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Kapitel 3
ОглавлениеAls Sarah Peters erwachte, brauchte sie ein paar Sekunden um sich zu orientieren. Sie befand sich nicht in ihrem Bett, sondern lag auf der Couch im Wohnzimmer.
Schlaftrunken setzte sie sich auf, rieb sich die schmerzenden verweinten Augen und dann überfielen sie mit einem Schlag die Ereignisse des gestrigen Tages.
Mark war tot, ermordet und Mick, ihr Schwager…
Ihr Blick schweifte durch den Raum und sie sah, dass der Schwarzhaarige auf einem Stuhl saß und durch das Fenster in den Garten starrte. Als er das Rascheln hinter sich hörte, drehte er sich um. Er sah furchtbar aus. Die Falten in seinem Gesicht schienen über Nacht tiefer geworden zu sein, selbst der Ansatz von Grau in seinen Haaren hatte sich verstärkt. Wenn Sarah je einen gebrochenen Mann gesehen hatte, dann jetzt und hier.
Mühsam rappelte sie sich auf, registrierte die Decke, die er wohl gestern über sie gebreitet hatte und ging zu ihm.
»Hast du gar nicht geschlafen?« Es war weniger eine Frage als eine Feststellung.
Er starrte wieder geradeaus, sein Blick fiel auf die Vögel, die die kleine Tränke benutzten, doch Sarah merkte, dass er zwar hinschaute, sie aber nicht sah.
»Ich werde dieses Schwein zu fassen bekommen!«, murmelte er. Kein »Guten Morgen«, kein »Wie geht es dir?«. Aber was hätten diese Fragen auch gebracht? Wie sollte es ihr schon gehen?
Gestern war ihre Welt noch in Ordnung gewesen. Sie und Mark waren gesund, wohlhabend, hatten alles gehabt, was man sich für Geld kaufen konnte und nun das.
So etwas gehörte doch ins Fernsehen oder in ein Boulevardblatt, aber nicht ins reale Leben ganz normaler Leute. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie ihr Leben ab jetzt ohne Mark würde bewältigen müssen. Dass er nicht auf einer Geschäftsreise war, sondern dass er nie wieder kommen würde. Sie spürte wie sich ein Schluchzen den Weg durch ihre Kehle bahnte, aber Tränen hatte sie keine mehr. Sie war leer. Und der einzige Mensch, der ihr Elend mit ihr teilte war jemand, den sie in den letzten Jahren verachtet hatte.
»Ich mache uns einen Kaffee«, sagte sie und ging in die Küche, lief vor dem Mann davon, der einen Gesichtsausdruck hatte, der sie das Fürchten lehrte. So sah jemand aus, der zu allem bereit, dem nichts mehr heilig war, ja, der wahrscheinlich sogar bereit wäre zu töten.
Sie schüttelte sich und versuchte den nächsten Gedanken zu verdrängen. Vielleicht war das alles nur Schauspielerei. Vielleicht hatte er seinen Bruder auf dem Gewissen. Hatte ihn umgebracht aus Wut oder aus Neid.
Sie schlug sich gegen die Stirn. Wenn sie so anfing, dann würde sie zweifellos bald verrückt werden. Nein, die Polizei schien ihn nicht zu verdächtigen, also warum sollte sie es tun.
Mit zitternden Händen bediente sie den Kaffeeautomaten und schaffte es irgendwie, völlig mechanisch, zwei Tassen zu füllen. Sie brachte sie zurück ins Wohnzimmer und drückte ihrem Schwager eine davon in die Hand.
»Danke«, flüsterte er.
»Ich danke dir«, sagte sie. »Danke, dass du dich gestern um mich gekümmert hast. Danke, dass du mir hilfst, all dies durchzustehen.«
»Danke mir, wenn ich diesen Irren erwischt habe«, sagte er rau.
Sie sah ihn an, sein Blick machte ihr immer noch Angst.
»Glaubst du nicht, dass das Sache der Polizei ist?«, fragte sie.
Die Wut in seinem Blick nahm weiter zu. »Hast du nicht mitbekommen, wer die Sonderkommission leitet?«, fragte er scharf. »Dieser Schlampe soll ich zutrauen den Mörder meines Bruders zu finden?« Er schüttelte aufgebracht den Kopf.
»Nein. Ich war immer besser als sie und ich werde es beweisen.«
Sarah wusste nicht, ob ihr die letzten Worte gefielen. Ob es richtig war, die Aufklärung des Mordes an ihrem Mann zu einem Wettbewerb zu erklären. Sie setzte sich wieder auf die Couch und hüllte sich in die Decke. Ihr war kalt, obwohl es trotz des frühen Morgens schon fast zwanzig Grad warm war. Doch die Kälte, die sie spürte, kam von innen. Jemand hatte ihr die Liebe ihres Lebens genommen und dieser Verlust stahl ihr die Wärme aus dem Herz.
»Wenn ich irgendetwas tun kann...«, begann sie. Mick kam zu ihr, stellte die Tasse auf den Tisch, kniete sich vor sie und nahm ihre Hände in seine.
»Du musst jetzt stark sein«, sagte er. »Musst dich hier um alles kümmern. Es gibt jetzt nach Marks Tod...«, er schluckte und es fiel ihm deutlich schwer weiter zu reden. »Es gibt hier jetzt so viel zu tun. Du musst dich um die Beerdigung kümmern, den Nachlass regeln und …«
Er verstummte kurz.
»Hast du Freunde, die dir dabei helfen können?«
Sarah überlegte lange und nickte dann schließlich.
»Ich kann dir bei diesen Dingen nicht beistehen«, sagte er. »Ich werde andere Sachen zu tun haben.«
Sie brauchte nicht zu fragen, was er im Einzelnen meinte.
»Brauchst du etwas?«, fragte Sarah dann. Mick sah seine Schwägerin an. Er hatte sie immer für eine Schickimicki-Trulla gehalten. Für Jemanden, dem shoppen, schicke Klamotten, die »richtigen« Leute zu kennen und ähnliche Oberflächlichkeiten das Wichtigste im Leben waren. In diesen Augenblicken belehrte sie ihn eines Besseren. Sie war stark und hielt sich verdammt gut.
»Ich werde etwas Geld brauchen«, sagte er. »Und die Schlüssel zu Marks Büro. Ich weiß, du sagst, er hätte keine Feinde gehabt, doch ich werde mir seine letzten Geschäfte und die Kunden mal ein wenig genauer anschauen.«
Er sah in ihrem Blick, dass es ihr nicht gefiel. »Ich muss irgendwo anfangen«, meinte er. »Irgendwer hatte einen riesigen Hass auf Mark. Einen solchen Groll, dass ihm ein normaler Mord zu gnädig erschien. Und ich werde herausfinden wer.«
Sie kramte in ihrer Handtasche und reichte Mick eine Kreditkarte. »Heb so viel ab, wie du brauchst«, sagte sie. »Am Geld soll es nicht liegen.« Nun rollte doch wieder eine Träne über ihr Gesicht. Geld, das ihr immer so wichtig gewesen war, hatte mit einem Mal seine Bedeutung verloren. Das, was ihr wirklich etwas bedeutet hatte, würde all ihr Reichtum ihr nicht mehr zurückbringen können.
»Kann ich dich alleine lassen und darf ich mir den Porsche noch einmal ausleihen?«, fragte ihr Schwager und Sarah nickte, obwohl sie im Moment nichts weniger wollte als allein gelassen zu werden. Ohne ein weiteres Wort machte sich Mick auf den Weg. Seiner Rache entgegen …
»Hallo Kurt. Hier ist Mick.«
»Mick? Mick Peters?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang echt überrascht. »Ich hab ja Monate nichts mehr von dir gehört.«
»War im Urlaub.«
»Ist klar.« Kurt Schneider zählte eins und eins zusammen. Er war nicht umsonst einer der besten Reporter bei der NGZ, aber jetzt hätte auch ein weniger begabter Mann gewusst was anlag.
»Das mit deinem Bruder tut mir wahnsinnig leid«, meinte er.
Die Zeitungen hatten über den Fall berichtet. Sensationsheischend zwar, aber trotzdem sachlich richtig im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Es war erwähnt worden, dass der erfolgreiche Immobilienmakler Mark Peters ermordet worden war, einige hatten sogar eine Steinigung angedeutet, doch die Presse hatte die beteiligten Kinder nicht erwähnt. Diesmal schien es so etwas wie Opferschutz zu geben.
»Ich brauche Informationen«, sagte Mick gepresst.
»Warum?«
»Stellst du dich absichtlich blöd?«
Kurt Schneider atmete hörbar aus. »Ich weiß nichts, was die Polizei nicht auch weiß«, sagte der Reporter. »Wende dich an deine Ex-Kollegen.«
»Das kann ich nicht und das weißt du. Also sag mir alles, was in deiner Redaktion über den Fall bekannt ist.«
»Und was ist dabei für mich drin?« Micks Hände wollten unbedingt durch die Leitung diesem Kerl an den Hals. Ging aber nicht. »Ich halte dich auf dem Laufenden mit allem, was ich heraus bekomme.«
»Dann ermittelst du auf eigene Faust?« Das Interesse des Reporters war geweckt.
»Ich werde den Mörder meines Bruders finden und du erhältst die Exklusivrechte.« Damit hatte er Kurt am Haken.
»Du weißt sicherlich, dass Kinder am Tatort anwesend waren?«, fragte er.
»Ja, ein junger unvorsichtiger Kommissar hat sich verplappert.«
»Die Polizei wollte, dass dies nicht an die Öffentlichkeit kommt. Was nur allzu verständlich ist. Und meine Kollegen und ich haben uns daran gehalten. Trotzdem gibt es Eltern, die mit genau dieser Sache Kohle machen wollen. Eine Mutter hat in der Redaktion angerufen und wollte uns ein Interview mit ihrem Sohnemann verkaufen. Für eine horrende Summe.«
Mick wunderte sich, dass kein Zeitungsmensch darauf eingegangen war. Kurt schien seine Gedanken zu erraten. »Der Junge würde seines Lebens nicht mehr froh werden«, sagte er. »Kinder können grausam sein. Er würde sicherlich von anderen als Mörder beschimpft. Selbst Reporter sind Menschen, manche sogar Väter. Nein, mit so einer Story will keiner was zu tun haben.«
»Ich brauche trotzdem den Namen«, sagte Mick. Und nach einer kurzen Verhandlung in der Kurts Kontonummer, die Zusage einer zeitnah erfolgenden Überweisung und das Versprechen sich wieder zu melden eine entscheidende Rolle spielten, bekam er genau das, was er haben wollte. Mick legte auf.
Es war wirklich nicht die beste Wohngegend in die Micks Weg führte. Heruntergekommene Drei- oder Vierfamilienhäuser oder Reihenhäuser mit abplatzender Fassade und vermüllten Gärten prägten das Straßenbild. Er hielt den teuren Porsche, der so gar nicht hierher passen wollte, kurz an und verglich die Hausnummern mit der Adresse auf seinem Zettel. Als er das richtige Haus gefunden hatte, parkte er den Wagen und stieg aus.
Es war gegen Mittag, das Wetter war schön, der Himmel wolkenlos, noch dazu war Wochenende. Die Straße hätte voller spielender Kinder sein müssen, doch über der ganzen Siedlung lag eine beinahe gespenstische Ruhe.
Mick atmete noch einmal durch, dann ging er auf ein schmales, mittleres Reihenhaus zu, bahnte sich den Weg an achtlos hingeworfenen Kinderfahrrädern und Bobby Cars vorbei und klingelte an der Eingangstür, deren ursprüngliche Farbe nicht mehr zu erkennen war.
Sekunden später wurde die Tür aufgerissen und ein etwa sechzehnjähriges, sehr stark geschminktes Mädchen starrte ihn an.
»Ja?«, fragte sie und knatschte mit ihrem Kaugummi.
»Mein Name ist Peters«, stellte Mick sich vor. »Bin ich hier richtig bei Familie…«, er blickte auf seinen Zettel, »… bei Familie Matthies?«
»Sind Sie ein Bulle oder einer vom Amt?«, fragte das Mädchen. Sie trug ein bauchfreies, neonfarbenes Top und Hotpants, die unwesentlich breiter waren als ein Gürtel. »Wenn Sie ein Kuckuckskleber sind, dann ham Sie ein Problem. Hier is schon lange nix mehr zu holen.«
Sie grinste und Mick bemerkte, dass ihre Zähne auch etwas von dem übermäßig aufgetragenen Lippenstift abbekommen hatten.
»Ist deine Mutter zu Hause?« Mick hatte keine Lust mehr auf diese Aushilfslolita.
Die Wasserstoffblonde drehte sich um. »Mum!«, schrie sie so laut, dass die Gläser in den Schränken klirrten. »Is für dich. Irgend so ein Typ.«
Ein Knirschen und Knarzen erklang, übertönt von Babygeschrei, dann erschien Frau Matthies auf der Bildfläche. Sie schien sich mit ihrer Tochter die monatliche Wasserstoffperoxid-Flasche zu teilen und ihr Gesicht war eine ältere verbrauchtere Version von dem ihrer Tochter. Zum Glück hatten die beiden nicht den gleichen Klamottengeschmack. Wobei es allerdings auch schwer gefallen wäre, diese Massen in ein Top und Shorts zu zwängen.
»Wat issen?«, fragte die Frau breit und Mick bemerkte beinahe amüsiert, dass auch in diesem grellrot geschminkten Mund ein Kaugummi vorhanden war.
»Mein Name ist Peters«, stellte er sich noch einmal vor.
»Endlich ein Schreiberling, der sich traut, eine ordentliche Story zu bringen?«, fragte die Dicke und Mick sah beinahe die Eurozeichen in den Augen der Frau.
»Der Ermordete war mein Bruder«, sagte er, um seine Gesprächspartnerin direkt einzunorden.
»Oh!« Frau Matthies musste diese Information erst verarbeiten. »Mein Sohn konnte das nicht wissen«, sagte sie. »Keiner der Jungs konnte das wissen. Er hat sich nicht strafbar gemacht, das hat die Polizei gesagt. Und verklagen lohnt sich auch nicht, hier is nix zu holen.«
Ja, das hatte Mick gerade schon einmal gehört. Die Frau trat einen Schritt zurück und er befürchtete, dass sie kurz davor war, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen.
»Ich will Ihnen nichts«, sagte er beschwichtigend. »Und ich bin Ihrem Sohn nicht böse. Ich würde mich nur gerne einmal mit ihm unterhalten.«
»Die Bullen haben das schon getan.« Mick nickte. »Ich weiß«, sagte er. »Trotzdem…«
»Über diese Sache zu reden, regt ihn fürchterlich auf.«
Klar und deshalb wollten Sie Ihrem Sohn auch ein paar Reporter auf den Hals hetzen, dachte Mick. Laut meinte er: »Es soll nicht zu Ihrem Schaden sein« und zog einen Hundert-Euro-Schein aus der Tasche. »Nur für Ihre Mühe. Und vielleicht können Sie Ihrem Sohn davon etwas kaufen, was ihn von dieser schlimmen Geschichte ein wenig ablenkt.«
Sie nickte so schnell, dass ihr Doppelkinn in Wallung geriet. Und Mick wusste im selben Moment, dass der Kleine von der Kohle nichts sehen würde. Das Geld würde todsicher für einen hunderter Pack Kaugummis und einen Eimer Haarfarbe draufgehen.
»Aber nur ganz kurz«, meinte sie und Mick wollte schon eintreten, doch die Dicke versperrte weiter den Weg. »Kevin?«, schrie sie und auch ihre Stimme war ähnlich lieblich wie die ihrer Tochter. »Kevin? Komm ma runter!«
Sie warteten und Mick dachte schon, dass der Kleine nicht erscheinen würde, doch dann kam ein verschüchterter Junge mit gelocktem blondem Haar an die Tür. Im Gegensatz zu seiner weiblichen Sippschaft war bei ihm das Blond allerdings echt.
»Der Mann hat ein paar Fragen an dich«, sagte sie und schob den Jungen durch die Tür.
»Hallo Kevin«, sagte Mick und begann, sich unwohl zu fühlen. Der Umgang mit Kindern war ihm nicht wirklich vertraut und doch musste er es irgendwie schaffen, den Jungen auf seine Seite zu ziehen. Er sollte sich ihm öffnen, sollte möglichst keine Angst vor ihm haben.
Frau Matthies schien jetzt, nachdem sie hundert Euro erhalten hatte, das Interesse an dem Gespräch zu verlieren, denn sie zog sich ins Haus zurück und ließ Mick mit ihrem Sohn allein.
Allein mit einem wildfremden Mann und das nach den Geschehnissen der letzten Stunden.
Mick spürte, dass er wütend wurde, doch dieses Gefühl konnte ihm jetzt nicht helfen, stand ihm eher im Weg.
Kevin trat von einem Fuß auf den anderen und traute sich nicht, Mick in die Augen zu sehen.
Seine Hände umklammerten sein T-Shirt auf dem Spiderman zu erkennen war.
»Der Typ ist cool, oder?«, fragte Mick und deutete auf das Bild.
Kevin brauchte einen Moment, um zu verstehen. »Sie kennen Spiderman?«, fragte er erstaunt.
»Klar. Als ich in deinem Alter war, habe ich die Comics gefressen und die Filme schaue ich mir heute noch gerne an.«
»Die Filme hab ich auf DVD«, sagte der Junge stolz. »Auch den ganz Neuen schon.«
»Den finde ich auch super. Aber vor der Echse hab ich ein bisschen Angst gehabt.«
»Sie haben Angst?« Kevin bekam große Augen. »Aber Sie sind erwachsen.«
»Auch Erwachsene haben Angst«, sagte Mick und setzte sich auf die Treppe vor dem Haus. »Das hört nie auf. Und böse Dinge passieren immer.« Der Junge setzte sich neben Mick.
»Sie meinen den bösen Mann, der uns die schlimmen Dinge hat tun lassen?«
Mick nickte. »Ihr konntet nichts dafür«, sagte er. Kevin sah stur geradeaus.
»Er hat gesagt, es wäre ein Spiel«, meinte er dann und die Geschehnisse der letzten Stunden schienen in ihm wieder hochzukommen. Mick tat der Junge leid, doch er brauchte Informationen.
»Er hatte Cola-Dosen dabei und Geld... und er hat gesagt, es wäre ein Apparat in diesem Sack, der es uns schwer machen würde, ihn zu treffen. Und so war es dann auch. Der Sack zuckte hin und her. Jedenfalls am Anfang.« Grauen packte Mick als ihm klar wurde, wie die letzten Sekunden seines Bruders ausgesehen hatten. »Ich hab nicht gut getroffen«, sagte Kevin. »Ich kann nicht so gut werfen.« Ob es stimmte oder ob er seine kleine Seele damit reinwaschen wollte, wusste Mick nicht. Ihm tat der Kleine nur aufrichtig leid.
»Wenn ich Spiderman wäre, dann würde ich diesen bösen Mann jagen«, sagte er plötzlich. »So wie Peter Parker den Mann fangen wollte, der seinen Onkel umgebracht hat.«
Mick sah den Jungen an. »Ich bin kein Superheld«, sagte er. »Aber ich will diesen Mann bekommen.«
Kevin blinzelte. »Sind Sie ein Polizist?«, fragte er.
»Ich war mal einer.«
»Und jetzt? Sind Sie ein Privatdetektiv oder sowas?«
»Ja, so könnte man es ausdrücken. Und deshalb muss ich alles wissen, was dir an dem bösen Mann aufgefallen ist.«
Der Junge überlegte. »Er war riesig groß«, sagte er dann. »Der Freund meiner Schwester ist beinahe einen Meter neunzig, aber der Mann in dem Mantel war noch größer.«
»Und sonst?«
»Er trug so einen langen Mantel, der fast bis zum Boden ging. Mit ganz vielen Taschen und einer Kapuze. Und er hatte einen langen Bart. Wie Gandalf, der Zauberer, nur in schwarz. Aber ich glaube, der war nicht echt.«
»Wie kommst du darauf?«
»Wir haben in der Schule mal ein Weihnachtsstück aufgeführt und ich war einer von den Hirten. Da hab ich auch einen langen Bart gehabt. Der war so ähnlich.«
Mick notierte im Kopf alles, was der Kleine sagte. Auch wenn die offensichtliche Verkleidung des Mannes die Suche nach ihm fast unmöglich machte.
»Wie hat er gesprochen?«, fragte er dann. »Sprach er gutes Deutsch oder könnte es ein Ausländer gewesen sein? Oder sprach er Platt oder Bayrisch oder irgendwie komisch?«
Bei der Erwähnung des Bayrischen musste der Junge lachen. »Sie mögen keine Bayern oder?«
»Wie kommst du denn da drauf?«
Kevin deutete auf Micks Shirt, auf die Borussia Mönchengladbach Raute, und dem Mann wurde klar, dass er sich dringend umziehen musste. »Okay«, meinte er dann. »Wie ich sehe, bist du nicht nur Spiderman-Fan, sondern kennst dich auch noch im Fußball aus.«
Der Junge schien mit dem Lob ein paar Zentimeter zu wachsen. Dann kam er wieder auf das eigentliche Thema zu sprechen. »Nein, der Mann sprach ganz normal. Wie Sie und ich.«
»Kannst du mir zeigen, wo das passiert ist?«, fragte Mick dann. Kevin rutschte unruhig hin und her. »Du brauchst nicht mit mir dort hinzugehen. Es reicht, wenn du mir ungefähr zeigst, wo es war.«
Der Junge deutete ans Ende der Siedlung. »Da hinten ist ein Spielplatz«, sagte er. »Und etwas weiter dahinter ist ein Grundstück, wo mal ein Haus gebaut werden sollte. Das ist aber nur halb fertig. Schon seit Jahren. Eigentlich dürfen wir da nicht hin, aber…«
Mick wusste, was der Junge meinte. Ihn hatte es in seiner Kindheit auch immer zu den verbotenen Plätzen gezogen.
»Kennst du die anderen Jungen?«
Er nickte. »Die meisten«, sagte er. »Mein bester Freund Robert war auch dabei. Der wohnt zwei Straßen weiter.« Und er nannte Mick die Adresse. Dann begann er wieder aufgeregt hin und her zu rutschen. »Gehen Sie auch zu den anderen?«, fragte er dann.
»Kann schon sein.«
»Robert und ich dürfen nicht zusammen spielen«, sagte er dann. »Seine Eltern finden, ich bin kein guter Umgang.«
Der Junge konnte einem leid tun. »Ich werde nicht sagen, dass ich von dir komme«, erwiderte Mick und erhob sich. »Versprochen!« Er wollte Kevin nicht länger quälen zumal er ohnehin annahm alles erfahren zu haben, was der Junge wusste. »Wenn dir noch irgendetwas einfällt, dann kannst du mich anrufen«, sagte er und reichte ihm einen Zettel mit seiner Handynummer. »Oder wenn du einfach mal mit jemanden reden willst.« Eigentlich hätte der Junge psychologisch betreut werden müssen, doch Mick war klar, dass das in dieser Familie wohl nicht passieren würde. Hoffentlich würde der Junge mit dem Schock zurechtkommen.
»Vielen Dank, Kevin«, sagte er. »Du hast mir sehr geholfen.«
»Finden Sie den bösen Mann!«, sagte Kevin und jetzt traten Tränen in seine Augen.
»Versprochen!«, sagte er noch einmal und war überzeugt davon. Dann ließ er den Jungen mit seiner ungewissen Zukunft zurück.
Die Besichtigung des Tatorts brachte gar nichts. Das Gelände war nicht mehr abgesperrt, die Spurensicherung sicherlich gründlich gewesen und für Mick gab es nur Fußabdrücke und ein Loch zu sehen. Das Loch, welches das eigentliche Grab seines Bruders war. Zu einem Gespräch mit Kevins Freund, von dem er sich neue Erkenntnisse erhofft hatte, kam es erst gar nicht. Der kleine Robert wurde von einem intakten Elternhaus abgeschottet, er hatte bis jetzt noch nicht einmal erfahren, was sich in dem Sack befunden hatte. Seine Mutter, die Mick an der Eingangstür des Einfamilienhauses empfing, ließ kein Treffen mit ihrem Sohn zu. So unterschiedlich ging man mit den Ereignissen um.
Nur, dass es auch diesen fürsorglichen Eltern nicht gelingen würde, alles Elend von ihrem Filius fernzuhalten. Schließlich wusste Kevin bescheid und er würde es, trotz aller Verbote, früher oder später seinem Freund erzählen. Und Mick nahm stark an, dass der kleine Kevin, der schon viel früher am wahren Leben schnuppern musste, wahrscheinlich besser damit würde umgehen können als der behütete Robert.
Mick stieg in den Porsche und fuhr zu seiner Wohnung. Er brauchte dringend frische Klamotten und eine Dusche. Und eine zündende Idee, wie es weiter gehen sollte …