Читать книгу halbtote schmetterlinge - Thomas Schadler - Страница 13
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Met ProstataCa, pT3b pN1 (2/15) G3 R1 L1 V0 Gleason 4 + 3.
Es gibt eine Formel, mit der die Ärzte das, was der Krebs mit dem Körper tut, in Zahlen ausdrücken. Vergleichbar mit dem Quellcode einer Software. Die Formel gab dem Urologen Dr. Hoffmann, den Ambühl glücklicherweise gefunden hatte und dem er vollkommen vertraute, darüber Auskunft, wie gravierend, fortgeschritten und bedrohlich die Erkrankung war. Für Ambühl war es keine Krankheit. Für ihn war der Krebs ein direkter Angriff auf sein Dasein, sein Leben, sein ganzes Selbst. Ein heimtückischer Anschlag und Mordversuch. Etwas, das ihn niedermachen und zerstören wollte. Er fühlte sich wehrlos, schwach und vollkommen ausgeliefert.
So müssen sich Frauen fühlen, die vergewaltigt werden, dachte er. Es zieht dir den Boden unter den Füßen weg und nimmt dir jeden Halt. Alles was bis dahin wichtig und richtig war, gilt nicht mehr.
Wahrnehmung ohne Empfindung und erstarrtes Staunen übernahmen Ambühls sonst so pragmatischen Bezug zur Realität, zu den Menschen, Abläufen und Strukturen, die bisher seinen Alltag geprägt hatten. Er fühlte sich ausgegrenzt, abgeschoben und verstoßen und stellte fest, dass der Krebs nicht nur ihm selbst Angst machte, sondern auch allen Menschen um ihn herum. Es war, als fürchteten sie sich davor, sich anzustecken, wider besseres Wissen. Vielleicht kam das daher, dass es keine schnellen Antworten gab, niemand einen Ausweg wusste, ihm nicht wirklich zu helfen war. Insgeheim waren wohl auch alle uneingestanden froh, dass sie selbst nicht betroffen waren.
Die Mehrheit von Ambühls Freunden lebte verhältnismäßig erfolgreich vor sich hin, erfüllte sich immer größer werdende berufliche und private Träume, von denen sie glaubten, sie bräuchten all das tatsächlich. Zuerst mit abwehrendem Erschrecken, dann mit konsequentem Ignorieren und Kompensieren, stellten sie zwar immer deutlicher fest, dass sich ihr Leben im Kreis drehte und dieser durch die ungelöste Sinnfrage immer mehr zu einer Abwärtsspirale wurde, was sie irritierte, doch mit dem Tod, dem Ende der Existenz, hatten sie sich noch nie auseinandersetzen müssen. Nun waren sie mit der Tatsache konfrontiert, dass ihr Freund von einer unheilbaren Krankheit befallen war, die – aller Wahrscheinlichkeit nach – zu seinem vorzeitigen Ableben führen würde. Grund genug, sagten sie, dass sich alles schlagartig ändern müsse. Zumindest für Ambühl.
Einfach so.
Ambühl konnte sich nicht erklären, warum Gesunde sich vorstellen, die Todgeweihten hätten ein verändertes, klareres Weltbild und seien plötzlich näher an der Antwort auf die große Sinnfrage.
Jetzt merkst du doch, worum es im Leben wirklich geht, meinten die einen, und die anderen ergänzten, er solle nur noch genießen, einfach das tun, was ihm wichtig sei. Weniger Rücksicht nehmen, egoistischer sein, im Moment leben, jeden Tag so nehmen, als sei es der letzte. Jetzt zählt doch wirklich nur noch das, was wirklich zählt! Das war gar nicht so einfach. Denn die Wahrheit war, dass Ambühl in dieser Situation ebenso wenig vom Sinn des Lebens spürte wie zuvor. Und es war ihm auch nach wie vor nicht klar, was er denn schon immer mal hatte tun wollen. Das Geheimwissen, das man abrufen möchte, wenn man der Endlichkeit des Lebens ins Auge blickt, steckte nicht in ihm. Er hatte stets dazu tendiert, die Kopfarbeit für diese wichtigen und schwierigen Fragen zu verschieben. Vor allem für solche, deren Beantwortung entscheidende Veränderungen in seinem Leben erfordert hätten. Ungerechtfertigt, aber amüsant fühlte er den Hauch eines Kultstatus bei denjenigen, die dachten, sie seien noch nicht unmittelbar vom Ende ihrer Tage bedroht.
Ambühl erinnerte sich an die Sprüche, die er selbst nach dem Tod von Familienmitgliedern oft leichtfertig ausgesprochen hatte. Wenn man keine Lust, Zeit oder Geld hatte, ein großes Fest zu organisieren, war es einfach und hilfreich zu betonen, das hätte der Verstorbene gar nicht gewollt. Dieselbe Heuchelei passte auch gut zu Erbstreitigkeiten und für Situationen, in denen der hinterbliebene Partner nach kurzer Zeit bereits eine neue, oft jüngere Liebe fand. Sie hätte es doch nicht gewollt, dass ich alleine bleibe. War das Verrat?