Читать книгу Flirren - Thorsten Nesch - Страница 13
Das Restaurant ‚Wein & Essen’
Оглавление„Siehst du, hier essen die Einheimischen“, sagte Carlo und zeigte ringsum, als präsentiere er mir das gesamte Gold der Inkas.
Wir saßen an einem Sechsertisch neben dem Durchgang zur Küche. In dem winzigen Restaurant gab es nur Sechsertische, um genau zu sein: drei. Einen direkt am Eingang, einen in einer dunklen Ecke und unseren. Das Restaurant trug den wohlklingenden Namen Wein & Essen.
In den Speisesaal gelangten wir über eine vierstufige Steintreppe abwärts. Wein & Essen lag in direkter Nachbarschaft zu der Moped-Werkstatt Öl & Reifen, deren Abgaswolken bereits zweimal in das Kellergewölbe eingedrungen waren, als Kunden nebenan vorbeischauten und die Fehlzündungen ihrer schrottreifen Zweiräder aufgebockt und mit Vollgas vorführten.
Aus unserer Froschperspektive fiel unser Blick aus dem fensterlosen Etablissement durch die offene Doppeltür auf eine alte Frau, die sich im ersten Stock gegenüber weit aus dem Fenster lehnte. Ihre Augen hatte sie starr auf unseren Tisch gerichtet und ihre fleischigen Arme vor ihrer mächtigen Brust verschränkt. Von ihren spröden Ellenbogen rieselten Hautschuppen herab.
Der Raum war etwas länger als breit. Zwei Bögen hoben das containerähnliche Ambiente etwas auf. Ringsherum standen auf terrassenförmig angelegten Regalen an den Wänden die Vorräte. Säckeweise Mehl, Zucker und Nudeln. Die Wände waren bis zur Hälfte grau gestrichen, darüber vergilbtes Weiß. Die Tische waren mit einer Holzimitattischdecke aus Plastik überzogen. Die Folie wellte sich an den Rändern, und in der Mitte schlug sie Blasen, wie man es ansonsten nur von Schlammgeysiren kannte.
Wir waren alleine. Auf den Stühlen neben uns standen die Rucksäcke, als hätten wir dadurch mehr Gesellschaft.
„So-so, wo die Einheimischen essen! Noch sehe ich keinen Einheimischen, noch nicht einmal einen einheimischen Kellner“, sagte ich. Hungrig war ich schnell sehr kurz angebunden.
„Wir können ja einfach was einpacken, gehen, und uns selbst etwas machen.“
„Klauen? Was willst du denn hier mitgehen lassen? Und was willst du essen? Mehl mit Zucker?“
Der Kellner – wohl gleichzeitig auch der Koch – peste um die Ecke, lief an uns vorbei, riss die Tür eines riesigen schäbigen 30er Jahre-Fiat-Kühlschranks auf, klaubte sich eine Pepsi Light und verschwand wieder in der Höhle, aus der Kochgeräusche zu vernehmen waren. Einzig ein Kondensstreifen aus Schweißerinnerte an seine sekundenlange Anwesenheit.
„Wo war ich stehen geblieben, Carlo?“
Er legte den Kopf in den Nacken und seufzte.
Die Frau im Fenster beobachtete uns. Ganz bewusst starrte ich zurück, aber ich konnte ihr keine Reaktion entlocken. Kein Blinzeln. War sie am Ende blind? Oder gar tot? Die Leichenstarre hatte eingesetzt, und sie zerbröselte vor unseren Augen, die Hautschuppen zuerst.
„Carlo, ich krieg schon Hallus vom Durst.“
„Meinste ich“, stöhnte er.
„Ich habe auch Durst. Ich möchte ein eiskaltes Bier. Ich frag mich echt, warum der Kellner nicht zu uns kommt.“
Carlo raschelte lässig mit der Zigarettenschachtel und schaute zu, wie der Filter Millimeter für Millimeter aus der Packung rutschte, „Willst du?“
Sein Quarztakt wurde nur durch den Marlboro-Man in den Lungenschatten gestellt, „Danke, nein, außerdem wird mir das langsam zu ...“
„Warte, da kommt der Kellner“, unterbrach mich Carlo.
„Oh, schau an, der halleysche Kellner!“, sagte ich.
Im Vorbeigehen warf der Kellner eine Zeitung auf unseren Tisch und ging hinter die Kasse.
„Eine Zeitung?!“, vor mir lag die stumme, hellrote Ausgabe der Corriere dello Sport. „Hallo Kellner, könnte ich dazu noch etwas Ketchup haben, oder Senf oder was gerade da ist, wenn es nicht zuviel verlangt ist“, ich brabbelte mit mir selber.
„Ti... Tim, warte doch erst mal ab!“
Beinahe hätte er mich Tina genannt.
„Ich warte schon eine ganze Weile, finde ich“, und ich griff mir die Sportzeitung. Wenn er sie uns schon kostenlos zum Lesen gab, dann ...
Mit einer barschen Bewegung riss mir der Kellner die Zeitung aus der Hand, klatschte sie auf den Tisch, faltete sie auseinander und befestigte sie mit Klemmen an zwei Tischkanten. Jetzt sah das Ganze aus wie das Rote Meer in der Augsburger Puppenkiste.
„Carlo“, sagte ich, während der Mann mit der flachen Hand einige Blasen und Wellen der Tischdecke platt kloppte, „Carlo, ihm ist die Holzimitatplastikfolientischdecke für uns zu schade.“
„Mmh“, darauf bestellte er bei dem Kellner, „Könnten wir bitte zwei Bier haben?!“
Der schwitzende Mann mit dem ausdruckslosen Gesicht fragte mit heiserer Stimme etwas, was ich hoffte falsch verstanden zu haben.
„Was meint er, Carlo?“
„Weiß oder rot? Er fragt, weiß oder rot.“
„Wie ... Hör mal, es ist doch nicht unwahrscheinlich, dass es in Bari ein anderes Restaurant gibt, wo ...“
„Er wird nur Wein haben. Wir sind in Italien. Na und? Weiß!?“
„Weiß oder rot, von mir aus, wenn schon ... dann weiß, der ist wenigstens kalt.“
Dann verhandelte Carlo über das Essen und wandte sich wieder an mich, „Fisch oder Huhn?“
„Wie, Fisch oder Huhn?“
„Was möchtest du essen?“
„Wie ist das denn ..., sind die gebraten, frittiert ... roh ... mit Zucker, Mehl?“
Er fragte ihn, und ich verstand kein Wort.
„Er sagt ...“, Carlo schmunzelte mich verständnisvoll an.
„Ja, und? Was hat er gesagt?“, hakte ich hektisch nach.
„Er sagt, na ja, er fragt, Fisch oder Huhn?“
„Fisch oder ... Wie viel kostet denn die Menüfolge?“
„Das ist nicht fein hier, vorher nach dem Preis zu fragen. Er könnte beleidigt sein. Ich nehme ...“
„Nicht fein? Er könnte beleidigt sein? Und dann? Was kann uns hier passieren? Womit will er uns drohen? Bedient er uns nur noch an Feiertagen? Carlo, ich bitte dich. Außerdem, was steht er bei der umfangreichen Speise- und Getränkekarte da mit Block und Stift? Ich ...“
Der Kellner zuckte mit den Schultern und drehte sich um.
„Siehst du, jetzt geht er,“ Carlo zog an seiner Zigarette.
Der Kellner war tatsächlich geradewegs auf seinen Weg in die Küche.
Wir riefen ihm hinterher, „Fisch, Fisch, Pesce, Pesce ... due!“
Er hob müde die Hand und verschwand.
„Na bitte, er hat uns gehört“, sagte Carlo.
Laut ließ ich meine Stirn auf eine Welle der Corriere dello Sport fallen.
Sofort spürte ich meine Müdigkeit. Meine Augen wollten dem Drang nachgeben, sich einfach zu schließen. Unerwartet rasch spurtete der Kellner wieder aus der Küche auf unseren Tisch zu, und ich musste mich anstrengen, meinen schlafschweren Kopf wieder hochzureißen.
Polternd krachte eine offene Einliter-Sprudelwasserflasche mit abgerissenem Etikett voll Weißwein auf den Tisch. Zwei frisch gespülte, nasse Gläser, kaum größer als Schnapsgläser, trudelten aus, da war der Mann schon wieder weg.
„Na, dann wollen wir mal“, sagte Carlo gutgelaunt und goss die Gläser bis zum Rand voll, „Salute.“
Wir nickten uns zu, auch ich sagte, „Salute“, und weil wir solch einen Durst hatten, leerten wir die Gläser in einem Zug. Als ich mein Glas auf den Tisch stellte, fiel es wegen einer Bodenwelle um. Es war das einzige Geräusch im Raum. Wortlos schaute ich Carlo an.
Carlo hob mein Glas wieder auf, und er füllte es ein zweites Mal. Ebenso seines, dann sagte er feierlich, „Salute, auf dass gleich die Flasche umkippt!“
„Salute!“
Nach unserem dritten Glas kam der Kellner mit der Vorspeise. Auf angekatschten Untertassen kredenzte er uns Weintrauben, Oliven und ein Stück Käse. Eine Weintraube rollte beim Abstellen vom Teller. Carlo pickte sie auf, bevor sie runter fiel, und schmiss sie sich in den Mund. Den halben Laib Brot knallte der Kellner ohne Teller auf die Zeitung.
Ich brach mir eine Ecke ab und krallte mir die Oliven. Carlo knabberte genüsslich die Weintrauben.
Das Telefon schellte, und der Kellner rannte aus der Küche zur Kasse. Wir schütteten uns Wein nach und prosteten uns zu. Der Rebsaft war sehr kalt, für Genießer wahrscheinlich zu kalt, aber so entschädigte er für das nicht vorhandene Bier.
Wir hatten die Gläser noch in der Hand, als der Kellner ein weiteres Mal an unseren Tisch kam und etwas zu Carlo sagte. Der Mann hatte natürlich mitbekommen, wer von uns sein Ansprechpartner war.
„Carlo, was ist? Ist ihm der Fisch ausgegangen?“
Und während Carlo seinen Rucksack schulterte und sich die Weinflasche griff, löste der Kellner die Klammern mit zwei flinken Bewegungen und hob die Tischdecke samt Zeitungen und allem, was darauf stand, an, und schleppte das bunte zusammengerutschte Durcheinander aus Essen und Aschenbecher zu dem Tisch im Dunklen.
„Carlo, ist es möglich, dass er Nahrung hasst!?“, ich schleifte meinen Rucksack hinterher und balancierte unsere Gläser in der anderen Hand.
„Er meint, das war sein Cousin am Telefon, und der kommt gleich mit seinen Freunden vorbei, sie wollen feiern und wollen alle an einem Tisch sitzen, und den Tisch kann er ausziehen.“
„Ah ja“, ich setzte mich an unseren neuen Tisch und pustete die Zigarettenasche vom Brot.
Carlo fischte sein Feuerzeug aus den restlichen Weintrauben, „Na, mit dem Essen wird das wohl noch was dauern“, sagte er und nutzte die Gelegenheit, sich seine nächste Gauloises anzustecken, eine aus den Schachteln, die wir von den fliegenden Händlern auf einem kleinen Marktplatz erstanden hatten. Der Preis lag unter der Hälfte des Ladenpreises. Contrabbande sagten sie hier zu den Schmuggelzigaretten ohne Steuerbanderole.
Rechtzeitig zum zweiten Gang, den Nudeln, die wir zuvor aufgebahrt zum Trocknen in Baris Altstadtgässchen gesehen hatten, war unsere Flasche Wein leer, und wir nutzten die Gelegenheit und bestellten eine neue.
Kurz darauf betrat der Cousin mit seinen Freunden das Wein & Essen. Betreten war übertrieben. Die Mannschaft purzelte die schmalen Stufen herunter, sich besoffen an allem festhaltend, was ihren unkontrollierten Armen Halt versprach. Der Letzte kroch auf allen Vieren an den schon voll besetzten Tisch. Jemand sagte etwas zu ihm, und er antwortete mit Bellen. Sie lachten. Die jungen Männer trugen Soldatenuniformen.
Carlo sah mein entgeistertes Gesicht, „Die feiern ...“
Seine letzten Worte wurden von einem kakophonischen We‘re in the Army now-Gesang verschluckt, der in johlendem Gelächter endete.
Ich nickte Carlo zu. Der Kellner kam mit so viel Wein, wie er tragen konnte, und stellte sie auf den Tisch mit den Soldaten. Er drehte sich um, erinnerte sich offensichtlich an uns, klaute ihnen unter Protesten wieder eine Flasche und reichte sie Carlos ausgestreckten Arm.
„Immerhin behandelt er seine Familie nicht anders als uns“, murmelte ich.
Der zweite Gang kam, die Nudeln mit der Tomatensauce waren al dente. Sie schmeckten hervorragend und nach der Portion mit einer Scheibe Brot, um den Teller von letzten Tomatenspuren zu befreien und zwei weiteren Gläsern Wein, war ich eigentlich satt.
Zu unserem Hauptgang, Fisch und Calamares, bestellte Carlo Brot nach. Er hatte stets einen gesunden Hunger. Sein leichter Bauchansatz konnte als richtungsweisend für die Zukunft gedeutet werden.
Diesmal reagierte der Kellner prompt. Er pfiff aus der Küche und warf Carlo seine Extraration zu. Aber der Kellner war ein lausiger Werfer, und so prallte das Brot von der Wand ab und kam auf dem Tisch der italienischen Armee zu liegen, nachdem es dort zwei Gläser Wein umgeworfen hatte.
Lautes Gejohle, heftige Gesten, Gelächter, Carlo erwiderte etwas auf einen Zuruf, bei mir wirkte der kalte Weißwein, und ich mampfte auf einer zähen Calamares herum.
Offensichtlich wollte einer der Gefreiten eine Ecke Brot als Strafzoll behalten. Er hielt das Brot hoch, brach die Hälfte ab, Carlo sagte wieder etwas und deutete an, er solle das Brot rüberwachsen lassen. Da bekam der Mann das gewisse Funkeln in den Augen und feuerte das Brot auf uns. Es fegte Carlos Glas und den Aschenbecher vom Tisch. Carlo revanchierte sich, einige Tomaten- und Gurkenscheiben landeten auf Uniformhosen, und Carlo flüsterte mir zu, „Halt einfach den Mund, brauch keiner zu wissen, dass du Deutsche bist, oder Deutscher.“
„Dass ich ... ich ... klar du Vollblutneapolitaner.“
Ich flitschte kautschukartige Calamaresringe rüber. Von drüben wurden wir mit Vorspeisen eingedeckt. Alles lachte. Es wurde geflucht, in Deckung gegangen.
Ich tauchte meinen letzten Ring in die Senfsauce und wartete auf denjenigen, der mich eben mit einer Olive am Ohr getroffen hatte. Und ab dafür. Mein Geschoss schlug in sein rechtes Auge ein. Das musste brennen, dachte ich und schrie, „Volltreffer!!“, und lachte viel zu kieksig.
Auf einmal lachte ich als Einzige.
Stille.
Sämtliche Augen ruhten auf mir. Dann ging alles sehr schnell.
„Vollidiot“, sagte Carlo, sprang auf und rief, „Los!“, und wir schwangen uns im Laufen die Rucksäcke über.
Ein Soldat rief, „Deutsche!“, und die Italiener sprangen aus ihrer Stellung hervor, „Deutsche!“
Hakenschlagend vollführten wir unseren Spießrutenlauf. Der Kellner brüllte etwas. Essen flog, eine Hand rutschte an meinem Arm ab, und wir rannten auf die Straße und die Gasse runter.
Die Alte keifte aus dem Fenster, immerhin lebte sie.
Es war unheimlich grell. Während ich lief, schaute ich mich um. Ich bekam Übung darin. Umschauen beim Laufen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, sollte zu einer olympischen Disziplin erhoben werden. Gold wäre mir sicher. Vier Verfolger waren hinter uns her. Ich wünschte, die italienische Armee würde kurze Hosen tragen. Ich lachte wirr auf.
Carlo rief schon leicht außer Atem, „Was gibts jetzt zu lachen?“
Es dauerte nicht lange, da hatte der letzte Uniformierte unter großen Gesten aufgegeben. Wahrscheinlich nur, weil ihr Alkoholkonsum unseren noch übertraf.
Ausgepumpt ließen wir uns ein paar Straßen weiter neben einem Brunnen auf einem Mäuerchen fallen. Wir brauchten eine ganze Weile, um uns wieder zu erholen. Ich hatte Seitenstiche.
„Hier, du Volltreffer“, sagte Carlo, trank einen Schluck aus unserer Weinflasche, die er geistesgegenwärtig hatte mitgehen lassen. Während unseres Sprints hatte er die ganze Zeit den Daumen draufgehalten.
„Danke“, ich nahm einen tiefen Zug und gab sie Carlo zurück. Er steckte die Flasche in seinen Rucksack, so dass sie nicht auslaufen konnte. Sie war halbvoll.
Ich klopfte auf meinen Rucksack, „Oh Mann.“
„Das hat ja geklappt, mit dem Nichtauffallen. Zeche geprellt, Verfolgungsjagd mit der Armee ...“
Wir lachten unser Adrenalin aus den Körpern, schüttelten unsere Köpfe, beruhigten uns wieder.
Mit schmalen Augen blinzelten wir uns an. Der Alkohol in Verbindung mit der Sonne traf empfindlich auf unsere Sehnerven.
„Mensch, was die Sonne blendet, wenn man einen im Tee hat“, sagte ich.
„Allerdings“, sagte Carlo und zeigte auf die andere Straßenseite, wo ein Polizist über den Bürgersteig schlenderte, „Jetzt weiß ich endlich, warum die Carabinieri hier immer schwarze Sonnenbrillen tragen.“