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Seitengassenkinder
ОглавлениеWir strichen durch die Altstadt Baris auf der Suche nach dem Restaurant, das uns die Düse von der Touri-Info empfohlen hatte. In ihm würden auch die Einheimischen essen, meinte sie. Ein richtiger Insider-Tipp.
Carlo summte eine mir unbekannte Melodie, sicherlich von einem seiner heißgeliebten Songwriter, ich zog Independent Bands vor wie Poems for Leyla oder Les Negresse Vertes, zu denen man tanzen konnte. Tanzen war nicht Carlos Stärke, er hatte das Rhythmusgefühl und die Körperbeherrschung eines Absinthopfers. Niemand ist perfekt.
Enge Gassen mit hellbraunen Mauern und kleinen Balkonen, dessen abgebröckelter Putz beim Gehen unter den Sohlen knirschte. Von Fassade zu Fassade spannten sich Wäscheleinen, die sich unter ihren feuchten Lasten nach unten bogen und uns so von oben angrinsten. Von den blauen, gelben und roten Hosen, Hemden und Laken tropfte das restliche Wasser in unsere Nacken und auf die frisch geformte Pasta, die auf Quadratmeter großen Holzsieben vor den Eingangstüren zum Trocknen ausgebreitet lag. Daneben, auf Stühlen und einfachen Bänken, saßen die Alten, vor allem Frauen in Schwarz, und unterhielten sich lautstark. Ihre Enkel tobten um sie herum, verschwanden in kleineren Seitengassen und Spalten zwischen den Häusern und ihren Eingängen, um gleich darauf aus einer anderen Ecke hervorzuschauen. Und aus der Schwärze unbeleuchteter Wohnzimmer mit nur einem kleinen Fenster zur Gasse plärrten die Showmaster und Jingles aus den Fernsehern.
Ich deutete in eines dieser schwarzen Löcher, „Warum läuft die Kiste, wenn keiner hinschaut?“
Carlo blies Zigarettenqualm aus und rieb sich einen nicht vorhandenen Tabakkrümel mit dem Handrücken von der Unterlippe, „Die meisten Italiener haben den ganzen Tag den Fernseher an. Vor allem dann, wenn sie essen. Dann, so sagen sie, sitzt eine Person mehr am Tisch.“
Ich dachte an unser Fernsehprogramm.
„Na ja“, sagte ich, „Die müssen dann ja auch nicht mit Helmut Kohl an einem Tisch sitzen.“
„Hier sitzen immer Fremde am Tisch.“
Und wenn ich Carlo in diesem Moment nicht in seine Augen geschaut hätte, wäre ich nicht darauf gekommen, dass er damit auf die häufigen Regierungswechsel in Italien anspielte. Nur wenn man zusammenwohnt, lernt man sich genau kennen, und wir wohnten beinahe ein Jahr zusammen. Damals war ich in die WG eingezogen, eine Dreier-WG. Ein Zimmer war frei geworden, und ich hatte mich darum beworben. Er und Kerstin hatten sich dann für mich entschieden. Ein halbes Jahr später fingen Carlo und ich etwas miteinander an, aus dem Nichts, einfach nach einem gemeinsamen Abendessen, wir waren alleine gewesen, bei Salat, Knoblauchbaguette und Wein. Gelegenheit macht Liebe, sagen wir seitdem. Kerstin, unsere Mitbewohnerin, störte das nicht, sie war die meiste Zeit sowieso bei ihrem Micha.
Die Gassen wurden breiter, die Bewohner nutzten den Platz für kleine Stände und Geschäfte. Eine alte Frau lehnte mit ihren Fäusten auf den Stoffen vor ihr und rief mit einer Reibeisenstimme, „Hemden, Hosen, T-Shirts.“
Sie trug schwarz und, sollte sich jemals in ihrem Leben eine Lachfalte in ihr Gesicht verirrt haben, so hatten all die zackigen Verwerfungen und Furchen der Verbitterung und Enttäuschung sie erfolgreich vertrieben.
„Hey“, flüsterte Carlo, „Die hat eine Stimme wie du.“
„Was?“
„Ja!“
„Quatsch. Hat sie nicht.“
„Hemden, Hosen, T-Shirts“, rief sie wieder monoton, wahrscheinlich zum millionsten Mal in ihrem langen Leben, und ich hörte genauer hin, versuchte meine Tonlage in ihr zu finden.
„Wie kommst du denn da drauf?“
„Warte mal ab, du in ein paar Jahren.“
Abgestoßen von der alten Dame, aber angezogen von der Auswahl an kurzen Hosen, ging ich auf ein selbstgezimmertes Holzregal zu, in dem einige Bermudas und Badehosen zusammengefaltet lagen. Umgerechnet zwei Mark sollten sie kosten.
„Der Preis ist der Hammer.“
Ich nahm eine rote Hose heraus und begutachtete sie.
„Wo willst du die denn tragen?“, fragte Carlo.
„Na hier, bei der Bullenhitze.“
„Du willst da drin hier rumlaufen?!“
„Ja!“
„Geht nicht.“
„Wieso?“
„Kein Italiener trägt außerhalb eines Fußballplatzes kurze Hosen. Wir wollen doch nicht auffallen!“
„Warum das denn?“
„Wie sieht das denn aus, bei den Männern, die behaarten Beine, und bei deinen hübschen Beinen kannst du das auch aus genau dem Grund nicht bringen.“
„Danke, das Kompliment nehme ich an.“
Wir lachten, weil wir uns vorstellten, wenn ihn jemand von den Leuten hier verstanden hätte, würde sich das anhören, als wenn ein Typ dem anderen gestehen würde, seine Beine hübsch zu finden.
Zwei kleine Jungen liefen an uns vorbei.
„Da, die dürfen kurze Hosen tragen!“, sagte ich und zeigte ihnen hinterher.
„Das sind Kinder.“
„Und?“
„Kinder dürfen alles in Italien.“
„Und wann hört das auf, wann müssen Jungs lange Hosen tragen?“
„Wenn die Mädels sich darüber lustig machen.“
„Ach, jetzt sind wir Frauen wieder schuld, dass ihr hier lange Hosen tragen müsst.“
„Ihr, und wenn die Haare anfangen zu sprießen.“
„Aber es ist doch unpraktisch, dort wo es heiß ist, keine kurzen Hosen zu tragen. Die Frauen tragen doch auch Röcke.“
„Frauenbeine gelten gemeinhin aber auch als schöner.“
„Und die Männer müssen schwitzen.“
„Oder sich nicht bewegen.“
Ich faltete die Hose und legte sie wieder zurück.
Carlo überlegte laut, „Vielleicht stürzen die italienischen Fußballspieler deswegen so schnell, wenn sie spielen ... vor allem im Strafraum. Die sind die kurzen Hosen einfach nicht gewohnt.“
„So wird’s sein“, ich lächelte der alten Frau zu und nickte, und wir machten uns wieder auf den Weg.
„Ist es noch weit?“, fragte ich.
„Wie soll ich das wissen?“
„Na, die Düse hat dir doch den Weg erklärt. Worüber habt ihr denn ...?“
„Weg erklärt, Weg erklärt. Hier gibt’s keine Wege, das siehst du doch, das geht nicht einfach, die Zweite links, und dann wieder rechts. Wir sind hier nicht in Deutschland. Bari ist nicht Frankfurt. Hier braucht man ein bisschen Gespür.“
„Gespür?“
Ich verlagerte das Gewicht meines Rucksacks auf die andere Schulter. Dort, wo der Riemen gesessen hatte, war mein Shirt nass durchgeschwitzt. Meine Achseln ebenso. Ich musste stinken.
„Ja, Gespür.“
„Also ich spüre ein bisschen Hunger, und Durst.“