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Zelten und Kröten

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Carlo versuchte, den Reißverschluss des Zwei-Mann-Zeltes hinter sich zu schließen. Das Ding hakte, er wurde ungeduldig und riss heftig am Metall. Die schwere Plane des ausrangierten Militärzeltes flatterte unter seinen groben Mühen und Flüchen.

Ich kuschelte mich in meinem Schlafsack ein, ohne ihn zuzuziehen, da sich zu der schwülen Luft des heutigen Abends der abgestandene Plastikatem der Zeltplane gesellte, und schaute Carlos Silhouette zu, wie sie dem Reißverschluss Zentimeter um Zentimeter abrang. Ich meinte auch, eine Spur Diesel und Maschinenöl zu riechen, vielleicht war das getarnte Zelt einige Zeit an einem Lastwagen oder Panzer befestigt gewesen.

An mir roch alles nach Lagerfeuer.

Als wir aus der Altstadt zu dem als Zeltplatz umfunktionierten Stadtpark kamen, saßen etliche Leute um ein großes Lagerfeuer. Es waren alles junge Italiener, die in ihrem eigenen Land Urlaub machten. Außer mir gab es keinen einzigen ausländischen Touristen, Carlo zählte nicht, der sprach fließend Italienisch. Es war ein Zeltplatz, zu dem ansonsten keine Touristen geschickt wurden, da sie in eine der kleinen Pensionen oder Hotels übernachten sollten. Da hatten wir Glück gehabt, oder wie Carlo mir flüsterte, da könnte ich sehen, wie weit man bei Frauen mit Nettigkeit käme, Nettigkeit, die ich nach wie vor als Flirten bezeichnete.

Weinflaschen kreisten, Carlo unterhielt sich viel, und ich genoss das Knacken des Feuers in den ruhigen Momenten und den Funkenflug gen Himmel, vor allem, als wir die Leinensäcke des Security-Unternehmens mit dem selbst gesammelten Holz in die Glut warfen.

Es waren hauptsächlich Studenten, die aus allen Richtungen nach Bari gereist waren, alleine, zu zweit, zu dritt, als Pärchen oder Singles. Ich vermisste jemanden, der Gitarre oder Trommel spielte, aber so konnte ich den Melodien der italienischen Gespräche lauschen. Mit dem sich nähernden Donnergrollen eines mediterranen Sommergewitters verließen wir die Runde.

Die ganze Zeit hatten wir an unseren Rucksäcken gelehnt gesessen, nun standen sie am Fußende des Zeltes.

„Endlich“, schnaufte Carlo und ließ sich rücklings neben mich auf seinen Schlafsack fallen. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn.

„Du hast einen Reißverschluss zugezogen und tust grade so, als hättest du einen riesigen Stein vor unseren Höhleneingang gerollt“, sagte ich und sah sein schwarzes Profil vor dem helleren Hintergrund der Zeltwand.

Carlo sprach zur Zeltdecke, „Du hättest mir ja helfen können.“

„Reißverschlüsse wurden erfunden, damit man sie mit zwei Händen bedienen kann!“

„Aber wenn sie klemmen ...“

„Ich dachte, bei vier Händen wären zwei im Weg.“

Er drehte seinen Kopf zu mir, „Nicht, wenn du zum Beispiel links und rechts festgehalten hättest und ich mit beiden Händen hätte ziehen können.“

„Du hast wirklich darüber nachgedacht.“

„Habe ich.“

„Warum hast du nichts gesagt?“, fragte ich.

„Ich wollte dir eine Chance gegen.“

„Eine Chance? Was für eine Chance? Eine Chance, deine Gedanken lesen zu können?!“

„Genau! Probier mal, was denke ich jetzt?“

In seinem dunklen Gesicht schimmerten seine Zahnreihen, er grinste.

„Du Schwein.“

„Was denn?“, fragte er, das Unschuldslamm mimend.

„Schwein!“, ich schlug ihm gegen die Brust, so wie ich es immer tat und sagte, „Hier sieht’s ja keiner, wie ich dich knuffe.“

Seine Hand fand meinen Oberarm, glitt dort unter mein T-Shirt, ich zog ihn zu mir, wir küssten uns, unser Atem, und bei jeder Bewegung quietschten die Bodenmatten, mit denen das Zelt gegen die Bodenkälte ausgelegt war, als würde man sich mit nassen Gummihandschuhen die Hände reiben. Wir lachten auf, weil es uns beiden gleichzeitig dämmerte, und ließen uns wieder rückwärts auf unsere Schlafsäcke fallen.

„Oh Shit“, sagte Carlo und klatschte seine Hände über dem Gesicht zusammen.

Ich gab mir Mühe, nicht zu laut und zu hoch zu kichern, „Wenn du gerade denkst, was ich denke ...“

„Ja, ja.“

„Wenn wir das tun würden, wonach mir und dir sicherlich gerade ist, dann wüsste der ganze Zeltplatz, was die beiden deutschen Jungs da in ihrem italienischen Militärzelt treiben ...“

„Wäre wahrscheinlich kein neuer Anblick für das Zelt. Das wäre am wenigsten überrascht“, sagte er.

„Das gibt’s nicht.“

„Es soll nicht sein.“

Die ersten dicken Tropfen Regen platzten an der schrägen Plane auseinander, wie überreife Kirschtomaten.

„Also schlafen?“

„Also schlafen“, sagte ich, hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, und drehte Carlo den Rücken zu. Auf meiner Seite schimmerte eine Straßenlaterne durch die Plane.

Das Prasseln der Tropfen auf dem Zeltstoff schwoll zu einem rauschenden Pladdern an. Italienischer Sommerregen.

Morgen Nachmittag würden wir die Fähre nach Albanien nehmen, eine Übernachtfähre. Untertauchen in Albanien. Das war Carlos Idee gewesen. Er hatte Familie hier in Süditalien, in der Nähe von Neapel. Zuerst dachte er daran, dass wir dort für einige Zeit nach unserem Coup unterkommen konnten, aber er verwarf den Gedanken, er wolle niemanden in die Sache reinziehen. Sollte der Verdacht aus irgendeinem Grund auf uns fallen, würde man bei ihnen nach uns suchen.

„Nein“, sagte Carlo damals, als wir nach einer Geologie-Vorlesung im Schatten einer Ulme im Gras saßen, „Und deswegen auch nicht nach Italien. Zumindest nicht gleich nach dem Raub.“

„Griechenland dann“, schlug ich vor, „Da fährt doch garantiert eine Fähre hin, von Italien aus.“

Eines war uns sofort klar, wir wollten auf dem Landweg flüchten, nicht fliegen, wegen der Namen auf unseren Tickets und den Kreditkartennummern, und wir wollten nicht in den Norden nach Dänemark oder Schweden etwa, wir liebten beide die Sonne.

„Ja“, meinte Carlo und zündete sich eine Zigarette an, „Aber da warst du schon. Und das weiß deine Familie.“

Aus dem gleichen Grund fielen Spanien und Portugal aus, Frankreich kam gar nicht erst in Frage, zu nah.

Carlo schaute auf, über sich, wo die Äste der Ulme in einem kühlen Wind raschelten. „Aber es fahren von Bari aus Fähren nach Albanien.“

„Albanien?!“, fragte ich nach.

„Warum nicht?“

„Da ist Krieg!“

„Der ist in Jugoslawien“, sagte Carlo und winkte ab.

„Kosovo-Albaner sind ...“

„Die sind in Jugoslawien, Ex-Jugoslawien. Die haben selbst nix mit Albanien zu tun.“

„Albanien. Ich weiß nix über Albanien. Was weißt du von Albanien?“

„Nur, dass dort eine Fähre hinfährt, von Bari.“

Ich wusste nur, dass das Land im Norden an Jugoslawien grenzte, in dem zurzeit Krieg herrschte und im Süden an Griechenland. Letzteres könnte später ein weiteres Ziel werden.

„Danach Griechenland?“, fragte ich.

„Warum nicht.“

„Dann klingt es gut.“

Carlo nickte bedächtig, „Niemand würde uns dort vermuten. Ich habe bisher von niemandem gehört, den man in Albanien erwischt hatte, und der von dort ausgeliefert wurde“, Carlo grinste breit, „Die Sache nimmt Formen an.“

Das hatte er auch gesagt, nachdem wir uns damals abends bei einigen Bieren unsere Zukunft ausgemalt hatten. Vor uns lagen noch viele Studiensemester und die Diplomarbeit. Aber die Chance, einen Job zu bekommen, sank mit jedem Jahr. Jeden, den wir kannten, der von der Uni abging, verbrachte seine Zeit mit unbezahlten Praktika. Und selbst, wenn man einen richtigen Job bekommen würde, hieß das nicht, man würde ihn für lange behalten. „Da kann man genauso gut eine Bank überfallen. Das ist genauso solide“, meinte damals Carlo, und ich stimmte ihm zu.

Ein Monat verging, in dem wir nicht weiter über diese Bemerkung nachdachten. Wir gingen zur Uni, zu Partys und zu unseren Studentenjobs. Ich arbeitete seit zwei Jahren in der CD-Abteilung eines Mediamarktes. Zwei anderen Aushilfen hatten sie vor zwei Monaten gekündigt. Die CD-Verkäufe wären rückläufig, sagte der Chef, Schuld sei das Internet und seine Downloadmöglichkeiten. Carlo arbeitete immer zeitlich befristet, zuletzt bei einem Baumarkt. Bei ihm könnte jederzeit Schluss sein.

„Und jeden Montag kommt der Geldtransporter und holt die Wocheneinnahmen ab“, sagte Carlo, verengte seine Augen und sah mich an, während er auf meine Reaktion wartete.

Wir saßen abseits in der Mensa beim Mittagessen. Vor uns dampften schwach die todgekochten Spaghetti Carbonara. Daneben stand eine traurige Schale Salat, und ich wusste, wie er das meinte. Er hatte bereits einige Nächte darüber geschlafen. Er hatte eine konkrete Idee.

Ich drehte die Spaghettikadaver auf meine Gabel.

Er fuhr fort, „Wir warten ein paar Monate, nachdem ich da raus bin. Dann fällt der Verdacht nicht mehr auf mich. Und wir können uns genau überlegen, ob und wie wir es wirklich machen wollen. Tut auch niemandem weh. Die sind eh versichert.“

„Wie kommen wir an das Geld? Ich meine, jemanden eins über die Rübe ziehen, das kann ich nicht“, sagte ich und verzog mein Gesicht.

„Denkste ich?! Wenn du magst, können wir das nächsten Montag gemeinsam checken. Ich arbeite noch bis Ende dieser Woche dort. Dann ist meine Zeit um.“

Der Regen wurde vom Wind in Wogen gegen die Zeltwand gedrückt, die sich unter der Last zu mir herunter bog. Etwas fiel plump auf die Plane und rutschte langsam herunter, als hätte jemand aus kurzer Distanz einen Klumpen Lehm nach uns geworfen. Ich überlegte, ob es möglich war, dass etwas Derartiges aus einem der Baumkronen über uns fallen könnte, da batschte der nächste Klumpen gegen das Zelt, und noch einer und noch einer, mit kurzen Armen und langen strampelnden Beinen und unter einem ständig anschwellenden Quaken. Frösche. Der Regen musste die Tiere zur Wanderung veranlasst haben. Es kamen immer mehr, alle aus meiner Richtung, und wer es nicht um unser Zelt schaffte, versuchte vergeblich immer wieder darüber zu springen, rutschte herab auf die mittlerweile zahllosen glitschigen Körper seiner Artgenossen.

Ich rückte von der Außenwand ab, bis mein Rücken Carlos berührte. Er schlief bereits, er schlief immer als Erster ein.

Vor mir türmten sich die Krötenleiber auf, nachrückende Tiere kletterten über die der gescheiterten und sprangen von den Rücken und Bäuchen der anderen ab. Das Zelt selbst schien zu leben. Füße drückten von außen gegen die Plane, als wollten sie nach mir greifen.

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