Читать книгу halbtote schmetterlinge - Thomas Schadler - Страница 9
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In einem Frühjahr, Jahrzehnte zuvor, traf Ambühl Monica. Irgendwo in einem kleinen, verwinkelten Fischerdorf an der ligurischen Küste. Auf halsbrecherische Art auf die Klippen gepflastert, die, vom Meer umspült, den Blick auf einen kleinen Hafen freigaben. Die brennende Sonne des Südens im Gesicht und seine alte Triumph Bonneville zwischen den Beinen, raste er von der Stadt weg und wollte einfach nur allein sein. Alles vergessen, den Kopf und die Seele leeren. Vielleicht auch Neues erleben. Er hatte die komplizierten Beziehungen satt, das ganze Drum und Dran, das verbindet, trennt, schmerzt und zerreißt.
Er jagte über die Alpen, durch das Piemont, dem Meer und der Hitze entgegen. Berauscht von der Geschwindigkeit, dem Dröhnen und Vibrieren des alten Zweizylinders, bestand die einzige Herausforderung darin, die nächste Kurve schnell und schön zu fahren. Die Vollkommenheit der Fahrt brachte Ambühl mit sich selbst in Einklang. Sein Geheimnis bestand darin, nie an die Strecke zu denken, die schon hinter ihm lag.
So wie in Beziehungen, ging es ihm durch den Kopf, als er vier Gänge runterschaltete und in die Einfahrt einer Tankstelle einschwenkte. Da stand eine Frau neben ihrem VW Käfer Cabriolet und haderte damit, dass die Benzinausgabe über Mittag geschlossen war.
Ambühl selbst gefiel die italienische Art, Beschaulichkeit mit Bequemlichkeit zu verbinden und sich dem Permanentkonsum, an den wir uns nördlich der Alpen so gewöhnt haben, zu verweigern.
Monica schien daran keinen Gefallen zu finden. Sie wollte weiter, schien getrieben und voller Unrast. Notgedrungen ließ sie sich dazu überreden, bei „da Franco“, der einzigen Bar in der Nähe, einen Kaffee zu trinken, um sich gemeinsam die Wartezeit zu verkürzen. Ambühl sagte gleich, dass er sie nicht Monica nennen konnte, denn es habe früher bereits eine Monika in seinem Leben gegeben und das kleine C mache nicht wirklich einen Unterschied. Die Kurzform Mo fände er unbelastet und reizvoller.
Sie lachte und wollte gleich die ganze Geschichte von Monika hören. Und damit begannen sie, sich unbeschwert aus ihren Leben zu berichten, und stellten fest, dass sie aus der gleichen Stadt stammten und gemeinsame Freunde hatten. Zufällig getroffen und ohne gemeinsame Vergangenheit, fiel es ihnen leicht, von einem Thema ins nächste zu taumeln, sodass sich der Nachmittag heimlich in den frühen Abend verlängerte. Bald wurden Wein, Pasta und Grappa aufgetischt und es war klar, dass sie die Nacht in der kleinen, unscheinbaren Herberge im Ort verbringen würden. Das Bett war alt, durchgebogen und knarrte fürchterlich. Mo lag nackt vor ihm als er aus der Dusche trat. Sie habe keinen Pyjama dabei, sagte sie grinsend und bemerkte erstaunt, wie schüchtern und zögerlich sich Ambühl näherte.
Sonnenbrillenpoesie für zwei, drei Tage trieb die beiden über das Meer der Unvernunft, ohne Vergangenheit und Zukunft. Das Unbekannte im Wesen des jeweils anderen und die nur ungern eingestandenen Gegensätze produzierten eine Spannung, die in körperlicher Nähe kulminierte und sich dort verführerisch auflöste. Sie erzählten sich ihre Geheimnisse und schafften Vertrauen auf unsicherem Grund.
Es war wieder einmal eine Chance, sich neu zu definieren und zu geben. Beide spürten, dass es das war, was sie suchten. Sie wollten herausschlüpfen aus sich selbst, um eine andere Version ihres Lebens auszuprobieren. Wissen die Raupen eigentlich, dass sie zu Schmetterlingen werden, wenn sie ihren Kokon bauen, fragte sie Ambühl, als sie gemeinsam den Sonnenuntergang betrachteten.
Am Hafen von La Spezia trennten sich ihre Wege. Sie nahmen Abschied und sprachen absichtlich nicht darüber, was zu Hause sein könnte. Monica fuhr los, verschaltete sich und überfuhr dabei beinahe einen italienischen Geschäftsmann, der in gutem Tuch gekleidet und mit Aktenkoffer belastet über die Straße hastete. Ambühl setzte seinen mattschwarzen Helm auf, schwang das Bein über den Sattel, drehte den Zündschlüssel und drückte fast gleichzeitig auf den Startknopf des Motorrads, das sofort ansprang und einen bemerkenswerten Abgang ermöglichte.
Abgänge waren wichtig.
Das provokativ laute Knattern des Motors machte ihn stark und überspielte die Leere, die sich in ihm ausbreitete. Er hatte Angst vor der Rückkehr in die Stadt und davor, sie dort wiederzutreffen. Er wollte nicht aufwachen.
Ein paar Tage später trafen sie sich zu Hause, fanden es seltsam und klammerten sich trotzdem an das Erlebte. Ein halbes Jahr mogelten sie sich durch eine Beziehung in der absurden Hoffnung, dies sei die Fortsetzung der Begegnung in der Bar „da Franco“. Erst im Herbst, wieder zusammen im Süden am Meer unterwegs, merkten sie, dass das, was einmal zwischen ihnen gewesen war, tatsächlich nicht mehr existierte. An einem Strand auf Korsika hatten sie sich nichts mehr zu sagen. Ambühl hielt ihre Nähe, ihre Zärtlichkeiten nicht mehr aus, wurde wütend und aggressiv, als Monica mit ihm schlafen wollte. Eine ganze Nacht lang lag er wach im Zelt, lauschte den Wellen, die unaufhörlich ans Ufer schlugen und sich tosend an den Felsen brachen. Sie war nur eine Handbreit neben ihm und spürte ebenfalls, dass es nicht mehr Frühjahr war. Am nächsten Morgen fuhren sie schnellstmöglich nach Hause.