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Auf offener Strecke

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Wir hatten in dem Schnellzug nach Bari tatsächlich noch zwei Sitzplätze nebeneinander ergattert. Carlo saß am Fenster, mit durchgedrücktem Rücken und stierte über die Köpfe der Reisenden vor uns an die Wand neun Doppelreihen weiter, während abwechselnd eine Hand an den Fingern der anderen zog, begleitet von dem leisen Knacken seiner Knöchel.

Sein Gesicht reflektierte sich schwach in der Scheibe, je nachdem, was gerade draußen vorbeiflitzte. Sein grimmiges Gesicht verschwand gänzlich vor einem hellen Feld, aber vor einem dunkel bewachsenen Hügel dicht neben den Schienen war es bestens zu erkennen. Seine Kiefermuskeln spannten sich unregelmäßig an. Carlo hatte seit einer ganzen Weile nichts gesagt.

Der Zug verringerte die Geschwindigkeit vor einer jener kleinen Städte, von denen ich noch nie gehört hatte.

Meine Knie stützten sich an der Rückenlehne des Vordersitzes ab, meine Schuhe standen am Boden. Die Rucksäcke lagen sicher über uns in der Gepäckablage.

„Ist was?“, fragte ich ihn.

Ohne mich anzuschauen, feuerte er zurück, „Glaubst du, es ist was?!“

„Ja, du schweigst, machst einen sehr nervösen Eindruck, gereizt.“

„Rate mal!“

„Hast du was vergessen? Zuhause? Fühlst du dich nicht gut? Bist du krank? Medizin? Fehlt dir was?“

„Ja. Mir fehlt was. Eine Zigarette.“

Richtig, wir hatten seit Mailand keine mehr geraucht, „Dann geh doch auf Klo eine rauchen.“

„Und ausgerechnet dann kommt der Schaffner, es gibt ein Trara, nix da. Nicht auffallen.“

„Du bist bis Italien ohne ausgekommen!“

„Da pumpte mein Adrenalin auch bis in meine Haarspitzen.“

„Carlo, du fällst auf, so nervös du bist. Am Flughafen könnte man dich mit einem Drogenkurier verwechseln, dem ein Kokskondom im Magen geplatzt ist.“

„Ich kann nix dafür.“

„Unternikotinisiert, wie du bist.“

Der Zug hielt, allerdings nicht in einem Bahnhof, sondern auf offener Strecke, inmitten ausgedörrter Felder und staubiger Wege. Die Reisenden rappelten sich hoch aus ihren entspannten Positionen. Das Ruckeln eines fahrenden Zuges hat etwas Einlullendes, hört es auf, erwachen die Menschen aus ihren Tagträumen, Gespräche verstummen oder beginnen, aber nichts ist wie vorher.

„Warum verbieten die auch das Rauchen hier! Man kann doch die Fenster öffnen. Was kommt als Nächstes, wollen die das Rauchen in Kneipen verbieten?!“, sagte Carlo.

Wir lachten bei dem Gedanken.

Die Temperatur stieg in dem Wagon. Dadurch, dass wir standen, arbeitete die Klimaanlage nicht mehr rund. Carlo lüftete sich sein Hemd an der Brust, Schweiß glänzte auf seiner Stirn.

„Mann“, sagte ich, „Wie ein Drogi siehst du aus, der auf seinen nächsten Schuss wartet.“

„Was halten wir so lange, der soll fahren.“

„Wir stehen jetzt vielleicht gerade mal fünf Minuten.“

Zischend öffneten sich vor und hinter uns die Türen am Wagon. Das Aufstöhnen der Leute vermischte sich mit Fluchen und Gelächter.

„Scheiße“, sagte Carlo und dann dämmerte es ihm, „Zigarettenpause!“

Er sprang auf, und ich musste ihm schnell Platz machen, „Hey!“

„Warte, ich bin gleich wieder da.“

„Von wegen, glaubst du, ich bleib hier und sitz mir den Arsch platt!“ Ich schlüpfte in meine Schuhe und wollte mir meinen Rucksack greifen.

„Lass den da!“, sagte Carlo.

„Was? Und wenn ...“

„Denk doch mal nach! Wer nimmt denn seinen Koffer hier mit raus? Wir stellen uns draußen so hin, dass wir einen Blick drauf haben. Komm jetzt.“

Ich guckte mich um, aber niemand achtete auf uns, und er hatte natürlich recht. Nur eine Handvoll Fahrgäste blieben überhaupt sitzen.

Wir schlängelten uns raus in die Hitze, die uns zusammen mit dem Zigarettenqualm hastig angezündeter Glimmstängel entgegenschwallte. Carlos Feuerzeug flammte auf, da hatte er die Stufen noch nicht verlassen. Er inhalierte wie ein Blumenliebhaber den Duft einer seltenen Orchidee.

Wir gingen ein paar Schritte zur Seite und stellten uns neben den Pulk, der sich vor der Tür versammelt hatte, bis wir frei durch ein Fenster auf unsere Plätze und die Rucksäcke blicken konnten.

Um uns wellte sich die hügelige Landschaft unspektakulär unter der sengenden Sonne. Weder Tiere noch Menschen waren zu sehen, niemand und nichts würde um diese Uhrzeit seinen schützenden Schatten verlassen. Es sei denn, ein Zug hielt auf offener Strecke. Einen Grund erkannten wir nicht, und weder Schaffner noch Lokführer machten sich die Mühe einer erklärenden Durchsage.

Nachdem wir aufgeraucht hatten, stand ich mit den Händen in den Taschen, als Carlo mir die nächste Zigarette anbot.

„Die Nächste ist sonst erst wieder in Bari fällig“, sagte er.

Der hatte Sorgen. „Nein danke, ich wünschte, es würde endlich weitergehen. Unsere Fähre wird nicht auf uns warten.“

„Da können wir im Moment sowieso nichts dran ändern“, sagte er.

„Dass auch keiner etwas durchsagt ...“

„Vielleicht braucht der Lokführer auch einfach nur eine Zigarettenpause.“

„Zwei Zigaretten?“

„Na ja“, er zündete sich die Gauloises an.

„Hast du nichts anderes als Rauchen im Kopf?“

Er schaute mich an und lächelte männlich dreckig.

„Vergiss die Frage“, sagte ich, „Was frage ich auch so dämlich.“

Qualm sickerte aus seiner Nase. Seine entspannte Art zu rauchen, der sichere Indikator, dass es ihm wieder besser ging, so gut, dass ihm der Erfolg unseres Plans, die Fähre nach Albanien heute noch zu erwischen, geradezu egal wurde.

Ich schabte mit dem Schuh ein paar Steine im staubigen Boden zusammen. Nicht einmal Ameisen oder Käfer gab es hier.

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