Читать книгу Flirren - Thorsten Nesch - Страница 7

Durch die Schweiz

Оглавление

Carlo und ich saßen nebeneinander auf seiner Liege. Ich kickte meine Schuhe von den Füßen, lehnte mich zurück und zog meine Beine an. No-Name-Sportschuhe. Auch unsere Idee, um nicht aufzufallen und gleichzeitig schnell laufen zu können. Jeder kennt die großen Marken, No-Name-Runner zu beschreiben ist nicht leicht, sie sehen einfach aus wie jeder x-beliebige Sportschuh. Wir wollten an alles denken, jedes Detail sollte uns helfen.

Carlo stützte seine Ellenbogen auf den Oberschenkeln ab und hielt mit beiden Händen die Dose. Das gleichmäßige Hämmern der Schienennähte und mein Puls, der sich dem Rhythmus anpasste. Ich nahm einen weiteren Schluck Bier.

Er stopfte seine Hemden für gewöhnlich in die Hose, nun hing sein Hawaii-Hemd am Rücken lose über den Gürtel seiner Jeans. Er träumte in die Öffnung seiner Dose.

Mein linker Fuß näherte sich der Stelle, wo sein Hemd über der Hose hing, und meine Zehen suchten sich den Weg unter den Stoff. Ich lächelte, weil ich wusste, wie sehr er meine Berührungen mochte.

Wie unter einem Stromschlag zuckte er zusammen und drehte sich erschrocken um. Mit der Hand zeigte er auf unsere Mitreisenden und tippte sich gegen die Stirn, während er mich anschaute, „Was machst du denn da?“

„Bin ich elektrisch?“

„Du bist leichtsinnig“, flüsterte er und deutete mit der Bierdose zu unseren Mitreisenden.

„Die schlafen doch“, sagte ich.

„Trotzdem.“

„Es sieht keiner.“

„Wenn sich einer umdreht?! Kein Typ krault dem anderen mit seinem Fuß am Rücken.“

Ich zog meinen Fuß zurück und merkte, wie aufgewühlt Carlo war, wie er seine Hand, die nach meinem Fuß greifen wollte, gegen ihr natürliches Verlangen auf die Kante der Liege führte.

„Salute“, sagte ich entschärfend und hielt ihm das Bier entgegen.

„Salute.“

Carlo trank, bis er seinen Kopf in den Nacken legen musste, dann setzte er ab und schüttelte die Dose, ein helles Plätschern der letzten Tropfen, leer.

„Kaiser“, sagte ich.

Er stellte die Dose unter das Bett und drehte sich zu mir um, „Dann geht der Kaiser jetzt als Erster zählen.“

„Nur zu, ich hab noch“, und ich schwenkte mein Warsteiner.

Er schnappte sich seinen Rucksack und verließ das Abteil.

Ich linste durch den schmalen Spalt, den die Jalousie am Fenster ließ. Es dämmerte über den verlassen wirkenden Häusern und Bauernhöfen eines Dorfes. Vorbeifliegende Laternen und Lichter reflektierten einen Streifen meines Gesichtes vertikal in der dunklen Fensterscheibe. Mein kurzes Haar. Ich fuhr mit meiner freien Hand über meinen punkigen Mecki. Ein paar Jahre und sie wären wieder lang.

Die beiden Italiener schnarchten leise vor sich hin. Und in meinem Bauch breitete sich eine Leere aus, die kein Hunger war. Mir wurde bewusst, dass die Polizei möglicherweise nach mir suchen würde, dass ich auf einer Fahndungsliste stehen könnte. Fahndungsliste, was für ein Wort. Obwohl wir verkleidet waren, und obwohl uns niemand die nächsten Wochen vermissen würde, es bestand ein Restrisiko. Danach könnten wir anrufen oder schreiben, uns gefiele es so gut, wir würden noch länger bleiben, und am Ende der Semesterferien würden wir behaupten, wir würden ein Urlaubssemester nehmen, Sprachurlaub, während wir in einer sonnigen Bucht an einer Strandbar abhingen und Beine und Seele baumeln ließen. Ich nahm noch einen Schluck Bier. Das Bauchgefühl verflog.

Es war unwahrscheinlich, dass man uns verdächtigte, und falls doch, würde man uns kaum die Interpol auf den Hals hetzen. Trotzdem wollten wir auf Nummer sicher gehen.

Wie viel Kohle es wohl war? Wir hofften auf 50.000 Mark. Carlo hatte die Summe bei einer Unterhaltung in der Zigarettenpause gehört. Das wäre eine gute Woche gewesen, soll der stellvertretende Buchhalter gesagt haben, während er an seinem Zigarillo zog.

Wir hatten uns gefragt, was das Worst-Case-Szenario wäre, außer geschnappt zu werden. Wir schätzten dreißig, 30.000 Mark. Eine Summe, mit der wir zwei bis drei Jahre bescheiden in einem kleinen Nest in Griechenland leben konnten, ohne uns finanziell zu sorgen. Das war uns das Risiko wert, das ist einem das Risiko wert, wenn man mit dem Rücken an der Wand und einen Schritt vor dem Abgrund steht. So kam uns unsere Situation vor. Fünftes Semester Geographie, keine Kohle, Nebenjobs, und die Kommilitonen, die Geographie mit Diplom abschlossen, machten da nahtlos weiter. Mit Glück ergatterten sie Jobs, die wenigstens entfernt mit ihrem Studium zu tun hatten, dann aber nur mit Zeitverträgen, drei Monate, maximal ein Jahr. Der Rest tobte sich in Praktika und Volontariaten aus.

Unsere Zukunft hatten wir uns anders vorgestellt. Daher der Schnitt, daher reifte die Idee zu unserem Coup bis zur Ausführung. Wir gingen davon aus, dass sich der Arbeitsmarkt in ein paar Jahren bessern würde, bis dahin würden wir die Zeit in Griechenland am Strand überbrücken, oder dort etwas Neues finden.

Um unser Risiko zu minimieren, gingen wir sehr akribisch vor. Unzählige Male hatten wir den Ablauf des Raubes durchgespielt und alle Eventualitäten abgewogen. Wir beobachteten einige Übergaben, bevor wir uns entschieden, das Ding durchzuziehen. Die große Preisfrage hieß jetzt: Wie sehr hatte es sich für uns gelohnt?

Wir hatten es tatsächlich getan. Unser Coup war keine Spinnerei mehr über Wein und Bier und ein paar Joints, nein, wir hatten den Transporter überfallen, wir hatten die Säcke, das Geld, und waren auf der Flucht.

Die Schiebetür unseres Abteils quietschte, mein Kopf flog herum.

Carlo stand ernst in der Tür und sagte nichts.

„Und?“, fragte ich.

Er unterdrückte ein Grinsen.

Mein Herz hüpfte, „Und? Sag!“, ich platzte vor Neugier.

„Zähl du zuerst“, schlug er vor.

„Ist nicht dein Ernst. Sag, wie viel?“

„Ich weiß nicht ...“, er konnte sich sein Grinsen immer weniger verkneifen.

„Carlo!“, ich musste aufpassen, dass meine Stimme in meiner Aufregung nicht zu laut geriet.

„Schätze!“, sagte er.

„Zwanzig“, das würde bedeuten, unser Minimalziel 30.000 würden wir mit ziemlicher Sicherheit erreicht haben.

Er schüttelte den Kopf.

„Mehr?“, fragte ich.

Er nickte.

„Fünfundzwanzig?“

„Mehr“, sagte er.

„Dreißig!“

„Zweiunddreißig Tausend Mark.“

Meine Hände klatschten vor mein Gesicht, ich unterdrückte einen Jubelschrei.

„Das bedeutet, alles Geld, was du jetzt noch zählst, ist Sahne auf der Torte“, sagte er.

Wir hatten gewonnen.

Da war es wieder, dieses Bauchgefühl, wie frisch verliebt, Schmetterlinge im Bauch, Schmetterlinge aus Papier. Ich trank mein Bier aus und schnappte mir meinen Rucksack.

„Bis gleich“, sagte ich zu Carlo, während ich mich an ihm vorbeischob und wir beide uns einen Kuss verkniffen. Ich wette, man konnte die Funken zwischen unseren Mündern in der Dunkelheit aufblitzen sehen, während wir dichtgedrängt in der engen Tür für einen Lidschlag in unserer Welt verharrten.

Flirren

Подняться наверх