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Milano Centrale

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„Zwei Kaffee“, bestellte Carlo.

Wir standen vor der gläsernen Bar eines vollbesetzten Cafés in der Halle des Mailänder Hauptbahnhofs. Klirrend landeten die weißen Untertassen auf der Bar. Carlo bezahlte mit den Lire, die wir vor einigen Wochen in einer Sparkasse getauscht hatten, und wir schoben unsere Espressi auf der Theke weiter, damit die Menschenschlange hinter uns aufrücken und ebenfalls bestellen konnte.

Wir hatten selber gut zehn Minuten anstehen müssen, aber wir waren nicht in Eile. Durch die halbstündige Verspätung unseres Zuges hatten wir den Anschluss nach Bari verpasst und eine Stunde Aufenthalt in Mailand.

Die Rucksäcke rutschten von unseren Schultern, und wir klemmten sie zwischen den Beinen ein. Zusätzlich stellte ich mich mit einem Fuß auf den Riemen, um es einem Dieb so schwer wie möglich zu machen, mir mein kostbares Gepäck zu entreißen. Carlo reichte mir erst meine Tasse, dann hielt er mir die Zigaretten hin und gab uns Feuer.

„Der erste Kaffee in der Freiheit“, sagt er und atmete den inhalierten Qualm durch die Nase wieder aus.

„Du meinst auf der Flucht.“

„Schmeckt er deswegen schlechter?“

Ich schüttelte den Kopf. Schmeckte er nicht. Er war stark und würzig, er schmeckte exotisch und italienisch und schien das Durcheinander aus herumlaufenden Menschen, italienischen Gesprächsfetzen und Gesten in seinem Geschmack zu vereinen.

„Mmh“, machte Carlo, während er an der Zigarette sog, um anzukündigen, dass er mir etwas Wichtiges zu sagen hatte, dazu flüsterte er, „Wir können auch nicht einfach über alles reden, auf Deutsch, das verstehen hier zu viele. Es reicht ja einer.“

Im ganzen Café gab es keinen freien Stuhl. Etliche Reisende standen mit ihrem Gepäck wie wir einander gegenüber und erzählten und tranken und rauchten.

„Ist mir klar“, sagte ich.

„Ich meine ja nur“, er stellte seine leere Tasse zurück auf die Theke, zog an seiner Gauloises und blickte mir durch den sich windenden Qualm in die Augen. Wir mussten uns nur einen Moment länger in die Augen schauen und lachten beide los.

„Der totale Wahnsinn“, sagte er.

„Was machen wir hier? Was mache ich hier?“, fragte ich übertrieben, „Was tue ich hier?“, und bei der letzten Frage deutete ich mit meiner Zigarette auf den Rucksack zwischen meinen Beinen.

„Das richtige“, sagte Carlo.

„Und ich bin mit einem Verrückten unterwegs.“

„Einem, der verrückt nach dir ist.“

„Sag ich doch, verrückt. Verrückt auf jeden Fall.“

Wir schauten uns an, fraßen uns auf mit den Augen, der Moment, in dem wir uns normalerweise küssten, berührten.

„Weißt du eigentlich, wie schwer es ist, meine Finger bei mir zu behalten?!“, fragte ich ihn.

„Oh ja!“

„Weißt du nicht.“

„Doch. Ich weiß, wie das ist, sehr gut sogar. Was glaubst du?“

„Wenn sich das jetzt schon komisch anfühlt ... wie lange, denkst du, sollen wir das durchhalten?“

„So lange wie nötig. Hier geht gar nix, nicht inmitten homophober Italiener, dieses Land beherbergt den Vatikan!“

„Aber die Typen küssen sich doch links und rechts, wenn sie sich begrüßen.“

„Das ist was anderes. Und mehr körperlicher Kontakt unter Männern wird nur im Elfmeterraum toleriert.“

„Willst du mir erzählen, in Italien gibt es keine Gays?!“

„Nicht unbedingt öffentlich!“

„Ausgenommen beim Fußball.“

„Das hast du gesagt.“

Ich trank meinen Kaffee und stellte ihn ebenfalls auf der Bar ab. Ich sah mich in der verspiegelten Wand dahinter. Campino von den Toten Hosen bei Karneval als Holzfäller. Ich schaute mich an, während ich sprach, „Sag mal, wer ist überhaupt auf die Idee gekommen, dass ich mir die Haare abschneiden soll?“

„Du!“, sagte Carlo.

Und da hatte er recht. Kurz, nachdem er Albanien als Ziel vorgeschlagen hatte, weil Italien zu nah und vor allem im Sommer mit zu vielen Deutschen und ihren Zeitungen übersät war, wollte ich einen draufsetzen. Ich wollte eine Idee für unser sicheres Untertauchen beisteuern. Er hatte die Idee für den Ort, ich die Verkleidung, das perfekte Team. Wahrscheinlich war das überhaupt der Moment, an dem es feststand, dass wir unseren Coup durchziehen würden, mit dem perfekten Plan für danach, um nicht erwischt zu werden. Der war uns wichtiger, als das Geld selbst zu bekommen, das würde relativ einfach werden, wir hatten zu dem Zeitpunkt bereits zweimal eine Übergabe beobachtet.

Ich bemerkte seinen konzentrierten Blick zu einem älteren Herrn, der in einer Tageszeitung blätterte. Mein Magen zog sich zusammen, „Was ist? Was siehst du?“

„Himmel, erschreck mich nicht so.“

„Na was?“

Er erkannte, warum ich so interessiert war, „Ach so, nein, nix über uns. Gestern wurde endgültig beschlossen, dass Europa eine gemeinsame Währung bekommen soll.“

„Echt?“

„Ja.“

„Gestern.“

„Jep.“

„Als wir die D-Mark ge...“, mit einer Hand deutete ich an, ich würde nicht weiterreden brauchen.

„Ja.“

„Wann soll das losgehen? Morgen?“, fragte ich.

„Da steht was vom Jahr 2000.“

„Na bestens, wir ... ziehen das Geld ab, haben so viel Kohle wie nie zuvor in unserem Leben, und die beschließen darauf, die Währung zu ändern.“

„Ich glaube nicht, dass unser Baumarktraub in direktem Zusammenhang mit der Europäischen Währungsunion steht“, Carlo nuschelte schnell und hessisch eingefärbt.

„Du weißt, wie ich das meine.“

„Ja.“

„Und, mit was bezahlen wir demnächst?“

„ECU.“

„Eküh?“

„Ja, so steht’s da“, er kniff die Augen zusammen, „Oder Euro, das steht noch nicht 100%ig fest.“

„Na, wir haben ja noch ein paar Jahre, um die D-Mark zu verprassen!“

„Genau. Und wenn wir das nicht schaffen, geben wir am Ende ein paar Lokalrunden. Besser mit Freunden arm sein als alleine.“

Unser Lachen wurde von einer Taube gestört. Sie kreiste behäbig über den Köpfen der Café-Besucher. Obwohl sie allen Platz der Welt hatte, zu beiden Seiten wegzufliegen, kämpfte das Vieh mit seinem Gewicht und seinen kurzen Flügeln gegen die Schwerkraft an.

Mehrere Gäste wurden aufmerksam, nicht zuletzt, weil sie bedrohlich nahe über den Köpfen flatterte. Nachdem ihre Unterhaltungen versiegten, riefen sie in Richtung der Taube und wedelten mit ihren Armen und gerollten Zeitungen. Gemeinsam vertrieben die Leute die Taube.

Kurz darauf landete sie ein paar Meter weiter auf dem blanken Boden der Wartehalle und pickte dort unsichtbare Körner vom Stein.

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