Читать книгу Flirren - Thorsten Nesch - Страница 6
Italia-Express
ОглавлениеIch lehnte mit meiner Hüfte an dem türkisen Spülbecken in der Wagontoilette. Das garantierte mir einen sicheren Stand bei dem Geruckel der Achsen auf den Schienen.
Feine Haarspitzen wirbelten durch die Luft, die trotz des offenen Fensters säuerlich roch. Haare klebten an den Wänden, auf meinem Rucksack, auf dem Klo, dem Waschbecken und dem Spiegel, der lose in seiner Verankerung klapperte und mein abgeschminktes Spiegelbild zittern ließ. In meinen Kragen gerieselte Härchen pieksten zwischen meinen Brüsten und im Nacken.
Mit meiner Linken griff ich mir das letzte Büschel Haar und schnitt es mit meiner Rechten durch, wobei ich mehrmals ansetzen musste. Ich wünschte, ich hätte eine schärfere Schere mitgenommen. Gerade anfangs musste ich Geduld aufbringen, ich hatte mir das Kürzen meiner Haare einfacher vorgestellt. Vielleicht wollte ich es nur rascher hinter mich bringen. Ohne diese Aktion hätte ich mir nie die Haare geschnitten, aber meine Verwandlung nach dem Überfall war für die Durchsetzung unseres Plans entscheidend. Wir wollten alles daran setzen, dass man uns nicht fassen würde. Meine Verwandlung in einen Mann gehörte dazu. An meiner Stelle hätten sich die meisten beim Überfall als Mann verkleidet und wären danach als sie selbst geflohen. Aber genau so wurden schon etliche gefasst. Wir machten das anders, auch wegen unseres Zieles: Albanien. Dort wollten wir untertauchen, zumindest eine Weile. Und als Männer wären wir dort unauffälliger unterwegs.
Angefangen hatte ich im Nacken, ich weiß nicht warum. Meine Haare fielen mir bis über die Schultern, nun lagen sie in einem braunen Wust im Spülbecken. Der Rest stand von meinem Kopf ab wie bei einer Punksängerin.
Erst versuchte ich sie platt zu drücken, dann zu einem Scheitel, aber sie blieben so strubbelig, wie sie waren. Vorsichtig trimmte ich die letzten abstehenden Spitzen, um dem Chaos auf meinem Kopf wenigstens etwas Ordnung zu geben.
Gelegentlich rappelte oder klopfte jemand an der Tür.
Langsam nahm mein neues Ich Gestalt an. Niemals hatte ich meine Haare derart kurz getragen. Es war ein Experiment, wert durchgeführt zu werden. Ich beugte mich abwechselnd vor, nah an den Spiegel und lehnte mich zurück, dabei schnitt ich Grimassen, drehte mir mein Halbprofil zu und wünschte, ich hätte an einen weiteren Spiegel gedacht. So konnte ich nicht sehen, wie gut oder schlecht ich an meinem Hinterkopf gearbeitet hatte.
Ein Kratzen an der Tür, gefolgt von Carlos Stimme, „Was gibt das da drin? Du sollst dir keine Dauerwelle machen.“
Im bebenden Spiegel sah ich meinen Mund lächeln, „Das würde auch ziemlich seltsam rüberkommen.“
„Also? Wie weit bist du?“
„Moment.“
„Mach hin. Das muss in Zukunft im Badezimmer sowieso schneller gehen, Madame.“
„Tina für dich.“
Carlo musste da draußen alleine stehen, sonst hätte er nicht so frei gesprochen.
„Nicht mehr lange“, sagte er.
„Außerdem schneide ich mir gerade die Haare. Wie lange brauchst du dazu, dir selber die Haare zu schneiden?“
„Ich schneide mir doch nicht selbst die Haare. Wer macht denn so einen Scheiß?!“
„Arschloch.“
„Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch, Arschloch.“
„Da kommt einer, ich warte wieder im Gang.“
„Okay.“
Ich checkte noch einmal meine Seiten, säbelte an einer Strähne über meinem Ohr herum und verstaute die Schere in einer Seitentasche meines Rucksacks, wo bereits meine beiden Ohrsticker – die silberne Feder und ein runder Onyxstein in einer Silberfassung – zusammen mit meinen zwölf schmalen Lederarmbändern, in einer verschließbaren, durchsichtigen Plastiktüte lagen.
Ein letzter Blick in den Spiegel, ernst, passend zu meinem karierten Baumfällerhemd, ich testete verschiedene, vermeintlich maskuline Mienen, schüttelte den Kopf, unglaublich. Das musste reichen als Haarschnitt.
Ich öffnete den Klodeckel und schaufelte beidhändig meine Haare aus dem Spülbecken ins Klo, Deckel drauf, lebt wohl. Es zischte und gluckerte.
Dann befeuchtete ich ein Knäuel Klopapier und wischte die Millionen kleinen Härchen ab, die am Spiegel, auf dem Becken und auf dem Boden klebten, und warf es in den Müll.
Mit einer Hand zog ich am Hebel das schmale Fenster auf. Ich nahm meinen Rucksack und marschierte zurück zu unserem Platz, vorbei an den Wartenden in der Nähe der Toilette und den Gang runter, vorbei an den Reisenden, die sich mit einer Hand an der Außenwand festhielten, während sich ihre Blicke voller Sehnsucht im vorbeiziehenden Horizont verloren.
Carlo wartete genauso träumend vor unserem Abteil im Gang.
„Hey!“, sagte ich und blieb demonstrativ stehen, damit er mich in Ruhe betrachten konnte.
Als er mich sah, klappte seine Kinnlade runter bis auf das rotgelbe Muster seines geliebten Hawaii-Shirts. Auch wenn er ansonsten schlichte Bluejeans trug, seine Hemden strotzten stets vor Farben.
„Also wenn ich es nicht besser wüsste ...“, sagte er und zeigte mit dem Finger auf mich, von Kopf bis Fuß und wieder zurück.
„Was denn?“, fragte ich, als wüsste ich nicht, worum es sich drehte.
„Das ist mir schon fast unheimlich.“
„Was?“
„Du!“
Ein älterer Herr schob sich an uns vorbei. Mit den Füßen drückte Carlo seinen Rucksack an die Wand. Geschwungene Hügel mit Wiesen und Wäldern huschten bei 150 km/h vorbei.
„Seit wann bin ich dir unheimlich?“, fragte ich.
„Seit du ... Wahnsinn, und dazu deine dunkle Stimme!“, er schaute sich um, „Ich meine, seit du so überzeugend deine männliche Seite herauskehrst.“
„Das wollten wir doch“, plötzlich liebte ich meine Situation mehr, als ich mir hatte vorstellen können. Meine natürliche Heiserkeit, die ich seit der Grundschule hatte, passte zum ersten Mal zu mir. Wie oft hatte ich sie in der Vergangenheit verflucht, vor allem während der Schulzeit, wo sich andere Kinder, Mitschülerinnen, darüber stets lustig gemacht hatten.
„Du hast jetzt kürzere Haare als ich!“, sagte Carlo, und ich war mir auf einmal nicht mehr sicher, ob er das besser oder schlechter fand. Dabei griff er sich in seine halblangen Haare, die ihm in Strähnen bis in die Augen fielen, und die er dann wegpustete, in dem er die Unterlippe vorschob. Er merkte die Geste schon gar nicht mehr.
„Kein großes Kunststück“, sagte ich.
„Ja, also, perfekt, Tina, ich meine: Tim! Tim.“
„Tim“, wiederholte ich meinen neuen Namen, als hätten wir ihn uns jetzt erst ausgedacht.
Wir guckten ängstlich den Gang rauf und runter, aber niemand war in Hörweite. Die meisten Reisenden hatten es sich in ihrem Abteil bequem gemacht und aßen zu Abend. Knoblauch und Thymian vermischten sich mit dem Schweißgeruch ausgezogener Schuhe.
„Gewöhn dich dran, Tim.“
„Du meinst, ich kann so überzeugen, als Kerl.“
„Definitiv“, er zog jede Silbe, „Du bist ein bisschen schmächtig, aber ... unfassbar!“
Der ältere Herr kam zurück. Freundlich grinste er uns zu, und mit italienischem Akzent sagte er, „Jungs, lasst ihr mich bitte mal durch?!“
„Klar“, sagte ich.
Carlo klatschte sich in die Hände, als der Mann ein paar Meter weiter war, und drehte sich ab, „Jungs!“
„Beruhig dich.“
„Jungs“, wiederholte er, „Jungs!“
Er hatte recht, das war die Feuertaufe. Schneller als gedacht. Aber das war gut so, das war gut für mein neues Ego. Ich würde entspannter in unser Abteil gehen. Die anderen beiden Plätze in unserem Liegewagenabteil würden belegt sein, der Zug war voller Menschen, die in ihrer Heimat fuhren.
Ich war auch ein bisschen neugierig, „Sollen wir jetzt in unser Abteil?!“
„Oder erst zählen?“, fragte er.
„Bleiben wir bei der angedachten Reihenfolge, würde ich sagen. Bisher hat alles gut so hingehauen.“
„Stimmt. Vor allem deine Frisur“, sagte er.
Ich gab ihm eins mit der Rückhand vor die Brust.
„Hey“, er lachte.
„Was ist?“
„Das war gay. Das musst du dir abgewöhnen!“, wieder lachte er, „Wenn mich ein anderer Kumpel so schlagen würde“, und er machte es bei mir übertrieben nach, „Die anderen würden denken, wir hätten was miteinander.“
„Haben wir ja auch.“
„Aber anders, als man jetzt denken könnte, nicht als Mann und Mann. Los, auf geht’s, rein in unser Abteil“, elegant schnappte er seinen Rucksack vom Boden und warf ihn sich ebenfalls über die Schulter, er nickte mir zu, ich solle vorgehen, „Ladys First.“
Ich trat ihm in den Hintern, „Ich geb dir Ladys First. Siehst du eine Lady hier?“
Er bemerkte seinen Fehler, und sein vorübergehend erstaunter Gesichtsausdruck verflog. Laut lachend schritt er voran, „Entschuldigung, Tim.“
„Und war der Tritt auch gay?“
„Nein, der war nicht gay.“
„Gut.“
Er schob die Tür auf, sie quietschte entsetzlich. Von den Liegen auf der einen Seite schauten uns zwei Italiener müde an, und wir nickten einander zu.
„Ich schlafe oben“, flüsterte ich, klappte das Bett auf und schwang meinen Rucksack darauf.
Carlo setzte sich auf das untere Bett und öffnete die Schlaufen seines Rucksackes. Ich hörte das Rascheln des Plastiksacks mit dem Geld überlaut. Ich meinte, jeder müsste die Scheine knistern hören, das hörte sich doch an wie Geld, das musste man doch hören. Aber die beiden Italiener regten sich nicht, ihre Rücken blieben uns zugedreht.
Grinsend reichte er mir eine Dose Warsteiner.
Ich nickte, nahm das Bier, tickte auf den Deckel und öffnete den Verschluss so vorsichtig wie möglich unter meinem Hemd, mit einem kurzen Knacken und einem leisen Zischen, während ich mich neben Carlo auf sein Bett setzte.
Er hielt mir seine geöffnete Dose hin, „Auf heute, auf morgen, auf Tim, Salute!“
„Auf heute, auf morgen, auf Carlo, Salute!“
Ein leises „Salute“ kam von einem der beiden Italiener.
Carlo prostete ihm zu und fragte auf Italienisch, ob er auch ein Bier wollte. Der Mann bedankte sich und verneinte, wir sollten es uns schmecken lassen. Carlo übersetzte mir das sofort.
Seine Mutter war gebürtige Italienerin, eine hektische Frau mit pechschwarzen Haaren und starkem Akzent, den sie in den dreißig Jahren in Frankfurt nicht verloren hatte. Ursprünglich kam sie, um ihren Bruder zu besuchen, verliebte sich aber auf den ersten Blick in seinen Kollegen Gerd, Carlos Vater. Die beiden heirateten. Als es um die Namensgebung ihres Sohnes ging, bestand sie darauf, das Sagen zu haben. Sollte ihr Mann sie sitzen lassen, müsse sie schließlich dauernd den Namen des Kindes rufen. Da sollte das doch bitte schön wenigstens einer sein, den sie ausgesucht hatte: Carlo. Sie vertraute deutschen Männern genauso wenig wie italienischen.
Der erste Schluck zu trinken nach der Jagd, der Hetze, nicht zu kalt, gerade richtig, das Bier schmeckte göttlich. Wir leerten die Dosen in einem Zug zur Hälfte und atmeten tief ein und aus, als regulierten wir so wie durch ein Ventil den angestauten Druck in uns.