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Just in time

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Am Bahnhof sprangen wir von unseren Rädern. Mit einem Ruck rissen Carlo und ich unser kostbares Gepäck von den Rädern. Zu laut knallten die Gepäckträger zurück, Metall auf Metall.

Als könnte das hier jemanden stören, schauten wir uns um. Menschen liefen unter dem Regen durch in die Bahnhofshalle oder aus ihr heraus zum Taxistand.

„Hier kann man sterbend um Hilfe schreien, und keiner schaut hin“, sagte Carlo.

Wir lehnten die alten Fahrräder, die wir vor zwei Monaten auf einer nächtlichen Tour gefunden und mit zwei Dosen grün umgesprüht hatten, gegen eine bepinkelte Wand, ohne abzuschließen. Heute Nacht würden sie geklaut sein, wer weiß, vielleicht von ihren eigentlichen Besitzern. Das war so am Frankfurter Bahnhof. Wir wollten keine Spuren hinterlassen.

„Weißt du, dass hier früher Diebe gehängt wurden?“, fragte mich Carlo, während er seine Armbanduhr aus der Brusttasche fischte und sie drehte, bis die Zeiger einen Sinn ergaben.

„Nein“, und mir fiel nichts weiter darauf ein. Woran der dachte in diesem Augenblick! Ich war wie auf Autopilot, ich schwang mir meinen Rucksack über und sagte, „Bis gleich.“

„Okay, Abfahrt in acht Minuten, wir sind just in time.“

Ich rannte los und drehte mich noch einmal um.

Carlo stand einfach da und zündete sich seelenruhig eine Zigarette an. Fast hätte ich aufgehört zu laufen. Dann nahm er einen tiefen Zug und wetzte los in die andere Richtung, mit der Kippe zwischen den Lippen.

Wir hetzten getrennt zum Gleis 4. Carlo nahm den längeren Weg außen herum, dafür rannte er schneller als ich. Wir wollten ungefähr zur gleichen Zeit dort ankommen.

Niemand würde sich hier an uns erinnern. Man fällt nicht auf, wenn man in einem Bahnhof läuft, im Gegenteil, genervt wenden die Menschen ihre Blicke ab, während sie einem ausweichen.

Zwei Stufen nahm ich mit jedem Schritt, stolperte vor Aufregung fast die Treppe hoch. Halb lief ich, halb schritt ich schnell an den Reisenden und Geschäften vorbei, den Blick starr geradeaus gerichtet. Gerüche und Gesprächsfetzen fanden überraschend klar ihre Wege in meine Sinne. Die schimpfende Mutter mit dem schreienden Kind und eine Ladung angebrannter Brötchen aus der Bäckerei, das schrille Gepiepe des Rauchmelders.

Auf Gleis 4 stand der Nachtexpress nach Mailand zur Abfahrt bereit. Perfektes Timing. Die Tickets hatten wir heute Morgen gekauft, cash und ohne Bahncard.

Unseren Freunden hatten wir erzählt, wir würden eine Frankreichtour machen, ebenso unseren Patchworkeltern. Carlo war bis zum zwölften Lebensjahr bei seinem Vater und seiner neuen Freundin aufgewachsen und ausgezogen, sobald er durfte und konnte. Meine Mutter hatte erst vor zwei Jahren wegen Peter meinen Vater verlassen, seitdem war mein Kontakt zu beiden eher sporadisch, auf Geburtstage und Feiertage beschränkt.

Offiziell würden wir vier Wochen an der französischen Atlantikküste zelten. Bis uns jemand vermisste, würden wir schon weit weg sein.

Ich lief an den Scheiben der Wagons vorbei bis zum Wagen 23, wo wir uns treffen wollten. Ich lief schneller und schneller, weil es mir wie eine unsichtbare Ziellinie vorkam, vor allem, als ich Carlo mit seiner Fluppe im Mund auf dem Bahnsteig stehen sah, den Rucksack über der Schulter, wie er mit einer Hand die Kippe aus seinem Mundwinkel nahm, nachdem sie ein letztes Mal aufgeglüht war, und er sie ins Gleisbett flitschte, bevor ich in seine offenen Arme rannte, als wäre er auf Fronturlaub von einem unbekannten Krieg.

Die Tür stand offen, und wir stolperten umschlungen die Stufen rauf. Im Gang umarmte er mich richtig, drückte mich, hielt mich fest, und ich ließ meinen Rucksack herabgleiten. Dumpf knisternd schlug er auf dem Boden auf.

Er war etwas größer als ich, und ich schaute knapp über seine Schulter hinweg aus dem Fenster hinter ihm, wo auf dem Nachbargleis ein Zug einfuhr. Dann schloss ich meine Augen, und ich spürte mein Herz schlagen, aber es könnte auch seines gewesen sein.

Der Pfiff des Schaffners war für uns das Startsignal der Leidenschaft, und wir bewegten unsere Köpfe zum Kuss mit offenen Augen, und ich schmeckte das Nikotin in seinem Mund. Carlos Augen grün und klar unter seinen schwarzen Augenbrauen.

Hinter uns schlugen die Türen des Wagons zu. Der Zug ruckte, fuhr an und wie ein einziger Körper wankten wir eng umschlungen zur Seite, bis wir uns schief mit den Schultern an einer Tür abstützten. Beide konnten wir uns ein Lächeln nicht verkneifen, und weil sich dadurch unsere Lippen trennten, zogen wir unsere Zungen zurück.

„Du“, flüsterte Carlo, und ich glaubte nicht, dass er viel mehr sagen wollte.

Ich nahm seinen Kopf zwischen meine Hände. Sterne explodierten zwischen uns, mein Kreislauf spielte verrückt, absolut verrückt, aus Leidenschaft, Wahnsinn und geglücktem Coup.

„Du“, sagte ich.

Geschafft.

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