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Kapitel 1

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Mein ist der Schmerz

Martin Dolfen & Thomas Strehl

Der Spielplatz lag versteckt hinter einer Fabrik, aus deren Schornstein schwarzer Rauch quoll. Mitten auf dem dunklen Sand stand eine alte Schaukel. Abgeplatzter Lack an einem baufälligen Gerüst, das schwer an den rostigen Ketten zu tragen hatte, deutete darauf hin, dass an diesem Ort ewig schon nichts mehr Instand gehalten wurde. Man hatte dieses Fleckchen Erde, auf dem irgendwann einmal Kinder gespielt hatten, schlichtweg vergessen. Ein Feldweg endete genau hier, vor Gestrüpp und morschen Bäumen. Geschützt vor den Augen der Gesellschaft, zwischen dem alten Fabrikgelände und dem Dickicht hatten Jugendliche einen kleinen Trampelpfad zu diesem Platz angelegt, um ungestört sein zu können.

Doch an diesem Tag, einem außergewöhnlich mildem Oktobertag, war alles anders.

Robert schaute vor sich auf den Boden. Die Steine, die vor seinen Füßen lagen, hatten eine seltsam runde und glatte Form. Sie schimmerten, angestrahlt von der Sonne, die sich hinter den rauchenden Türmen vom Tag verabschiedete, leicht rötlich.

»Ich will euch noch kurz mit den Spielregeln vertraut machen.«

Robert blickte auf und schaute wieder in dieses unheimliche Gesicht. Er kannte den Mann nicht, der gerade mit ihm und den anderen Jungen sprach, die sich in einem Kreis verteilt hatten. Dieser Kerl hatte etwas Unheimliches. Sein langer Mantel wirbelte mit jedem Schritt, den er tat, ein wenig Sand auf. Der Bart in seinem Gesicht sah völlig zerrupft und deplatziert aus, so als hätte er ihn angeklebt. Er war angsteinflößend groß und seine Augen funkelten kalt. Und doch hatte Robert ihm Folge geleistet, als dieser Typ ihn eingeladen hatte, an einem Spiel teilzunehmen. Nun stand Robert Wenger mit seinen gerade einmal zehn Jahren hier und starrte auf den Unbekannten, der ihm erklärte, was nun zu tun war.

»Ihr seht vor euch zehn Steine. Eure Aufgabe besteht darin, die Konstruktion in der Mitte des Kreises zu treffen.« Der Bärtige schlenderte gelassen an den Jungen vorbei, schaute jedem prüfend ins Gesicht und deutete auf einen Jutesack, der sich ständig hin und her bewegte.

»Eure Belohnung für jeden Treffer ist eine Dose Cola und fünf Euro.« Bedeutungsschwanger hielt er ein Bündel Geldscheine in die Höhe und ließ es mit der rechten Hand über seinem Kopf kreisen. Die Jungen nickten sich zu. Einige grinsten, wegen der verlockenden Preise, die ihnen bevorstanden. Andere rieben sich die Hände, ungeduldig, endlich den ersten Stein in Richtung Sack schmeißen zu können.

»Ich gebe vor, wer wann wirft. Nehmt jetzt einen Stein in die Hand!«

Robert bückte sich und schnappte sich einen Stein von dem Haufen, der vor ihm lag. Er wog ihn in der Hand, um die Schwere genau abschätzen zu können. Dann legte er sein Gewicht auf den Vorderfuß, den er in den Sand eingrub, um einen besseren Stand zu haben.

Als der Mann »LOS!« schrie, holte der Junge mit der rechten Hand aus und ließ den Stein mit aller Wucht, die ihm zur Verfügung stand, in Richtung Jutesack sausen. Das Geschoss verfehlte sein Ziel nur knapp. Andere Jungen verpassten die Konstruktion ebenfalls, lediglich einer hatte es geschafft das Ziel zu streifen und wurde von dem Riesen mit fünf Euro und einer Dose belohnt, die er aus dem langen Mantel holte.

»Ihr seht, es ist nicht so einfach, also strengt euch an.«

Die Stimme des Mannes hatte einen bedrohlichen Tonfall angenommen. Robert war nicht mehr sicher, ob es eine gute Entscheidung war, an diesen Ort zu kommen. Seine Mutter hatte es ihm sowieso ausdrücklich verboten, doch da er sich immer wieder hier mit vielen Freunden traf, hatte er eingewilligt. Zweifelnd schaute er diesen seltsamen Menschen vor sich an. Es ist falsch, was ich hier mache, schoss es ihm durch den Kopf, doch er wollte sich vor den anderen nicht blamieren. Er hob den nächsten Stein vom Boden auf und konzentrierte sich. »LOS!«, zischte die Stimme des Mannes erneut und Robert legte all seine Kraft in den Wurf. Krachend knallte sein Stein gegen dieses zappelnde Etwas. Sofort lief irgendeine rotbraune Brühe aus dem Sack, während andere Kinder ihr Ziel abermals verfehlten.

Robert wunderte sich. Die Flüssigkeit sah aus wie ... Nein, das konnte nicht sein. Er verwarf den Gedanken und nahm den nächsten Stein in die Hand, während der Kerl ihm lächelnd fünf Euro in seine Westentasche steckte. Dann fingerte er aus seinem Mantel eine Dose Cola und stellte sie vor Roberts Füßen ab.

»LOS!«, hallte seine Stimme durch die Luft.

Dieses Mal trafen mehrere Kinder. Die dunkle Suppe floss nun in Strömen aus dem Sack. Das Zappeln hatte aufgehört. Die Jungen schwiegen.

»LOS!«, ertönte erneut diese Stimme. Robert kam sie nur noch grausam und durchdringend vor. Trotzdem warf er wie ferngesteuert weiter auf das Ziel und landete einen Treffer nach dem anderen. Der Zehnjährige blickte in die umstehenden Gesichter. Einige von ihnen waren Freunde, andere Fremde, die er noch nie gesehen hatte. Alle waren in Roberts Alter. Und jeder schien das Gleiche zu denken: Irgendetwas läuft hier gerade völlig falsch.

»Herrje, nun ist das verdammte Ding tatsächlich kaputt gegangen«, seufzte der Mann.

»Das tut mir leid. Ich bitte euch zu gehen. Ich werde die Maschine wieder abbauen und wehe irgendjemand von euch erzählt etwas von dem, was hier heute stattgefunden hat. Habt ihr verstanden?« Eingeschüchtert nickte jedes der Kinder. Alle liefen, so schnell es ihre Beine hergaben, nach Hause. Keines drehte sich wieder um. Keiner der Jungen wollte dem Mann noch einmal in die Augen schauen. In diese eiskalten blauen Augen.

Die Sonne warf ihre letzten Strahlen über das Fabrikgelände, so als würde sie sich vor dem Geschehen verstecken. Und als sie endlich ganz verschwunden war, ließ sie einen menschenleeren Platz zurück, auf dessen Boden eine rostige alte Schaukel vor sich hin vegetierte. Etwas abseits sickerte eine Lache in den trockenen Sand. Dunkelrot, stellenweise mit einem leichten Hauch von schwarz. Und mitten in dieser Flüssigkeit ragte etwas aus dem Boden hervor, beinahe unkenntlich. Der Wahnsinn hatte begonnen.

Sarah Peters griff zitternd zum Telefon. Nur mit Mühe gelang es ihr, die Nummer einzutippen.

»Kripo Mönchengladbach.«

»Hallo«, schluchzte sie. »Hier ist Peters. Sarah Peters. Ich hatte schon einmal angerufen.«

Der Mann am anderen Ende der Leitung klang genervt. »Ach ja, die Vermisstenmeldung«, meinte er. »Ich habe Ihnen doch bereits erklärt, dass wir erst nach Ablauf von 24 Stunden eingreifen.«

»Aber er ist gestern nach der Arbeit nicht nach Hause gekommen und hat sich nicht gemeldet, die ganze Nacht nicht.«

»Vielleicht muss er länger arbeiten und hat einfach vergessen, Sie zu informieren.«

»Nein, das ist noch nie passiert. Er ruft immer direkt an. Ich habe Angst, dass ihm etwas zugestoßen ist.«

»Hören Sie, Frau Peters«, sagte der Polizist. »Ihr Mann ist ein erwachsener Mensch. Die Gründe für sein Verschwinden können ganz banal sein. Ich bin sicher, er wird wohlbehalten wieder bei Ihnen auftauchen. Schon morgen werden Sie gemeinsam mit ihm über unser Telefonat lachen.«

Sarah legte auf. Sie merkte genau, wann sie abgewimmelt wurde. Wütend warf sie den Hörer auf die Aufladestation. Tränen liefen ihr über die Wangen. Wie ein Tiger im Käfig begann sie, im Wohnzimmer auf und ab zu laufen. Diese Ungewissheit brachte sie um. Sie wusste, dass Mark sie nicht einfach so warten lassen würde. Wenn er sie nicht anrief, dann konnte er sich nicht melden, weil …

Bilder schossen durch ihren Kopf: Schreckliche Szenen von Verkehrsunfällen, von Raubüberfällen, von Entführung und Mord.

Mach dich nicht verrückt, dachte sie. Obwohl dieser Zug schon lange abgefahren war. Komm ein bisschen runter und versuche klar zu denken!

Sie musste etwas tun. Wenn sie weiter nur abwartete, bis die Polizei etwas unternahm, würde der Nervenzusammenbruch nicht mehr lange auf sich warten lassen. Sie musste am Ball bleiben. Irgendwie auf die Situation reagieren.

Plötzlich sprang sie auf, riss eine Schublade auf und zog einen kleinen Zettel hervor. Dann nahm sie ihre Jacke von der Garderobe, schnappte sich die Autoschlüssel und verließ das Haus.

Obwohl es ihr schwer fiel sich auf den Verkehr zu konzentrieren, schaffte sie die Strecke in Rekordzeit. Heraus aus dem Villenviertel, in dem ihr Anwesen lag, hinein in die Vorstadt. Die Straßen wurden enger und waren immer schlechter beleuchtet. Die Fassaden wurden grauer, die Häuser machten den Eindruck, als kümmere sich niemand darum. Schließlich erreichte sie einen Hochhauskomplex, steuerte einen Parkplatz an und stieg aus. Vorsichtig sah sie sich um. Niemand war auf der Straße, alles war ruhig.

Wenn du jetzt selbst entführt wirst, ist niemandem gedient, dachte sie und wusste nicht einmal, warum ihr immer Dinge wie Entführung und Mord im Kopf herum spukten. Schließlich befand sie sich im idyllischen Mönchengladbach und nicht in der Bronx.

Bei diesen Gedanken musste sie, trotz der schwierigen Situation, fast schmunzeln. Denn wenn es in dieser Stadt so etwas wie die Bronx gab, dann war es sicherlich hier.

Sie steuerte auf eines der Hochhäuser zu und las die verwaschenen und beschmierten Klingelschilder unter Zuhilfenahme ihrer Handytaschenlampe. Sie hatte Glück. Der Name Peters stand noch dort.

Bevor sie der Mut verließ, legte sie schnell einen Finger auf die Klingel und drückte zu. Einmal, zweimal und dreimal.

»Ja?«, eine verschlafene raue Stimme.

»Hier ist Sarah.«

»Sarah?«

»Sarah Peters, die Frau deines Bruders.«

Ein kurzer Moment des Schweigens, dann: »Es ist vier Uhr morgens. Bist du verrückt geworden?«

»Dein Bruder ist verschwunden.« Wieder tat sich eine Zeit lang nichts, dann wurde der Türsummer betätigt und Sarah trat in ein muffiges Treppenhaus, dessen Wände mit Graffiti beschmiert waren. Der Fahrstuhl zur Rechten war defekt, das Treppengeländer klebrig und die blonde Frau verzog angewidert das Gesicht, während sie in den zweiten Stock hinauf stieg.

Als sie die letzte Ecke hinter sich ließ, sah sie, dass ihr Schwager sie bereits an der Wohnungstür erwartete.

Er lehnte lässig im Rahmen und trotz der schummrigen Beleuchtung bemerkte Sarah, dass die vier Jahre, in denen sie ihn nicht gesehen hatte, nicht eben freundlich mit ihm umgegangen waren. Er trug eine ausgebeulte kurze Trainingshose und ein ehemals weißes, jetzt grau fleckiges Shirt mit dem obligatorischen Borussia Zeichen darauf. Den Club gab es also noch in seinem Leben. Wenigstens etwas, das anscheinend beim Alten geblieben war.

Die schwarzen Haare, wild und zerzaust, waren noch voll, zeigten aber erste Ansätze von Grau. Die Augen waren rot unterlaufen, Kinn und Wangen hatten wohl gut eine Woche lang keinen Rasierapparat mehr gesehen. Sein Körper jedoch schien immer noch ganz gut in Schuss zu sein.

»Hallo Lieblingsschwägerin«, sagte er und schien nicht wirklich überrascht, sie hier zu sehen. So hatte er sie immer begrüßt, mit diesem leicht ironischen Unterton, denn sie war seine einzige Schwägerin.

»Hallo Mick.« Jetzt, da sie hier war und diesen Typen sah, schien ihr die Idee hierher zu kommen gar nicht mehr so genial.

»Was führt dich nach all den Jahren zu mir?«, fragte er schroff. »Du musst ganz schön verzweifelt sein, wenn du dich hier sehen lässt.«

Sie nickte zur Tür. »Müssen wir das hier im Flur besprechen?«, fragte sie.

Er gab augenblicklich die Tür frei und machte eine Armbewegung wie ein Torero. »Immer hinein in die gute Stube.« Er grinste. »Oder sollte ich sagen: In die Höhle des Löwen.«

Sie ignorierte den Zynismus und trat ein. Die Wohnung war winzig. Hinter einer offen stehenden Tür bemerkte sie ein höhlenartiges Bad ohne Tageslicht, außerdem gab es eine winzige Küche mit Kochzeile und ein kombiniertes Wohn-Schlafzimmer, in das er sie führte. Er zog einige Klamotten zur Seite, um ihr einen Sessel frei zu räumen, betrachtete den Kleiderstapel, den er nun in den Händen hielt und warf ihn mit einem Achselzucken auf den Boden.

Der Fernseher lief lautlos und er schaltete ihn aus. Dann nahm er auf einer Couch Platz, auf der Bettzeug lag, das schon bessere Tage gesehen hatte.

Sarah strich sich die Haare aus der Stirn und versuchte ihre Nervosität in den Griff zu bekommen. »Mark ist verschwunden!«, sagte sie dann, unfähig auch nur ein wenig Smalltalk zu kreieren.

»Wann?« Zum Glück schien ihr Gegenüber auch nicht an normaler Konversation interessiert zu sein.

»Er hätte gestern um spätestens sechs Uhr zu Hause sein müssen, aber er ist nicht erschienen. Und er hat mir keine Nachricht zukommen lassen. Kein Anruf, keine SMS, nichts …« Sie spürte Tränen aufsteigen, drängte sie aber zurück. Vor ihrem Schwager wollte sie keine Schwäche zeigen.

»Vielleicht gönnt er sich einen Wochenendtrip mit seiner Sekretärin.«

Sarah spürte heiße Wut. »Du bist ein Arschloch, Mick. Ich hätte wissen müssen, dass es ein Fehler war, hierher zu kommen.« Sie wollte aufstehen und gehen, doch er sprang auf und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

»Immer langsam«, meinte er. »Ihr habt mich damals auch nicht gerade in Watte gepackt. Ihr habt mir Dinge an den Kopf geworfen, von denen ich mich bis heute nicht ganz erholt habe.«

»Das war etwas völlig anderes.«

»Ach ja? Meine damalige Partnerin bezichtigt mich der Vergewaltigung und meine eigene Familie stellt sich auf ihre Seite, obwohl Aussage gegen Aussage stand?«

»Mick«, schluchzte Sarah. »Wir kannten alle dein Verhalten Frauen gegenüber.«

»Und trotzdem bist du heute hier! Alleine! In meiner Wohnung! Erscheint dir das nicht etwas gefährlich?«

Sarah konnte darauf nicht antworten. »Ich brauche Hilfe!«, stotterte sie nur. »Und du warst mal ein guter Polizist.«

»Falsch«, entgegnete der Mann gereizt. »Ich war der Beste. Und genau das hat dieser kleinen, Karriere geilen Schlampe nicht gepasst. Sie wollte hoch hinaus und ich war im Weg. Und jetzt meinst du, du kannst hier einfach nach all den Jahren auftauchen und mich um einen Gefallen bitten, nachdem ihr mich fallen gelassen habt? Nachdem du und mein feiner Bruder in den letzten Jahre in Saus und Braus gelebt habt und ich mich in diesem Rattenloch mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten musste?«

Sarah ließ den Wutausbruch über sich ergehen. »Er ist dein Bruder. Finde ihn Mick. Bitte!«

»Geh damit zur Polizei.«

»Glaubst du, dass ich das nicht schon lange getan habe?«, schrie sie ihn an.

»Oh, die 24-Stunden-Regel. Ich vergaß.«

»Hilf mir! Bitte!« Ihr Zorn war verflogen, die Tränen kamen wieder und diesmal war es ihr egal, dass er sie weinen sah. »Du kannst ihn finden.«

Er schien zu überlegen.

»Was fährst du im Moment für ein Auto?«, fragte sie plötzlich zwischen zwei Schluchzern.

»Schau dich um«, meinte er und diesmal lag Resignation in seiner Stimme. Er stand auf, ging kurz in die Küche und kam mit zwei Gläsern und einer Whiskyflasche zurück.

»Ich habe kein Geld für ein Auto. Das Bisschen, das ich bekomme, reicht gerade, um die Miete für diesen Palast zu bezahlen.« Er schüttete sich zwei Finger breit ein. »Auch einen?«

Sarah schüttelte angewidert den Kopf. »Nein danke.« Dann überlegte sie sich genau ihre nächsten Worte. »Draußen steht mein Porsche«, sagte sie. »Wenn du Mark findest, gehört er dir.«

Mick nippte an seinem Getränk und sah sie über das Glas hinweg an. Er antwortete nicht und Sarah wurde nervös. »Ist dir Bargeld lieber?« Mick knallte das Glas so fest auf den Tisch, dass der Whisky überschwappte.

»Kommt dir in deiner maßlosen Arroganz eigentlich keine Sekunde lang der Gedanke, dass mir mein Bruder etwas bedeutet? Dass ich ihn genau so dringend finden will wie du? Dass ich mir Sorgen mache? Dass mir die Familie eben nicht scheißegal ist? Ich weiß, dass ihr Geld habt. Ich habe euch die letzten Jahre nämlich nicht aus den Augen verloren. Aber du kannst dir deine Bezahlung in den Arsch stecken. Wenn ich Mark suche, dann weil ich es will und nicht wegen deiner Almosen.«

Sekundenlang schwiegen sie sich an und in die Stille hinein tönte plötzlich überlaut das Klingeln eines Handys.

Sarah schrak heftig zusammen, zuckte entschuldigend die Achseln, dann klaubte sie mit zitternden Händen das Telefon aus ihrer Handtasche.

»Sarah Peters?« Angestrengt lauschte sie der Stimme am anderen Ende der Leitung. Mit jeder Sekunde wurde sie blasser und atmete schwerer. »Ja, ja. Ich komme. Nein, Sie brauchen keinen Beamten zu schicken. Mein Schwager fährt mich.«

Sie beendete den Anruf, das Handy entglitt ihren Händen und fiel in ihren Schoß.

»Das war die Polizei«, erklärte sie. »Sie haben versucht, mich zu Hause zu erreichen, aber da ich nicht dort war, haben sie mich über Handy angerufen.«

Ich weiß, dachte Mick. Ich war dabei.

»Ich soll sofort aufs Revier kommen.« Sie verbarg das Gesicht in ihren Händen. »Er ist tot, Mick«, schluchzte sie.

»Das kannst du nicht wissen.« Es sollte ein Trost sein, half jedoch weder ihr noch ihm selbst.

Mühsam rappelten sie sich auf, nur widerwillig ließ sich Sarah zur Tür schieben.

Als könne sie das Unvermeidliche aufhalten, wenn sie nur hier sitzen blieb und nichts tat.

Die Fahrt ins Revier verlief schweigend. Mick wollte und Sarah konnte nicht reden. Zu viele Dinge schossen ihr durch den Kopf. Sie versuchte, sich auf das Kommende einzustellen, obwohl sie wusste, dass dies nicht möglich war.

Wenn Mark nur einen Rausch ausschliefe oder ein Verkehrsdelikt begangen hätte, dann hätte man sie am Telefon darüber informiert. Allein der Hinweis, dass man ihr einen Beamten schicken wollte, hatte ihr alles gesagt. Mark war tot und nicht nur das, nein, er war Opfer eines Verbrechens geworden.

Selbstmord, schoss es ihr durch den Kopf, doch das war Unsinn. Ihr Leben war perfekt. Es gab keinen Grund für eine solche Tat.

Mick steuert ihren Porsche in eine Parkbucht vor dem Revier. Er stieg aus und half ihr aus dem Wagen. Verwirrt bemerkte sie, dass sie derart zu zittern begonnen hatte, dass ein selbstständiges Laufen kaum möglich war. Er schleppte sie förmlich die Stufen hoch und durch die große Eingangstür. Vor einem Tresen blieb er stehen.

»Sarah und Michael Peters«, sagte er zu dem Beamten. Es war mitten in der Nacht. Normalerweise hätte der Wachhabende müde und gelangweilt sein müssen, doch er war aufgedreht wie nach drei Litern Kaffee. Kein gutes Zeichen.

»Kommen Sie direkt durch«, sagte er, offensichtlich froh nicht selbst mit den Ankömmlingen reden zu müssen. Micks ohnehin schon schlechtes Gefühl wurde dadurch nicht besser.

Der Beamte führte sie in ein kleines Büro, in dem ein stark schwitzender, übergewichtiger Polizist hinter einem mit Papieren übersäten Schreibtisch saß. Als er sie sah, erhob er sich und kam um den Schreibtisch herum auf sie zu.

»Setzen Sie sich bitte«, sagte er.

Dann schwieg er, faltete die Hände vor dem Bauch und tanzte von einem Bein auf das andere, wie ein Bär auf einer Heizplatte.

»Sie sind Sarah Peters, die Ehefrau von Mark Peters?«

Sarah brachte nur ein schwaches Nicken zustande. Sein Blick fiel auf ihren Begleiter. »Michael Peters«, stellte er sich vor. »Der Bruder des Vermissten.«

Als Mick seinen Namen nannte, schnellte eine Braue des Polizisten nach oben. So als könne er mit dem genannten Namen etwas anfangen.

»Ich …«, stammelte er. »Also vermisst ist nicht das richtige Wort.« Er schien in Gesprächen mit Angehörigen nicht besonders geübt zu sein. »Außerdem warte ich noch auf den Beamten der Kripo«, sagte er nervös und blickte auf seine Armbanduhr.

»Raus mit der Sprache!«, wies Mick ihn an. Dieses Rumgeeiere brachte niemandem etwas.

»Es tut mir furchtbar leid«, begann der Beamte, doch die wenigen Worte reichten, um einen erneuten Tränenausbruch bei Sarah auszulösen, »…aber Ihr Mann ist tot.«

Jetzt war es raus und obwohl Mick damit gerechnet hatte, zog es ihm für einen Augenblick den Boden unter den Füßen weg. Seit dem Tod seiner Eltern war Mark sein einziger Verwandter und auch wenn sie sich in den letzten Jahren entfremdet hatten, so war es nun doch, als schlüge ihm jemand einen Hammer auf den Kopf.

»Wie ist er gestorben?«, fragte er.

»Er, also er …« Der Beamte suchte offensichtlich verzweifelt nach angemessenen Worten, obwohl ihm klar war, dass es sie nicht gab. »Er wurde ermordet«, sagte er dann leise und zog den Kopf ein, als rechne er mit persönlichen Konsequenzen.

»Ermordet?«, schluchzte Sarah. »Aber … aber … wer tut so etwas?«

Der Polizist zuckte die Schultern. »Also, es ist seltsam …«, begann er, erinnerte sich aber dann daran, dass er es hier mit Zivilisten oder sogar potentiellen Verdächtigen zu tun hatte.

»Hatte ihr Mann Feinde?«

Mick schritt ein. »Sind sie sich überhaupt sicher, dass es sich bei dem Ermordeten um meinen Bruder handelt?«, fragte er.

»Ja, also«, stotterte der Mann erneut und war mit der Situation gehörig überfordert. »Er trug doch seinen Pass bei sich.«

Die Tür zum Büro wurde aufgerissen und ein jüngerer Beamter erschien. »Sind das die Angehörigen?«, fragte er und in seiner Stimme lag so etwas wie Autorität. Der Dicke nickte.

»Ich bin Kommissar Gotthard, vom Landeskriminalamt. Darf ich Sie bitten, mich zu begleiten? Ich bringe Sie zum LKA nach Düsseldorf. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir alles weitere erst vor Ort besprechen!«

Und zum zweiten Mal an diesem Tag stiegen sie gemeinsam in ein Auto. Diesmal allerdings in ein Polizeifahrzeug.

In Düsseldorf angekommen, wurde Sarah von einer jungen Polizistin in ein Büro geführt, wo man ihr einen Kaffee reichte. Mick wollte ihr folgen, doch Gotthard hielt ihn zurück. Mit einer Kopfbewegung auf die weinende Sarah erklärte er: »Jemand muss den Leichnam Ihres Mannes identifizieren. Natürlich verstehe ich, dass das für Sie in der jetzigen Situation sehr schwierig ist. Es besteht auch die Möglichkeit, dass ihr Schwager das für Sie übernimmt. Womöglich kann er mit dieser Situation besser umgehen.« Mick legte seiner Schwägerin die Hände auf die Schulter. »Er ist tot«, flüsterte sie immer wieder. »Er ist tot.«

Mick wusste nichts darauf zu antworten. Jeder Versuch eines Trostes würde misslingen.

»Ich bin gleich wieder da«, sagte er stattdessen und ließ sich von Gotthard in den Keller des Gebäudes führen.

»Wie kommen Sie darauf, dass ich besser mit der Situation umgehen kann?«, fragte er den jungen Kommissar.

»Sie waren mal einer von uns«, sagte er, als reiche dies als Erklärung. Als würde man mit der Ausübung dieses Berufes automatisch mit den Grausamkeiten der Welt besser umgehen können.

»Woher wissen Sie das?«

»Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. Als wir den Ausweis des Toten fanden, war alles andere, dank moderner Technik, ein Kinderspiel. Dabei kam natürlich auch Ihre Akte zum Vorschein.« Er pfiff leise. »Sie waren ja fast eine Legende«, sagte Gotthard. »Bis …«

»Wissen Sie was?«, unterbrach ihn Mick. »Vergessen Sie das. Lassen Sie uns die Sache hinter uns bringen, damit ich so schnell wie möglich von hier verschwinden kann.«

Sie erreichten den Kälteraum, in dem die Leichen bis zur Freigabe gelagert wurden. In einem hatte der junge Kommissar recht. Mick kannte sich hier aus. Das, was er hier tat, war für ihn nichts Neues. Wenn man von der unwesentlichen Tatsache absah, dass der Ermordete diesmal sein Bruder war.

Ein Mann im Kittel erschien und heftete sich an ihre Fersen. Vor einem der Fächer blieb er stehen, öffnete es und rollte eine Bahre heraus. Der Körper, der sich darauf befand, war mit einem grünen Tuch abgedeckt. »Atmen Sie noch einmal tief durch«, meinte Gotthard und tat es selbst. »Das ist kein schöner Anblick.« Dann zog der Kittelträger das Tuch vom Gesicht des Toten.

Mick hatte sich gegen alle Eventualitäten gewappnet, doch was er nun zu sehen bekam, war schwer zu ertragen.

»Wie?«, fragte er nur. Er hatte während seiner Dienstzeit viel gesehen. Kopfschüsse, Menschen, denen man den Schädel eingeschlagen hatte, doch dies …

Der Schädel war völlig deformiert, ein Auge war nicht mehr vorhanden, die Zähne, soweit nicht ausgeschlagen, waren völlig zersplittert.

»Was ist passiert?«, fragte er fassungslos. Eine kalte Wut, nur mühsam zu beherrschen, machte sich in ihm breit.

»Man hatte ihn bis zum Kopf eingegraben, mit einem Sack über dem Kopf. Und dann wurde er offensichtlich... ja, wie soll ich es am Besten ausdrücken? Es sieht so aus, als hätte man ihn gesteinigt.«

Der Kittel hatte sich in eine andere Ecke des Raumes verzogen. Gotthard schaute sich trotzdem um, ob fremde Ohren in der Nähe wären. »Das alles darf ich Ihnen eigentlich gar nicht erzählen«, meinte er. »Und das wissen Sie. Schließlich könnten Sie ein Verdächtiger sein.« Er lächelte schief. »Allerdings sind wir uns alle einig, dass dies kein normaler Mord ist. Jemand, der nur seinen Tod wollte, hätte sich etwas Leichteres ausgedacht. Nein, ich fürchte, wir haben es hier mit einem Irren zu tun.«

»Und warum?«

»Unsere Spurensicherung hat rund um den Toten nur Abdrücke von Kinderschuhen gefunden. Als ob ein Rudel Schüler Ihren Bruder erschlagen hätte. Aber so klein wie die Schuhe sind, hätten die ihren Bruder niemals überwältigen, geschweige denn eingraben können.«

Wieder schaute er sich verschwörerisch um. »Aber das haben Sie alles nicht von mir.«

Plötzlich wurde die Tür zum großen Raum aufgerissen, der Kittelträger nahm Haltung an und auch Gotthard schien zu erschrecken. Eine schlanke Frau mit rotem Pagenkopf und einem grauen Hosenanzug kam auf sie zu. Ihr Gesichtsausdruck verriet deutlich ihre Gefühle.

»Habe ich nicht eindeutig angeordnet, dass Sie auf mich warten sollen?«, sagte sie im Näherkommen leise, aber mit drohendem Unterton, zischend wie eine Schlange.

Wenn Mick gedacht hatte, der Tod seines Bruders sei wahrhaftig genug Elend für einen Tag, so wurde er nun eines Besseren belehrt.

»Hallo Daggi«, sagte er, nachdem er seine Stimme wiedergefunden und seine Überraschung überwunden hatte. »Ich freue mich auch dich zu sehen.«

»Für Sie Kriminalhauptkommissar Keller«, sagte sie. »Und eigentlich dürften wir uns nicht einmal im selben Raum befinden.«

»Oh, dass ich nicht in deine Nähe kommen darf, galt nur für zwei Jahre«, sagte Mick. »Die sind mittlerweile längst vorbei.«

»Und es kostet mich nur einen Anruf beim Staatsanwalt, um die alte Abmachung wieder geltend zu machen.«

»Du wirst doch nicht so nachtragend sein. Nachdem du mich aus dem Weg geräumt hattest, hast du dich doch weiter hochschlafen können. Da zählen doch so kleine Lichter wie ich gar nicht mehr.«

Gotthard hatte sich während ihres Gesprächs immer weiter aus der Schusslinie geschlichen. In einigem Abstand hielt er dennoch den Atem an und versuchte, sich unsichtbar zu machen. Es gelang nicht.

»Wir sprechen uns noch, Gotthardt«, fuhr seine Chefin ihn an.

Dann wandte sie sich wieder Mick zu. »Ist das Ihr Bruder?«

»Unzweifelhaft.«

»Dann sind Sie hier fertig. Sie können gehen. Aber halten Sie sich für weitere Fragen bereit.«

Sie kam ganz nah an Mick heran. »Im Moment bist du nichts weiter als ein Verdächtiger«, zischte sie. »Auch wenn ich weiß, dass das wahrscheinlich albern ist. Aber ich sage Dir eins, Mick und das unmissverständlich.« Er lächelte beinahe, als ihre Maske fiel und sie ihn wieder zu duzen begann. »Wenn du dich irgendwie einmischst, wenn du meinen Ermittlungen im Weg stehst, dann mach ich dich platt. Dann buchte ich dich schneller ein, als du »Amen« sagen kannst.« Sie zitterte leicht und das verursachte ihm Genugtuung.

»Und jetzt raus. Verschwinde!«

Gotthard nutzte seine Chance, zog ihn mit sich und beide entfernten sich schleunigst aus Kellers Nähe.

Mick hatte sich immer noch nicht beruhigt, als der Polizeiwagen Sarah und ihn bei ihrem Porsche in Mönchengladbach absetzte. Seine Schwägerin war völlig fertig, sie weinte nicht mehr, sondern saß einfach nur da und starrte aus dem fahrenden Wagen. Sie war völlig lethargisch und er musste sich eingestehen, dass ihm die in Tränen aufgelöste Frau von vorhin beinahe besser gefallen hatte. Jetzt schien sie einem Nervenzusammenbruch näher denn je.

»Kannst du heute Nacht bei mir bleiben?«, fragte Sarah, als sie vor ihrer Villa standen, die nun kalt und leer erschien

Er zuckte nur die Achseln, parkte den Wagen ein, führte seine Schwägerin ins Haus und bettete sie auf die Couch. Seltsamerweise schaffte sie es, irgendwann einzuschlafen und Mick deckte sie zu.

Dann begab er sich auf die Suche nach etwas Alkoholischem, fand eine gut bestückte Bar und genehmigte sich einen Whisky.

Lange starrte er durch das riesige Fenster, das einen Ausblick auf den parkähnlichen Garten bot und überdachte die Situation. Sein Bruder war tot, dem Anschein nach von einer Horde kleiner Kinder gesteinigt und die Sonderkommission, die man aufgrund der Schwere des Verbrechens gegründet hatte, wurde von seiner Intimfeindin angeführt.

Dagmar Keller, die Frau, die ihm alles genommen hatte.

»Ich finde deinen Mörder Mark!«, flüsterte er, nicht ahnend, dass es ein Tanz mit dem Teufel werden sollte.

Mein ist der Schmerz

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