Читать книгу Mein ist der Schmerz - Thomas Strehl - Страница 11
Kapitel 9
ОглавлениеDer große Mann stand vor dem Spiegel, drehte den Kopf und betrachtete seinen Rücken.
Gut! Die Verletzungen, die er sich mit der Peitsche zugefügt hatte, hatten sich geschlossen. Verkrustet. Es würden Narben bleiben. Äußere Zeichen für seine innere Stärke. Die neuen Narben überdeckten die Alten. Jene, die ihn wirklich verletzt hatten. Jene, für die er sich schämte, weil sie ihn fast zerstört hatten.
Aber eben nur fast.
Er war wiedergeboren. Wie ein Phönix aus der Asche. Er war ein neuer, ein besserer Mensch.
Niemand konnte ihm jetzt noch weh tun, keiner ihn jemals wieder zu Boden zwingen.
Er kleidete sich an und stieg in seine alten, abgetragenen Klamotten.
Er würde wieder auf die Jagd gehen, würde seinen Rachefeldzug weiterführen.
Der Mann blickte sich in der Wohnung um, die viel zu vermüllt war, um ein gemütliches Zuhause zu sein. Er scherte sich nicht darum. Weltlicher Besitz bedeutete ihm nichts.
Im flackernden Licht einer Kerze stieg er in seine Schuhe und nahm den Mantel vom Stuhl. Strom gab es hier schon lange nicht mehr, genauso wenig wie fließendes Wasser. Aber er würde sowieso nicht mehr lange hier bleiben.
Er krempelte den Pullover hoch und hielt den Unterarm über die Flamme, dicht, immer dichter. Bis die Haut sich erst rötete und schließlich Blasen warf. Er zuckte nicht, verzog nicht einmal das Gesicht. Kein einziger Laut entschlüpfte seiner Kehle.
Er spürte nichts mehr. Er hatte die höchste Stufe des Seins erreicht. Er war Herr über die Schmerzen.
Andere waren es dagegen nicht. Sie würden fürchterliche Pein erleiden, jene, die Schlimmeres verdient hatten als den Tod.
Der Nächste wartete schon, wusste noch nichts von den Vergnügungen, die ihn bald ereilen sollten.
Der Große löschte die Kerze mit der bloßen Hand, zog sich den Mantel über, verließ das Haus und trat in die Dunkelheit.
Stefan König lehnte sich auf dem Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf. Er lächelte, war zufrieden mit sich und der Welt. Er saß in seinem Lieblingsrestaurant und hatte gerade ein gutes Essen genossen, doch das war es nicht, was sein Glück ausmachte. Daran waren die beiden anderen Personen schuld, die mit ihm am Tisch saßen.
»Dann sind wir uns also einig?«, fragte er und die jungen Männer nickten.
»Das ist dann wohl eine Flasche Champagner wert.« Er wollte den Kellner heranwinken, doch einer der Männer, fiel ihm ins Wort. »Für mich lieber noch ein Bier«, sagte er und fuhr sich durch seine blonde, lockige Mähne. »Ja«, stimmte ihm der andere zu, ebenfalls braun gebrannt, aber mit glatten, schwarzen Haaren. »Ein kühles Blondes wäre mir auch lieber. Ich mach mir nix aus der Blubberbrause.«
Königs Lächeln wurde breiter. »Wunderbar!«, meinte er nur. »Umso besser.« Er ließ den Kellner kommen und bestellte drei große Pils und die Rechnung.
Es war ein teurer angesagter Laden, doch er war sicher, dass sich jeder Euro, den er heute investiert hatte, bezahlt machen würde. Die beiden Männer, die kaum dem Teenageralter entwachsen waren, stürzten das Bier herunter, als gäbe es kein Morgen, und verabschiedeten sich dann.
»Wir sehen uns morgen im Studio«, erinnerte sie König. »Dann werden wir die Verträge unterzeichnen und direkt mit den Aufnahmen für das Album beginnen.«
Die Jungs nickten nur kurz, lächelten aber ebenfalls glücklich und machten sich auf den Weg.
König trank noch einen Absacker und genoss den Augenblick.
Er sah sich im Restaurant um und wenn sein Blick von anderen Gästen erwidert wurde, wurde ihm freundlich zugenickt. Man kannte ihn und war stolz auf den neuesten prominenten Sohn Mönchengladbachs.
Wenn mir das jemand vor drei Jahren vorausgesagt hätte, dann hätte ich ihn einweisen lassen, dachte König.
Damals war er ein mäßig erfolgreicher Musiker gewesen, hatte sich in einigen gut gebuchten Tanzbands als Sänger und Gitarrist versucht, aber bald gemerkt, dass diese ewige Cover Musik nichts für ihn war. Er wollte eigene Songs schreiben und träumte, wie wohl jeder in der Branche, von einem Nummer Eins Hit. Doch das hatte nie funktioniert. Es war ein schmerzhafter Prozess gewesen, sich einzugestehen, dass seine selbst verfasste Musik einfach nicht gut genug war.
Trotzdem wollte er den Traum, von der Musik zu leben, nicht aufgeben. Daher begann er damit, gute Songs, die ihm zugespielt wurden, zu verbessern. Das lag ihm, das war seine Welt: Produzieren, Liedern, die beinahe fertig waren, den letzten Schliff verpassen, um sie für die breite Masse interessant zu machen.
Die ersten Erfolge feierte er mit einem abgehalfterten Schlagerstar. Er erstellte Remixe der großen Erfolge aus den Siebzigern und machte sie für die heutige junge Kundschaft wieder aktuell.
Der Schlagerhansel ließ sich jetzt am Ballermann von zwanzigjährigen Mädels vergöttern.
Dann trat das Glück mit einem lauten Knall in sein Leben. Er lernte auf einer Party einen Sänger und Songwriter kennen, der dort, nur zur Gitarre, seine Lieder zum Besten gab. König nahm ihn sofort unter Vertrag, bastelte ihm eine Studioband zusammen, peppte die Stücke ein wenig auf und warf die CD in kürzester Zeit auf den Markt.
Im Handumdrehen war sein Produkt die Nummer Eins in Deutschland. »Selbstfahrer« nannte er die Band und die Produktion wurde ein Selbstläufer. Ohne große Werbung, nur durch Mundpropaganda (und natürlich dem kleinen Helferlein Internet) verkaufte sich das Ding wie geschnitten Brot.
Die erste Auskopplung aus dem Album, eine tanzbare Uptemponummer mit dem gängigen Titel »Geil« schoss gleich in der ersten Woche von Null auf eins und hielt sich ganze vierzehn Wochen in den Top Ten. Mit der zweiten Auskopplung ging er ein Risiko ein, denn er entschied sich für eine Ballade, doch auch das Ding wurde von der Masse angenommen. »Zu spät« war noch länger in den Charts und wurde sogar als Newcomer des Jahres für den Echo nominiert.
Doch König ruhte sich auf dem Erfolg nicht aus. Er war immer auf der Suche nach neuen Acts und vor vierzehn Tagen war er auf einem kleinen Sommerfest in Heinsberg fündig geworden. Ein Duo stand dort auf der Bühne, mit Gitarre und Keyboard ausgerüstet, und brachte das Festzelt zum Tanzen.
Sie spielten hauptsächlich Cover Versionen bekannter Hits, doch hier und da ließen sie eigene Produktionen mit einfließen. König erkannte Talent, daran hatte er mittlerweile keine Zweifel mehr.
Die Beiden, mit denen er gerade die letzten Unklarheiten im Vertrag durchgegangen war, würden ihren Weg gehen. Und er würde kräftig mitverdienen.
Sie glichen nicht nur äußerlich einem bekannten und überaus erfolgreichen Popduo aus den Achtzigern und Neunzigern, nein, ihre Stücke waren auch genauso tanzbar und eingängig.
Zieh dich warm an, Dieter aus Tötensen, dachte der Produzent. Ein neuer König kommt.
Er bekam das Lächeln gar nicht mehr aus dem Gesicht.
König war natürlich nicht sein richtiger Nachname. Eigentlich hieß er Stefan Bauer, doch in der Musikbranche musste man ein wenig auf die Kacke hauen. Und da kam ein König nun einmal besser an als ein Bauer. Soviel war klar.
Er beglich die Rechnung und steckte dem Kellner ein großzügiges Trinkgeld zu.
Dann ging er zum Ausgang. Eine Frau Mitte vierzig, die mit zwei Freundinnen an einem Tisch saß, griff nach seinem Arm, als er an ihrem Tisch vorbei ging.
»Hallo, Herr König!«, hauchte sie und schenkte ihm einen verführerischen Augenaufschlag. »Was gibt’s Neues von Ihnen in den Charts? Wann kann ich mit der nächsten Selbstfahrer CD rechnen?«
Er betrachtete sie und war sich darüber im Klaren, dass er sie, wenn er sich nur fünf Minuten Zeit nahm, heute noch mit nach Hause nehmen konnte. Doch ihm stand nicht der Sinn danach.
Natürlich genoss er seinen Erfolg, samt dem damit einhergehenden Geld und zumindest anfangs hatte er auch seinen Erfolg bei den Frauen genossen. Doch die Affären hatten ihn bald ermüdet und ihm gezeigt, dass sie nur den Musikproduzenten sahen und nicht die Person Stefan König. Am Schlimmsten waren die Mädels, die sich ihm an den Hals warfen, mit ihm in die Kiste hüpften, um ihn am anderen Morgen mit ihren nicht vorhandenen Gesangskünsten zu beeindrucken. Das war stellenweise echt Harter Tobak gewesen.
Doch trotz dieser unschönen Vorkommnisse vergaß er nie, dass er immer mit potenziellen Kunden sprach. Sie mussten seine produzierten Platten kaufen. Ohne das Publikum war er nichts. Und deswegen hatte er, auch wenn es manchmal schwer fiel, für jeden ein nettes Wort.
»Die Jungs sind wirklich gerade im Studio und nehmen neue Songs auf«, sagte er. »Aber bis zum Erscheinen wird es noch eine Weile dauern. Tut mir leid.«
»Vielleicht haben Sie ja noch andere Musik, die Sie mir mal vorführen können?«, fragte die ein wenig zu stark geschminkte Frau und ließ dabei seinen Arm nicht los.
»Ja, vielleicht«, antwortete er vieldeutig und knipste der Dame ein Auge. »Aber leider nicht heute. Ich hab noch eine dringende Verabredung. Natürlich würde ich meine Zeit lieber im Kreise schöner Frauen verbringen«, schmeichelte er und nickte nun auch den beiden anderen Grazien zu. »Aber das Geschäft duldet leider keinen Aufschub.« Damit machte er seinen Arm frei und ging weiter. Drei Augenpaare bohrten sich schmachtend in seinen Rücken.
An der Tür des Restaurants wartete der Chef des Hauses und verabschiedete ihn persönlich. Auch das war eine Sache, die er auf der einen Seite genoss, die ihn manchmal aber auch ärgerte. Noch vor drei Jahren hätte er in dieser Nobelhütte nicht einmal einen Tisch bekommen und nun wurde er hofiert, obwohl er immer noch der Gleiche war. So sah er sich jedenfalls.
»Nun ja, vielleicht doch nicht mehr ganz der Gleiche«, schmunzelte er als er auf den Parkplatz hinaustrat. Noch vor kurzer Zeit hätte da ein verbeulter Golf auf ihn gewartet, jetzt war es ein nagelneuer Mercedes.
Kein schneller Sportwagen, so etwas brauchte er nicht. Aber den Komfort einer deutschen Luxuskarosse gönnte er sich doch.
Er stieg in den Wagen, schnallte sich an und fuhr Richtung Heimat. Sein Haus, in dessen Keller sich auch sein Studio befand, lag dort, wo früher das alte Gladbacher Stadion gestanden hatte. Als man den Bökelberg abriss, waren dort teure Eigenheime hochgezogen worden und er hatte vor einem Jahr eins davon erstanden. Manchmal zwickte er sich, um sich davon zu überzeugen, dass er nicht träumte. Zu schnell war dies alles gegangen.
Er fuhr den letzten Hügel hinauf, hielt vor dem großen, schmiedeeisernen Tor und drückte die Fernbedienung. Lautlos schwang es auf, ebenso das Tor zur Garage und er fuhr den Wagen hinein.
Durch eine Seitentür konnte er direkt von hier aus sein Haus betreten.
Er schaltete das Licht im Korridor ein, wischte sich die Schuhe von den Füssen, warf sein Sakko über die Garderobe und ging ins Wohnzimmer. In Weiß und Grau eingerichtet mit sehr futuristischen Möbeln sah es aus wie ein Bild aus »Schöner Wohnen«. Teure Bilder zierten die Wände und eine Sammlung beinahe ebenso teurer Whiskeys bestückte die Bar.
Er nahm sich ein Glas, füllte es zwei Finger breit mit einem erlesenen Single Malt und ließ sich auf die weiße Ledercouch fallen. Dann schaltete er den Fernseher ein. Bunte Musikclips von VIVA schimmerten ihm entgegen. Es war sein Standardprogramm. König musste auf dem Laufenden bleiben, neue Musiktrends schnell erkennen und gegebenenfalls aufspringen.
Wieder musste er lächeln, als er an den heutigen Abend dachte. Bald, wenn die CD der beiden Surferboys draußen war, würden andere Label dem von ihm gesetzten Trend hinterherlaufen.
Er freute sich darauf.
Der Whiskey rann angenehm weich durch seine Kehle und wärmte seinen Körper.
Er stellte den Fernseher ein wenig lauter und betrachtete kopfschüttelnd das neue Video von Miley Cyrus. Wo war nur die kleine Country Lady geblieben, die er so niedlich gefunden hatte. Der Teenie Star Hannah Montana. Was sich da auf einer Abrissbirne rekelte war eher was für den Porno-Kanal, noch nicht ganz vielleicht, aber auch nicht mehr weit davon entfernt.
Sex sells, dachte er und hoffte, dass er mit seinen Künstlern nie soweit gehen musste.
Den Fernseher einzuschalten war immer das Erste, was er tat, wenn er nach Hause kam, um von der Ruhe abzulenken, die sich sonst über das Haus gelegt hätte. Ruhe, die in schlechten Momenten in Einsamkeit um schwang.
Er schüttelte den Kopf und erhob sich, um sein Glas nachzufüllen. Der Abend war viel zu erfolgreich verlaufen, um ihn sich nun mit finsteren Gedanken zu versauen.
»Die richtige Frau wird auch noch in mein Leben treten«, flüsterte er.
In diesem Moment läutete jemand an der Tür.
Vielleicht ist sie das schon, dachte er oder es waren die Ladys aus dem Restaurant, die nicht so schnell aufgegeben hatten und ihm hierher gefolgt waren. Auch das wäre nicht zum ersten Mal passiert. Die Leute kamen manchmal auf die absonderlichsten Ideen.
König stellte das Glas auf den Beistelltisch neben dem Sofa und schlurfte zum Eingang.
Eine große Silhouette zeichnete sich durch das Milchglas der Tür ab. Zu groß für eine Frau, schoss es ihm durch den Kopf.
Er überlegte, ob er einen Termin verpasst hatte, doch er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. Wer sollte ihn also so spät noch besuchen?
Eigentlich hatte er schon länger eine Kamera einbauen lassen wollen, um die Menschen, die vor seiner Tür standen identifizieren zu können, aber er war bis jetzt noch nicht dazu gekommen.
Und nun stand ein Unbekannter vor der Tür.
Wie ist er überhaupt durch das Eingangstor gekommen, fragte sich König. Hatte sich das Ding nicht geschlossen? War die Mechanik mal wieder im Eimer und einer seiner Nachbarn wollte ihn darauf hinweisen? Es gab da so ein paar Vögel, die spät abends mit ihren Hunden patrouillierten und die umliegenden Grundstücke beobachteten. So eine Art privater Wachdienst. König konnte diese Leute nur belächeln. Sie befanden sich immer noch in Mönchengladbach und nicht in einem Krisengebiet.
Er hatte die Tür erreicht und der Schatten, den der Mann vor der Tür warf, war beunruhigend groß. Doch König war kein ängstlicher Mann. Er war körperlich gut in Form und hatte in seiner Jugend den einen oder anderen Kampfsport ausgeübt, auch einer der Gründe, warum er sich nie hatte vorstellen können, so etwas wie einen Bodyguard anzuheuern, selbst wenn seine Berühmtheit noch mehr durch die Decke schießen würde.
»Hallo?«, fragte er den Schatten. »Wer ist da?«
»Kramer. Ein Nachbar«, sagte die Stimme. »Tut mir leid, dass ich Sie so spät noch störe, aber irgendetwas stimmt mit Ihrer Gartenbeleuchtung nicht. Eine Lampe scheint genau in unser Schlafzimmer und ich krieg kein Auge zu.«
»Machen Sie doch die Rollos runter!«, war das Erste, was König durch den Kopf ging. Außerdem lagen die Häuser so weit auseinander, dass dieser Vorwurf ziemlich bescheuert war. Aber er wollte keinen Krach mit den Nachbarn. Immer schön freundlich bleiben!, dachte er. Bloß keine schlechte Presse. Er konnte sich keine Bildzeitungsschlagzeile erlauben, in der von einem unfreundlichen, arroganten Produzenten die Rede war. Solche Geschichten hatten schon ganz anderen Leuten das Genick gebrochen.
»Ich kümmere mich darum«, sagte er und öffnete die Tür.
Wenn das vor ihm ein Nachbar war, dann hatte er ihn auf jeden Fall noch nie hier gesehen. Der Mann war riesig, trug einen ungepflegten, langen Mantel und er stank. Das Gesicht wurde völlig von einem zauseligen Vollbart verdeckt und nur zwei kalte Augen blitzten König an.
War wohl ein Fehler die Tür aufzumachen, dachte er, brachte aber nur ein: »Wer sind Sie?« heraus.
Der Mann stellte sich nicht vor. »Willkommen in der Hölle!«, sagte er nur. Dann schoss seine Hand vor und eine Spritze bohrte sich in Königs Arm.
Der Produzent merkte wie ihm langsam schwindelig wurde. Er wollte die Tür schließen, doch der Riese hatte ihn schon im eisernen Klammergriff. Dann gingen die Lichter aus und es umfing ihn eine undurchdringliche Schwärze.