Читать книгу Mein ist der Schmerz - Thomas Strehl - Страница 6

Kapitel 4

Оглавление

Jenny Meurers schloss die Tür ihres Friseursalons, schnaufte noch einmal tief durch und ging zu ihrem Wagen, einem fünfzehn Jahre alten Renault Twingo. Das eigene Geschäft war ihr Traum gewesen, ein Traum, der sich langsam zu einem Alptraum entwickelte.

Sie hatte sich verschuldet, als sie den Salon vor drei Jahren in dem guten Glauben eingerichtet hatte, alles fix zurückzahlen zu können. Doch die Kunden, die anfänglich in Scharen gekommen waren, blieben nach und nach aus. Es gab mittlerweile in unmittelbarer Nähe Konkurrenz, welche die Preise kaputt machte und das Geld der Kunden saß nicht mehr so locker. Schon vor einem halben Jahr hatte sie ihrer letzten fest angestellten Friseurin kündigen müssen. Nun arbeitete sie nur noch mit zwei Vierhundert-Euro-Kräften und samstags morgens stand sie alleine im Laden. Und doch waren es nicht ihre eigenen Probleme, die sie in den letzten Tagen vordringlich beschäftigten. Vielmehr gingen ihre Gedanken immer wieder zurück zu ihrem letzten Besuch bei ihrem Vater. Diese Geschichte mit dem Blumenzüchter wurde ihr von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde suspekter und sie hatte beschlossen, noch heute ihrem Vater einen weiteren Besuch abzustatten. Natürlich brauchte ihr Vater das Geld, das war ihr klar. Sie selbst wäre, in ihrer jetzigen Lage, bei fünfhundert Euro wohl auch schwach geworden. Trotzdem oder gerade deswegen, war an dieser Sache etwas faul. Und sie war fest entschlossen, noch heute herauszubekommen was das war.

Sie steuerte das Vierfamilienhaus an, in dem ihre bescheidene Wohnung lag und tätigte noch vom Auto aus einen Anruf. Als sie vor ihrer Bleibe einparkte, sah sie, dass Bernd Kramer, ihr Freund, schon auf sie wartete. Sie kannten sich nun seit vier Monaten. Es lief gut zwischen ihnen und Jenny hatte die Hoffnung, dass eine dauerhafte Beziehung daraus werden könnte. Und jetzt war die Chance gekommen, Bernd ihrem Vater vorzustellen.

»Hallo Bernd«, begrüßte sie den Mann mit der sportlichen Figur, die ihr so gut gefiel.

»Hallo, mein Schatz.« Er nahm sie in den Arm und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen.

»Was ist passiert?«, fragte er. »Du klangst so aufgeregt am Telefon. Ärger im Laden gehabt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich keinen Ärger gehabt hätte«, meinte sie und lächelte schief. »Aber darum geht es mir heute nicht. Ich wollte meinen Vater in Wanlo besuchen und ich hatte gehofft, du würdest mich begleiten.«

Bernd sah an sich herab. Er trug eine ausgebeulte Jeans und ein Polohemd. Dazu ein Paar schwarze Nikes. »Wenn ich gewusst hätte, dass ein Besuch beim Schwiegervater ansteht, dann hätte ich mir einen Anzug angezogen.«

Jenny lachte. »Du im Anzug«, sagte sie. »Aber lass mal. Wenn ich jemanden im Anzug mitbringe, dann fällt mein Vater glatt in Ohnmacht.« Sie lächelte immer noch. Ihr war nicht entgangen, dass Bernd ihren Vater als »Schwiegervater« bezeichnet hatte. Also war es ihm wohl auch ernst.

»Ihr werdet euch gut verstehen«, sagte sie. »Jedenfalls, wenn du ein paar Bierchen mit ihm trinkst.« Ihr Freund grinste. »Daran soll es nicht scheitern, aber dann wirst du fahren müssen.« Mit diesen Worten kletterte er in Jennys Wagen.

Keine halbe Stunde später hielten sie vor Jennys Elternhaus.

»Hier bin ich aufgewachsen«, sagte sie. »In dieser Straße und in diesen Gärten habe ich meine ganze Kindheit verbracht.«

Bernd sah sich um. »Jenny Räubertochter.«

»Genau. Wenig Fernsehen, keine Gameboys, keine Handys und keine PCs. Und doch eine glückliche Kindheit. Das kannst du den heutigen Kids gar nicht mehr erklären.«

Sie traten durch die Gartenpforte. »Hallo, Papa!«, rief sie. »Ich bin es, Jenny. Und ich habe eine Überraschung mitgebracht.«

Sie sah sich um. Das unbeschwerte Gefühl, das sie auf dem Weg hierher gehabt hatte, verschwand augenblicklich. Etwas stimmte nicht. Bei diesem Wetter und um diese Zeit musste ihr Vater eigentlich im Garten sein. Er hielt es bei Sonnenschein gar nicht im Haus aus. Entweder pflegte er Rasen und Beete oder er saß auf der Bank unter dem großen Fenster. Doch Garten und Bank waren verwaist.

»Das ist komisch«, bemerkte sie. Bernd spürte die Besorgnis in der Stimme seiner Freundin.

»Vielleicht hat er sich einfach ein bisschen hingelegt«, entschied er, doch Jenny schüttelte den Kopf und eilte auf das Haus zu. Sie brauchte nicht zu klingeln, die Tür stand offen.

»Papa?«, rief sie und schaute nacheinander ins Wohnzimmer und in die kleine Küche.

Niemand antwortete. Und plötzlich wusste Jenny, wo sie ihren Vater antreffen würde. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Irgendetwas sagte ihr, dass etwas Schreckliches geschehen war.

Sie drängte sich am verblüfften Bernd vorbei und lief durch den Garten auf die Laube zu.

Noch bevor der Mann ihr folgen konnte, hörte er seine Freundin schreien. Ein Schrei so voller Kummer und Leid, dass ihm ein Schauer über den Rücken lief. Er wirbelte herum und eilte ihr nach.

Die Laube war zur Gartenseite voll verglast und Bernd sah, dass Jenny am Boden kniete und sich über etwas beugte. Schon nach drei weiteren Schritten erkannte er, dass es sich um eine reglose Gestalt handelte.

»Papa!«, kreischte Jenny. »Papa, sag doch was!« Sie hielt den Kopf des alten Mannes im Schoß und wiegte ihn hin und her. Bernd kniete neben ihr nieder und versuchte sofort, einen Puls oder Atmung zu finden. Doch er begriff schnell, dass hier jede Hilfe zu spät kam. Alleine an der Körpertemperatur merkte er, dass Jennys Vater schon länger tot war.

»Ich rufe einen Krankenwagen«, sagte er trotzdem, da er seine weinende Freundin vorerst nicht noch mehr verängstigen wollte. Aber Jenny schien ihn gar nicht zu hören. Sie schluchzte haltlos, nur unterbrochen von Papa...Papa Rufen und nahm den Rest der Welt nicht mehr wahr.

Bernd nestelte sein Handy aus der Hosentasche und trat ein paar Schritte weiter in die Laube, weg von den Geräuschen. Er hatte den alten Mann nicht gekannt, trotzdem nahm ihn die Situation mit und er zitterte leicht. Als er die ersten beiden Zahlen eingetippt hatte, fiel ihm plötzlich der Geruch auf. Nein, Geruch war nicht das richtige Wort. Hier hinten herrschte ein geradezu infernalischer Gestank. Er bemerkte die ausgezogene Holztreppe, die auf den Dachboden führte und für einen Augenblick vergaß er den Anruf und erklomm erst zwei, dann drei Stufen.

Es waren Füße, menschliche Füße, die er zuerst zu sehen bekam. Dann trieb ihn die Neugier höher und mit jeder Stufe wurde das Bild, das sich ihm bot, grauenhafter und unfassbarer.

Er taumelte die Treppe hinab, wankte an Jenny vorbei, die ihn zum Glück, immer noch nicht wahrnahm, stürzte in den Garten und kotzte sein Frühstück in einen Rosenbusch. Obwohl seine Finger jetzt zitterten wie noch nie zuvor in seinem Leben, schaffte er es doch, einen Anruf zu tätigen. Doch er rief keinen Krankenwagen, sondern die Polizei und begann die Sekunden zu zählen, bis das erlösende Blaulicht erschien.

Stefan Bahr war zur Polizei gegangen, weil sein Vater und sein Opa bereits die Uniform getragen hatten. Familientradition nannte man das wohl. Er saß mit seiner Partnerin, Veronica Dimmers, im Streifenwagen auf einem McDonalds-Parkplatz und gönnte sich gerade einen Cheeseburger, als das Funkgerät knackte.

»Einsatz in Wanlo«, sagte die Stimme aus der Zentrale und nannte die genaue Adresse. Und dann kamen ein paar Ungeheuerlichkeiten dazu, auf die sich Stefan keinen Reim machen konnte. Sie sollten vor Ort nach dem Rechten sehen und zur Not weitere Schritte einleiten. So langsam hatte der Polizist die Nase voll. Erst der Mord an diesem Immobilienfritzen und jetzt diese Geschichte. Wenn sie wirklich stimmte, dann war es wohl an der Zeit, sich nach einem neuen Job umzugucken. Er wollte Ladendiebe festnehmen oder Handtaschendiebstähle aufklären, aber keine Mordtatorte besichtigen. Schließlich befand man sich in Mönchengladbach und nicht in New York oder wenigstens in Berlin. Stefan schaltete das Blaulicht ein und raste los.

Keine fünf Minuten später hatte der Cheeseburger seinen Magen wieder verlassen. Etwas Derartiges hatte Stefan noch nie gesehen und er hätte es sich auch in seinen schlimmsten Alpträumen nicht vorstellen können. Eines war jedenfalls sonnenklar. Dies hier war kein einfacher Mord, sondern die Tat eines völlig durch geknallten Irren. Eines Wahnsinnigen, der in diesem beschaulichen Städtchen frei herumlief. Wenn ihm nicht schon schlecht gewesen wäre, dann hätte dieser Gedanke ausgereicht, um ihm den Magen umzudrehen. Gott sei Dank war sein Job hier fast beendet. Er würde nur noch den Tatort absperren und auf Verstärkung warten. Die Kollegen, die dann hier übernehmen würden, beneidete er weiß Gott nicht. Er griff zum Funkgerät, während seine Partnerin die beiden Zeugen vom Tatort weg, in Richtung Haus, führte, und ließ sich mit der Zentrale verbinden. Und mit dem LKA, dessen Beamte in dem brutalen Mord an Mark Peters ermittelten und die gerade dabei waren, sich ein Büro in der Gladbacher Dienststelle einzurichten. Wenn die schon einmal vor Ort waren, sollten sie sich diese Sauerei hier direkt mal ansehen.

Stefan Bahr brauchte nicht lange zu warten, bis eine schlanke Frau in einem teuren Hosenanzug und ein junger Mann im Anzug erschienen.

»Kriminalhauptkommissar Keller«, stellte sich die Dame schneidend vor. »Wer hat die Leiche gefunden?«

»Leichen«, korrigierte der Streifenbeamte und erntete einen Blick, der ihn frösteln ließ. Mit dieser Frau war nicht gut Kirschen essen. Gut, dass es nicht auf eine längere Zusammenarbeit hinaus laufen würde. Die Mordfälle waren für einen einfachen Streifenpolizisten wie ihn glücklicherweise eine Nummer zu groß.

Er machte Meldung, wie sie den Tatort vorgefunden hatten, und verwies auf seine Kollegin und die Zeugen. Dann tat er beschäftigt mit dem Absperren des Gartens und war froh, als weitere Polizeiwagen eintrafen. Nur weg aus der unmittelbaren Nähe dieser Hosenanzug-Hexe.

Dagmar Keller überspielte ihre Nervosität mit rigorosem Auftreten. Als die Meldung kam, dass wieder ein Mord passiert war, offenbar noch bizarrer als der Erste, hatte sie für einen Moment der Schreck ereilt. Sie war noch nicht lange Kriminalhauptkommissar und da derartige Fälle in ihrem Bezirk nicht gerade an der Tagesordnung waren, betrat sie hier völliges Neuland. Der Schrecken war jedoch schnell überwunden als ihr bewusst wurde: Dies hier konnte ihre große Chance werden. Sie, Dagmar Keller, würde es allen zeigen.

Mit Gotthard als Schatten durchquerte sie den Garten und erreichte die Laube und den ersten Toten. Aufmerksam sah sie sich um, hoffte auf ein baldiges Eintreffen der Spurensicherung, wollte sich aber vorher schon einen Überblick verschaffen.

»Achten sie darauf hier nichts durcheinander zu bringen«, wandte sie sich an den jungen Kommissar. »Ich will mir nicht nachsagen lassen, wir hätten Spuren verwischt.«

Gotthard verzog das Gesicht.

Hier waren schon Streifenbeamte und Zeugen, die hin und her gelaufen sind, sollte seine Miene sagen. Was können wir da noch groß ruinieren? Doch er sprach es wohlweislich nicht aus, weil sein Verhältnis zu seiner Chefin aus einer gesunden Mischung aus Respekt und Angst bestand.

Keller kniete sich neben den reglosen Körper des alten Meurers und konnte keine Spuren von Gewaltanwendung erkennen. Es schien, als hätte den armen Kerl ein Herzinfarkt oder Ähnliches erwischt. Genaueres würde die Autopsie ans Licht bringen. Nur warum war der Mann hier, am Eingang der Laube, zusammengebrochen?

Die Kommissarin hatte die Meldung der Streife erhalten, doch aus deren wildem Gebrabbel konnte sie sich keinen Reim machen. Der Polizist faselte etwas davon, dass der zweite Tote durch eine Pflanze umgebracht worden war. Aber sie waren hier in der realen Welt und nicht im »Little Shop of Horror«. Keller bemerkte den üblen Geruch und sie war sich darüber im Klaren, dass er von der zweiten Leiche ausging. Ihr Beruf hatte es mit sich gebracht auch solche Dinge einzuordnen und dieser Gestank kam von einem schon etwas länger Verstorbenen. Vorsichtig stieg sie die Stufen hoch und sah ein paar nackte Füße. Dann Stuhlbeine, Klebeband und als sie den Boden komplett erreicht hatte, konnte sie sich ein Bild des gesamten Grauens machen. Als ihr Herz zu rasen begann, konnte sie plötzlich den Rentner gut verstehen, der auf Grund dieses Horrors tot umgefallen war. Dies war definitiv nichts für schwache Nerven.

Sie hörte das Keuchen neben sich, als Gotthard den Tatort erreichte.

»Oh mein Gott!«, sagte er mit erstickter Stimme. »Wer macht so etwas?« Keller hörte ihren Partner mehrfach schlucken.

»Kotzen Sie hier ja nicht den Tatort voll!«, schrie sie. »Wenn Ihr Magen das nicht mitmacht, dann verschwinden Sie.« Obwohl ihre barsche Ansage an ihn gerichtet war, diente sie ebenso dazu, den Aufruhr in ihrem eigenen Magen zu beherrschen.

Gotthard atmete stoßweise, doch er verließ den Boden nicht. »Die Pflanze ist durch ihn durchgewachsen«, stotterte er fassungslos, als er den nackten, auf den Stuhl gefesselten Mann von allen Seiten betrachtet hatte. Ein Bild, das er nie wieder aus dem Schädel bekommen würde. Ganz egal, wie viele Jahre er noch auf dieser kaputten Welt verbringen würde.

»Bambus«, sagte seine Chefin. »Und der arme Alte hat ihn wohl von unten gegossen und dafür gesorgt, dass er schön weiter wächst.« Sie hatte die Pumpe und die Wasserleitungen gesehen, die ins obere Stockwerk führten.

Was für ein krankes Hirn dachte sich so etwas aus? »Kommen Sie«, sagte sie zu Gotthard, der sich nur zu gerne auffordern ließ, diesen Ort zu verlassen. »Überlassen wir den Rest der Spurensicherung.«

Keller stieg die Leiter herunter und ihre Gedanken drehten sich plötzlich um Mark Peters. Obwohl beide Fälle völlig anders geartet waren, beide Todesursachen so gar nichts miteinander zu tun hatten, spürte sie doch einen Zusammenhang.

»Beide hat der Killer nicht sofort getötet«, murmelte sie. »Er hat nur die Vorarbeit für andere geleistet.«

»Was haben Sie gesagt?« fragte Gotthard.

»Nichts, gar nichts.«

Da war es wieder. Seine seltsame Chefin ließ ihn nicht an ihren Gedankengängen teilhaben. Im Grunde waren sie kein Team, sondern er war der kleine Gehilfe. Der Dr. Watson eines weiblichen Sherlock Holmes oder der Mr. Stringer einer jüngeren Ausgabe von Miss Marple.

Er durfte Kaffee holen und Kopien machen, doch wenn es an die richtige Arbeit ging, dann war er außen vor. Madame Keller wollte ihre Triumphe allein einfahren. Da war jemand anderes nur im Weg.

Mick Peters fiel ihm ein. Und die Gerüchte, die über ihn und Keller im Umlauf waren. Den hatte sie wohl auch gründlich abgekocht.

»Wo sind Sie mit ihren Gedanken?«, herrschte seine Chefin ihn an. »Trödeln Sie nicht rum, lassen Sie uns die Zeugen befragen.«

Erwischt. Seine Gedanken zum Fall interessierten sie zwar nicht, aber wenn sie dann mal woanders waren, fiel es ihr direkt auf.

Er trottete hinter der schlanken Gestalt her und trat ins Haus. Ein Mann und eine Frau saßen an einem Küchentisch. Eine Polizeibeamtin war bei ihnen.

»Sie können jetzt gehen«, klärte Keller direkt die Fronten. »Wir übernehmen.« Die Beamtin zuckte nur die Schultern und ging.

»Sie müssen die Tochter des Toten sein«, begann Keller wenig einfühlsam, schob dann aber doch ein »Mein Beileid«, hinterher.

Die junge Frau nickte. »Jenny Meurers. Und das ist mein Freund Bernd Kramer. Und das da draußen...«, sie unterbrach sich und schluchzte in ein Taschentuch. »Das ist… war mein Vater, Werner Meurers.«

»Wussten Sie, was ihr Vater in seiner Laube trieb?« Eine Frage ins Blaue. Und Jenny Meurers lachte schallend und schrill. »Sie glauben doch nicht, dass mein Vater diesen Mann umgebracht hat?«

»Und wie kommt der Tote dann auf Ihren Speicher?« Dagmar Keller wusste, dass der alte Mann viel zu gebrechlich war, um einen so großen Mann die Treppe hoch zu schleppen. Also musste er mindestens einen Komplizen haben.

»Mein Vater hat die Laube vor ein paar Tagen vermietet«, sagte Jenny. »Der Kerl hat ihm fünfhundert Euro gezahlt, damit er ein paar seltene Pflanzen hier lagern konnte, dann ist er angeblich auf Geschäftsreise gegangen und hat meinen Vater gebeten die Blumen, oder was immer das dort auch ist, zu gießen. Mein Gott, wer konnte den ahnen…«

»Und Ihr Vater hat nicht nachgesehen, was er da überhaupt macht?«

»Der Dachboden war abgeschlossen. Weil dort angeblich ganz seltene Pflanzen standen, die vor Diebstahl geschützt werden mussten.«

»Und das hat er geglaubt?«

»Mein Vater war alt und er brauchte das Geld.«

Gotthard fiel die Ähnlichkeit zum Spruch »Ich war jung und brauchte das Geld« auf, aber irgendwie war ihm nicht zum Lachen zumute.

»Mein Vater ist der friedlichste, netteste Mann, der je gelebt hat. Er könnte nie im Leben…« Sie brach weinend ab und ihr Freund nahm sie schützend in den Arm.

»Und Sie haben keinerlei Verdacht geschöpft?« Jenny sah die Kommissarin an. »Ich war vor ein paar Tagen hier und da kam es mir schon spanisch vor. Aber erst heute…« Erst jetzt schien ihr aufzufallen, dass sie ihren Vater vielleicht hätte retten können, wenn sie eher reagiert hätte und wieder waren die Tränen nicht aufzuhalten.

»Nur noch eine Frage«, sagte Keller. »Haben Sie den Namen des Mieters?« Kopfschütteln. »Keinen Vertrag?«

»Nein«, kaum hörbar zwischen den Schluchzern.

»Und Sie wissen auch nicht, wie er ausgesehen hat?« Wieder antwortete Jenny nur mit heftigem Kopfschütteln.

Keller drehte sich um und verließ die Küche. Offenbar hatte sie genug gehört.

Gotthard folgte ihr.

»Glauben Sie, dass der alte Mann etwas mit der Tat zu tun hatte?«, fragte sie und er war ehrlich erstaunt, dass sie ihn um ihre Meinung bat.

»Nein«, sagte er und die Tragweite dieser Äußerung war ihm völlig klar. Wenn Meurers nichts damit zu tun hatte, dann tappten sie im Moment restlos im Dunkeln.

Sie schritten durch den Garten, nickten der Spurensicherung und dem Polizeifotografen zu, die sich an die Arbeit machten und gingen zu ihrem Auto.

Plötzlich wedelte der Streifenpolizist, der sie empfangen hatte, wild mit den Armen.

Er redete hektisch mit einer alten Frau, die in Kittelschürze, Filzpantoffeln und Lockenwicklern im Haar aussah wie ihre eigene Karikatur.

»Eine Nachbarin«, sagte der Beamte, als Keller und Gotthard ihn erreicht hatten. »Sie möchte eine Aussage machen.«

Die alte Dame musterte die Kommissarin aufmerksam. »Haben Sie hier dat Saaren?«, fragte sie in breitester Mundart.

»Ja. Kriminalhauptkommissar Keller«, stellte sie sich vor.

»So´n junges Ding«, murmelte die Frau.

»Sie haben eher jemanden wie Derrick erwartet«, vermutete Keller und zauberte damit tatsächlich ein Lächeln auf das Gesicht der Alten.

»So unjefähr«, sagte sie. »Aber ejal.« Die Kommissarin trat von einem Bein auf das andere. Was sie jetzt gar nicht gebrauchen konnte, war eine Diskussion über Frauen bei der Polizei oder Ähnliches. Umso überraschter war sie, als sie die nächsten Worte der Dame hörte.

»Ich hab den Täter jesehen«, sagte sie.

»Täter?« Keller war baff.

»Nä, wenn hier so en Jedöns jemacht wird, dann doch sischer net, weil dä Meurers normal über die Wupper jejangen is«, erklärte die Zeugin und konnte, trotz der ernsten Situation ein Schmunzeln nicht unterdrücken, als sie auf die Leute der Spurensicherung in ihren weißen Anzügen deutete. »Dat is hier wie bei CSI«, sagte sie. »Also hat irjendeiner den Alten abjemurkst. Un ich weiß, wer.«

Keller wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. »Und?«, fragte sie. »Wer war es?«

»Dä Meurer hatte dis Daach zwei Mal Besuch von nem janz komischen Typen«, sagte sie. »Ich kann von meiner Küche aus…«, sie deutete auf ein Nachbarhaus. »Von da aus jenau in den Jarten gucken. Un ich hab jesehen, wie der Alte mit so einem komischen Vogel jeredet hat.«

»Und? Wie sah der »Vogel« aus?«

Die Alte genoss ihren Auftritt sichtlich. Sie warf sich noch einmal in Positur, bevor sie den nächsten Satz abschoss. »Ja nää, viel war ja nu nich von ihm zu sehen«, sagte sie und Keller wollte sich schon umdrehen. Doch dann erreichten die nächsten Worte ihre Ohren und ein eisiger Schauer lief über ihren Rücken. »Der Mann war riesisch. Un er truch so nen Mantel mit tausend Taschen, der jing fast bis zum Boden. Und dat Jesicht war kaum zu sinn, dä hott enne lange schwatte Bart. Wie enne so ne Schäfer.«

Den letzten Satz hörte Keller gar nicht mehr. Aber der Rest hatte sich in ihr Hirn gebrannt. Ihr Gefühl hatte sie nicht getrogen.

»Er hat ein zweites Mal zugeschlagen«, murmelte sie.

Auch Gotthard spürte eine Gänsehaut auf seinen Armen. Die gleiche Beschreibung wie beim Peters-Mord. Mönchengladbach hatte seinen Serienkiller.

Alleine zurück im Büro, als es Zeit für einen kurzen Snack war, griff Gotthard instinktiv zum Telefon. Er wusste nicht genau, was ihn ritt, ihm war klar, dass er gegen alle Regeln verstieß, doch in diesem Moment war er fest davon überzeugt, das Richtige zu tun.

»Hallo?«, hörte er eine barsche Stimme am anderen Ende.

Gotthard stutzte. Plötzlich war er sich nicht mehr sicher, ob er sein Vorhaben wirklich durchziehen sollte.

Doch dann gab er sich einen Ruck.

»Ist dort Mick Peters?«

»Wer sonst?«

»Hier ist Kommissar Gotthard. Ich habe Neuigkeiten im Mordfall Ihres Bruders.«

Die Gereiztheit am anderen Telefon war wie weggeblasen.

»Ich höre!«

»Nicht am Telefon. Können wir uns an einem unauffälligen Ort treffen?«

»Kennen sie den Borussia-Park?«

Gotthard meinte sich verhört zu haben. »Was?«

»Gladbach spielt heute im Abendspiel gegen Hannover.«, sagte Mick Peters. »Und Sie kommen auf Grund Ihres Ausweises rein, auch wenn das Spiel ausverkauft ist. Nordkurve. Block 13. An der Würstchenbude.«

Und damit legte Peters auf. Gotthard betrachtete noch einige Sekunden fassungslos den Hörer. Er konnte weder glauben, was er gerade getan hatte, noch konnte er den Vorschlag verarbeiten, den der Ex-Polizist ihm gemacht hatte. Trotzdem würde er gehen. Weil es richtig war.

Mick Peters ging es nicht viel anders als dem jungen Kommissar. Erstens fragte er sich, was die Polizei rausbekommen hatte und zweitens, warum Gotthard sich ihm anvertrauen wollte.

Der Treffpunkt war ihm ganz spontan eingefallen.

Er hatte seit Jahren kein Spiel der Borussia verpasst und auch wenn es sicher allen Leuten, die er kannte, völlig unpassend vorgekommen wäre, so kurz nach dem Tod seines Bruders ein Fußballspiel zu besuchen, so waren ihm diese Meinungen scheißegal. In jeder Sekunde seines Lebens, in den guten aber noch viel mehr in den schlechten Momenten, war sein Verein für ihn dagewesen. Und das Gefühl der Zusammengehörigkeit in der Kurve hatte ihm schon oft den Glauben an das Gute im Menschen wiedergegeben.

Er schaute auf die Uhr, warf sich in seine Kutte und fuhr los.

Mein ist der Schmerz

Подняться наверх