie einen wieder in den Alltag entließ. Und das war bitterer Ernst. Vierundzwanzig Stunden gesund im Bett.
Gleichzeitig war Kranksein, wenn man sich einmal dazu entschieden hatte, das absolute Paradies. Besser konnte es einem Kind in der kleinen Vierzimmerwohnung gar nicht gehen. Vier Zimmer mögen zwar nach recht viel Platz klingen, doch da Ambühls Eltern – wohl aus Statusgründen – darauf bestanden hatten, ein separates Wohn- und Esszimmer einzurichten, und die Eltern den dritten Raum als Schlafzimmer bewohnten, blieb für zwei der drei Kinder lediglich ein Raum von zwölf Quadratmetern, den sie sich teilen mussten. Dieser wurde ausgefüllt von einem neuartigen Doppelstockbett, das „schwedisches Bett“ genannt wurde, um ihm eine besondere Note zu verleihen. Ambühls älterer Bruder passte in das kleine Zimmer nicht mehr rein. Für ihn wurde etwas anderes „Modernes" angeschafft. Im Esszimmer gab es für ihn ein Ausziehbett. Was tagsüber wie eine schlecht konzipierte Sitzgelegenheit aussah, ließ sich nachts mit wenigen Handgriffen in ein schäbiges Bett verwandeln. Dort schlief der Bruder.
Krank zu sein, war gut. Die Mutter kümmerte sich noch mehr um einen als sonst. Wenn er krank war, durfte Ambühl allein im Zimmer sein. Er wurde täglich in neue Bettlaken gehüllt, durfte sich sein Lieblingsessen wünschen und bekam tatsächlich „die Glocke“ auf den Nachttisch gestellt. Damit ließ sich jederzeit die Mutter rufen, um ihr einen weiteren Wunsch vorzutragen oder ein bisschen über Schmerzen zu klagen. Nicht, dass es dieser Glocke tatsächlich bedurft hätte. Im Gegenteil, die Wohnung war wirklich so klein, dass selbst ein leichtes Räuspern nicht hätte überhört werden können.
Die Glocke hatte eine magische Bedeutung. Sie symbolisierte das wirkliche Kranksein, das sogar so weit führte, dass sich Frau Ambühl dazu hinreißen ließ, bei der Nachbarin, die auf demselben Flur eine Dreizimmerwohnung bewohnte, zu klingeln, um sich einen Stapel Comics für ihr krankes Kind auszuleihen. Sowas hätte sie nie selbst gekauft.
Um die Dramatik der mütterlichen Selbsterhöhung dieser Aktion zu verstehen, ist es wichtig zu erwähnen, dass die Nachbarin eine geschiedene Frau war, die ihren Sohn gemäß der Einschätzung der Eltern nicht im Griff hatte. Weil sie eben ein „Lotterleben“ führte. Der Begriff faszinierte Ambühl, obwohl er ihn nicht einzuordnen wusste.
Der Sohn schaute immer fern, verbrachte ganze Abende allein zu Hause und nannte seine Mutter öfter mal derart laut eine „verfickte Nutte“, dass es im ganzen Haus zu hören war.
Für Ambühl aber war er vor allem ein Gelehrter des Fachbereichs Kindercomics. Er besaß eine ganze Kollektion davon. So stellte Kranksein für Ambühl auch eine Chance dar, endlich diese Heftchen zu lesen, damit in seinen „Studien des Banalen“ aufzuholen und am wahren Leben zu schnuppern.
Der absolute Höhepunkt jeder häuslichen Krankheitsgeschichte war der Besuch von Doktor Larcher. Er war der Kinderarzt der Familie und ein Hausbesuch die ausdrückliche Bestätigung dafür, dass die Mutter in ihrer Einschätzung recht behielt. Der letzte Krankheitszweifel wurde aus dem Weg geräumt. Gut vorbereitet, wurde die Visite von Frau Ambühl entsprechend inszeniert. Wenn Doktor Larcher endlich klingelte, lag das kranke Kind längst in einem frisch bezogenen Bett, trug einen netten Calida-Pyjama und die Mutter hielt für den Doktor sowohl einen Silberlöffel des Sonntagsbestecks als auch ein feines weißes Tuch von der besonderen Qualität bereit, das für gewöhnlich dem Vater zur morgendlichen Nassrasur vorbehalten war.
Der Doktor war ein freundlicher Mann. Wenn er mithilfe des Silberlöffels tief in den Rachen geschaut, sich die Hände gewaschen und sie mit dem feinen Tuch getrocknet hatte, stellte sich jedes Mal heraus, dass die Mutter einfach alles richtig gemacht hatte und der Patient lediglich ein paar Tabletten benötigte. Der GuteMutter-Stolz war das eigentliche Ziel des Arztbesuchs. Ambühl spürte, wie dieser sich nach dem Abgang von Doktor Larcher wie ein süßlicher Geruch in den vier Zimmern ausbreitete und sich auf alles legte. Es war klar, dass der Doktor Frau Ambühl bewunderte. Und sie sich auch.
Die Nachbarin hatte keine Chance.