Читать книгу Christus - der Weg, die Wahrheit und das Leben - Till Arend Mohr - Страница 6
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Wir leben – geistig betrachtet – in einer dunklen Zeit und in einer dunklen Welt. Nach zwei Weltkriegen im 20. Jahrhundert rüsten die Weltmächte wie die Entwicklungsländer in einer Weise, die eine mehrfache Zerstörung der ganzen Erdoberfläche als möglich erscheinen lässt und zu einer hoffnungslosen Überschuldung gerade auch der armen Länder beigetragen hat. Gleichzeitig erlebt unser Jahrhundert eine beispiellose Umweltverschmutzung und -zerstörung, die bereits jetzt die Ausrottung vieler Pflanzen- und Tierarten und eine dramatische Klimaerwärmung mit bedrohlich ansteigendem Meeresspiegel zur Folge hatte. Die Wüsten wachsen. Der Hunger nimmt für Hunderte von Millionen Menschen zu … Korruption, Hass, Gewalt, Terror und Kriege richten unermessliches Leid an und treiben Millionen Menschen in die Flucht. Und unsere Massenmedien verbreiten eine Flut von Lügen, weltweite Tsunamis von Fake News, geistige Finsternis. So groß auch unser technischer Fortschritt sein mag, geistig haben wir mit ihm nicht Schritt halten können, was die Gefahren des Missbrauchs unserer technischen Möglichkeiten vergrößert, zumal wir uns in einer kulturellen, geistigen und religiösen Krise großen Ausmaßes befinden. Dies wird jedem Einsichtigen klar, wenn er an die bewusste Leerheit und Sinnlosigkeit vieler Kunstrichtungen, den Zerfall der allgemeinen Wertmaßstäbe, die verbreitete geistige Orientierungslosigkeit, das Absinken in Materialismus, Gleichgültigkeit und Atheismus in Ost und West denkt. Darum fragen sich viele Menschen besorgt, wie sich diese unsere Welt denn weiterentwickeln werde.
Wenn in diesem Dunkel Licht aufleuchten soll, wenn wir für die Welt im Ganzen wie für unser persönliches Leben im Besonderen einen Sinn erkennen wollen, wenn in unseren Herzen eine lebendige, auf Wahrheit gegründete Hoffnung für Zeit und Ewigkeit entstehen soll, dann bedarf es meines Erachtens vor allem eines: der entschlossenen Zuwendung zu der zentralen Gestalt der Weltgeschichte, nach der wir unsere Zeit in die Vergangenheit und Zukunft hinein berechnen – Jesus Christus. Er bezeugte von sich selbst: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern das Licht des Lebens haben.“ (Joh 8,12) Christus hat in klaren Worten und gewaltigen, in aller Öffentlichkeit und vor den Augen seiner Gegner vollbrachten Machttaten bezeugt, dass er das Licht der Welt ist, warum diese Welt sich in einer geistigen Finsternis befindet und was es für uns in alle Zeiten hinein bedeutet, ihm nachzufolgen. Darum wendet sich die folgende Untersuchung in zentraler Weise der Person Jesu Christi zu und der Frage, wer er in Wahrheit war und ist, welche Aufgabe er in dieser Welt vollbrachte und was er für unser aller ewiges Heil bedeutet. Dabei werden wir insbesondere wichtige, zentrale Worte Jesu betrachten, die Licht in unser Leben und in diese Welt bringen und uns in aller Klarheit und Wahrheit den Weg zum wahren, ewigen Leben weisen.
Nach dem Lichte sehnt sich alles Leben. Ohne Licht wäre kein Leben möglich. Wo dauernd Finsternis herrscht, wird alles blass, farblos, schwach, krank, blind, kalt, starr und tot. Darum strebt alles nach einem Platz an der Sonne – nicht nur höhere, edle Lebewesen, sondern auch niedere, auch sogenanntes Unkraut. Betrachten wir zum Beispiel Löwenzahn, den man auf unsern Wunsch hin neben dem Gartenzaun unseres Pfarrhauses in St. Peterzell mit Schottersteinen und einer Schicht Asphalt zudeckte, um ihn zu vernichten. Doch schon im folgenden Jahr sahen wir, wie sich der Asphalt an mehreren Stellen aufwölbte. Der Löwenzahn darunter drängte mit solcher Kraft zum Licht, dass er den Asphalt durchbrach und allen Widerständen zum Trotz im Licht der Sonne aufwuchs und aufblühte! Ein Sieg des Lebens über den Tod, des Lichtes über die Finsternis! Dies ist zugleich ein sprechendes Bild für den Glauben, der nicht sieht und dennoch seiner Sache gewiss ist, dass es jenseits der mächtigen, Finsternis verbreitenden Todesgrenze Licht und Leben, Weite und Freiheit, eine höhere Welt geben muss, in der unser Leben seine eigentliche Erfüllung findet. Der Glaube an das wahre Licht der Welt gibt uns die Kraft, jene Todesgrenze zu überwinden und diese höhere Welt als eine Wirklichkeit zu erkennen, die jedes Leben überhaupt erst möglich und sinnvoll macht. In uns allen liegt ein tiefes, ursprüngliches, unabweisbares Sehnen und Streben nach diesem Licht, von dem Christus sagte, er sei es selbst!
Ein ungeheurer Anspruch! Doch gab Christus dafür den Beweis der Wahrheit; denn er besiegte die Finsternis dieser Welt durch Worte und Taten des Heils, die niemand vor ihm tat und niemand nach ihm tun wird – Werke, zu denen allein Gott den Auftrag und die Kraft geben konnte. Ja, er kündete an, er werde zur Erlösung der Welt sein Leben hingeben und als Sieger über die Gewalten des Todes und der Finsternis am dritten Tage aus dem Reich des Todes auferstehen, um damit die entscheidende Wende zum Heil für die ganze Welt herbeizuführen. Um dieses Erlösungswerk zu vollbringen, sei er in diese Welt gekommen, und nach Erfüllung seines Auftrages werde er wieder zu seinem himmlischen Vater zurückkehren. So werde er allen, die einst verloren gingen, den Weg in die himmlische Heimat ebnen. Er selbst sei dieser Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand komme zum Vater außer durch ihn. Er sei der Anfang und das Ende. Auch wenn einst dieser sichtbare Himmel und diese Erde vergingen: Seine Worte würden niemals vergehen! Denn er verkünde nicht seine eigenen Gedanken, sondern das Wort Gottes. Und dieses sei die Wahrheit. Wer dieses Wort höre und an den glaube, der ihn in die Welt gesandt habe, der habe schon jetzt Anteil an jenem ewigen Leben, der sei schon jetzt vom Tode zum Leben gelangt. Darum käme es entscheidend darauf an, dass wir dieses Wort in uns aufnähmen wie lebendiges Brot – dass wir es als unser kostbarstes Gut bewahren und unser Leben danach ausrichteten. Denn wenn wir es tun würden – wenn es uns und unser ganzes Leben durchdringe –, dann würden wir erfahren, dass es die Wahrheit sei, das Licht, das alle Menschen erleuchtet – früher oder später. So gab uns Christus die herrliche Verheißung: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ (Joh 8,32)
Wenn also Jesus, wie die Christenheit glaubt, wirklich der Sohn Gottes ist, von dessen Erlösungswerk das Heil aller Menschen abhängt, dann kommt seinen Worten größeres Gewicht zu als allem, was jemals gesagt wurde und gesagt werden wird! Dann besteht andererseits die Finsternis dieser Welt offensichtlich in einer die Menschen unfrei machenden, unterdrückenden Macht der Lüge. Also kommt es darauf an, dass das Licht der Wahrheit, das Jesus offenbarte, allen Widerständen zum Trotz in aller Welt als die eine, reine, erlösende und befreiende Wahrheit verkündet und geglaubt wird! Aber wie gelangt diese Heil schaffende Wahrheit zu allen Menschen?
Haben wir denn überhaupt noch diese Wahrheit, um sie weitersagen zu können? Wenn wir das Wort ‚Wahrheit‘ hören – kommt uns nicht unwillkürlich die skeptische Frage des Pilatus in den Sinn: „Was ist Wahrheit?“ – Wenn die christliche Kirche im Besitz der Wahrheit wäre, dann müsste sie eine fest gefügte Einheit bilden, eine gleichgesinnte Schar von Gläubigen, die sich unter dem Banner der sieghaften Wahrheit versammelt. Aber dem ist nicht so. Schon in den ersten Jahrhunderten der Kirchengeschichte brach die Einheit der Kirche mehrfach auseinander und in der Folge immer wieder. Heute gibt es Hunderte von Kirchen – oder besser: Glaubensgemeinschaften –, die alle der Meinung sind, dass das, was sie lehren, die eine Wahrheit sei. Wem soll man nun also Glauben schenken? Allen oder niemandem? Wo finden wir die Wahrheit?
Es kann doch keine doppelte, dreifache, hundertfache Wahrheit geben! Die Wahrheit richtet sich nicht nach uns, sondern wir müssen uns nach der Wahrheit richten, wie Matthias Claudius schrieb. Die Wahrheit ist unteilbar. Es gibt nur eine Wahrheit! Denn es gibt – wie wir im folgenden Kapitel sehen werden – auch nur den einen wahren Gott, neben dem es keinen anderen gibt. Nur der kann wirklich Gott sein, der ohne Anfang und Ende von Ewigkeit her die Ursache von allem ist, was da ist. Alle anderen Wesen, die sich als ‚Gott‘ ausgeben und verehren lassen, wie dies bis zum heutigen Tag in vielen Religionen und sogar mitten in der christlichen Kirche geschieht, sind keine Götter, sondern Geschöpfe – entweder Gottes Geschöpfe oder Gespinste der menschlichen Fantasie. Zur Erkenntnis der Wahrheit gehört grundlegend, dass man diesen Unterschied von Schöpfer und Geschöpf klar erkennt und festhält. Weil es folglich nur einen wahren Gott geben kann, ist die Wahrheit auch nur eine einzige und als solche unteilbar.
Diese eine, vollumfängliche Wahrheit freilich ist nur bei Gott. Auch wenn diese Wahrheit nur eine ist, so gibt es doch viele Wege, um sie zu erkennen, und viele Gefäße und Formen, um sie aufzubewahren. An dieser Fülle von Einzelerkenntnissen, die es in allen Völkern und Religionen zu allen Zeiten gegeben hat und gibt, sollten wir uns freuen in einer Herzensweite, die in dieser Fülle den Reichtum und die umfassende Güte des Schöpfers erkennt und alle fanatische Engherzigkeit und Kleinkariertheit hinter sich lässt. Gott schuf ja auch nicht nur Rosen, sondern auch Lilien, Himmelschlüssel und Veilchen, Hunderte und Tausende von Blumen und Geschöpfen.
Dieser Reichtum aber ist nur möglich, weil sie alle derselben Ordnung der Naturgesetze eingefügt sind. Es ist eine wunderbare Ordnung von Gesetzen, die einander ergänzen und unterstützen ohne Widersprüche! Diese Gesetze sind nicht vom Menschen gemacht. Er kann sie nur erforschen und entdecken, und je mehr wir sie erkennen, desto mehr müssen wir staunen über diese alles umfassende Ordnung, nach der sich alles Sichtbare bewegt, im Kleinsten wie im Größten, im Atom wie in den Sonnensystemen und fernsten Galaxien. Diese Ordnung erkennen Christen wie Nichtchristen. Es ist ein Stück Wahrheit. Dieser Teilbereich weist uns wiederum auf die große, umfassende Einheit der Wahrheit und auf eine weitere wichtige Voraussetzung zur Erkenntnis der Wahrheit hin: Wahrheit ist nur Wahrheit, wenn sie in sich klar und widerspruchsfrei ist.
Das aber lässt uns nur umso schmerzlicher das Auseinanderbrechen der einen christlichen Kirche in viele einzelne Glaubensgemeinschaften erkennen. Das jetzige äußere Erscheinungsbild der Christenheit gleicht nicht einmal den auseinandergerissenen Teilen eines Puzzles, die sich nahtlos zu einem schönen, sinnvollen Bild zusammenfügen ließen; denn es gibt so viele sich gegenseitig widersprechende und einander ausschließende Lehrmeinungen, ja die einzelnen Gemeinschaften sind sogar in sich uneins! Jede Beschönigung dieser traurigen Tatsache täuscht darüber hinweg, dass es gegenwärtig kaum einen einzigen Punkt christlichen Glaubens gibt, in welchem man einig wäre, und die wenigen Punkte, in denen man weithin einig ist, sind oft sehr entfernt von dem, was Christus lehrte – wie wir noch sehen werden!
Wenn wir der Wahrheit einen kleinen Schritt näher kommen wollen, müssen wir den Mut haben, ihr auch dann ins Auge zu blicken, wenn dies für uns im Moment schmerzlich ist. Aber können wir auf Heilung und Heil hoffen, wenn wir nicht den Übelstand klar erkennen? Was wäre das für ein Arzt, der sich scheute, sich ein klares Bild von der Krankheit und ihren Ursachen zu machen? Für uns genügt im Moment ein Blick auf die Hauptpunkte christlichen Glaubens, um zu erkennen, wie weit wir von dem hellen Licht der Wahrheit entfernt sind.
Was wird alles über Gott gelehrt! Für die einen ist er tot, für die andern existiert er nur noch „von Zeit zu Zeit“, oder er „geschieht je und je“. Er sei eine bestimmte Art von Mitmenschlichkeit. Oder ist er eine den ganzen Kosmos durchdringende Kraft? Es ist höchst umstritten, ob es Gott auch außerhalb und unabhängig von Mensch und Welt als die schöpferische Ursache von allem gibt. Gott als eine Person zu bezeichnen, als ein allmächtiges, allwissendes, vollkommenes geistiges Wesen, hält man vielfach für eine vergangene, überholte, mythische Anschauung. Der antike Mensch habe sein eigenes menschliches Vollkommenheitsideal und seine Sehnsucht nach Unsterblichkeit in der Vorstellung eines Göttervaters von mehreren, miteinander konkurrierenden, sich betrügenden und bekämpfenden Göttern verdichtet und sich ein Elysium dazugedacht: eine Art Himmelreich. Andere glauben nicht nur, dass Gott eine einzige Person sei, sondern dass er gleichzeitig in drei Personen existiere und doch einer und derselbe sei. Wo finden wir die Wahrheit? Wem sollen wir glauben?
Wer war Jesus von Nazareth? Ein guter, vorbildlicher, aber tragisch gescheiterter Mensch? Ein Weisheitslehrer? Ein Wanderprediger? Ein Wundertäter? Ein Prophet? Ein abgelehnter Messiasanwärter? Der Sohn Gottes? Oder war er gar Gott selbst, der auf die Erde kam und Mensch wurde, während zwei Drittel seines Wesens, nämlich Gott Vater und der Heilige Geist, im Himmel blieben? … Ist die Vorstellung von der Präexistenz Jesu – dass er also vor seiner Menschwerdung als geistiges Wesen bei Gott im Himmel von Anbeginn der Schöpfung an existierte – eine abzulehnende, hellenistische Idee? Und gehört es ebenso zu dem alten, mythischen Weltbild, dass Jesus nach seinem Tode auferstand und gen Himmel fuhr, das heißt, dorthin zurückkehrte, wo er vor seiner Menschwerdung war? Hat Jesus sich in vielen Erwartungen und prophetischen Ankündigungen geirrt? Hat er den Menschensohn und Weltenrichter als eine andere, von Jesus zu unterscheidende Person für die nahe Zukunft angekündigt? Sind überhaupt die sogenannten ‚Hoheitstitel‘ Jesu, wie ‚Gottessohn‘, ‚Menschensohn‘, ‚Messias‘ usw., erst von der Urgemeinde auf Jesus angewendet worden, und hat er sich selbst gar nicht so verstanden? Oder hat er gerade darum gekämpft, als der Sohn Gottes anerkannt zu werden?
Und welchen Sinn hatte sein Tod? Hat Jesus uns die Erlösung gebracht? Wovon hat er uns denn erlöst, wenn doch das Böse in der Welt gerade in unserer Zeit so schreckliche Triumphe feiern kann? … Wie kann denn Gott überhaupt so viel Böses und Ungerechtigkeit in der Welt zulassen, wenn er die Liebe und Güte, Gerechtigkeit und Vollkommenheit in Person ist? So viele haben da schwere Zweifel!
Da sind Fragen über Fragen! Aber wer gibt uns Antwort, und wer garantiert uns, dass die Antwort, wenn wir überhaupt eine erhalten, wirklich der Wahrheit entspricht? Ehrlicherweise erklären viele Theologen und Philosophen, dass sie auf diese Frage selbst keine zuverlässige Antwort wissen.
Noch unklarer wird es, wenn man danach fragt, was denn das sei: der Heilige Geist! Die einen meinen, es sei die dritte göttliche Person, die andern, es sei eine bestimmte reine Gesinnung des Menschen, eine ihn beflügelnde Kraft, eine schöpferische, erneuernde, Leben schenkende Macht, etwas wie ein unsichtbarer Hauch oder Wind, die heilige Geistkraft. Wieder andere denken an etwas Ekstatisches, das den Menschen in einem rauschähnlichen, übersteigerten Glücksgefühl ‚aus dem Häuschen‘ bringt und zu prophetischem Handeln anregt in einer Freiheit, die sich über alle Ordnung hinwegsetzt. Umgekehrt scheint der Heilige Geist rechte Ordnung überhaupt erst zu ermöglichen, Heilung von Leib und Seele zu schenken, Machttaten des Heils zu wirken, Erkenntnis der Wahrheit zu vermitteln, den Menschen mit Freude und Dankbarkeit zu erfüllen und ihn zum Lobe Gottes zu beflügeln. Was ist das eigentlich: Heiliger Geist? Es scheint etwas für die Christenheit Lebensnotwendiges zu sein. Aber wer kann uns verbindlich sagen, was die Bibel damit meint?
Und wie steht es mit dem Menschen, mit uns selber? Hat der Mensch eine Seele oder einen Geist? Können Seele und Geist auch unabhängig vom menschlichen Körper existieren? Oder ist alles Geistige, Religiöse nur eine Dunstglocke, die sich über der Materie erhebt, eine Funktion des Gehirns? … Entsteht die Seele bei der Geburt oder schon bei der Zeugung des Menschen, oder gibt es sie schon seit undenklichen Zeiten? Was passiert mit uns im Moment des Sterbens? Was ist das: der Tod? Gibt es ein Weiterleben nach dem Tod, oder werden wir samt unserem materiellen Leib auferweckt werden am Jüngsten Tag, an dem die Wiederkunft Christi erwartet wird? Wird dann die Masse der Menschen auf ewig verdammt? Wie muss man sich das Weltgericht vorstellen? Und die Tiere und die übrigen Lebewesen: Sind sie auch beseelt? Was geschieht mit ihnen? Woher kommen wir? Welchen Sinn hat unser irdisches Leben, und wohin gehen wir? Welchen Sinn hat diese ganze Schöpfung?
Das sind alles Fragen, die sich viele Menschen stellen. Es gab Zeiten, da man diese Fragen gar nicht zu stellen wagte; denn es gab Menschen und Mächte, die nicht daran interessiert waren, dass auf diese Fragen eine klare, überzeugende Antwort erteilt wurde. Allein schon der Zweifel an den bislang gegebenen Antworten und Lehren – und seien sie noch so absurd – wurde als Sünde gebrandmarkt, als Rebellion gegen Gott, als Rütteln an den Fundamenten der Kirche. Die Infragestellung der kirchlichen Lehre wurde als existenzbedrohende Ketzerei empfunden und daher leidenschaftlich bekämpft. Das Feuer der letzten Scheiterhaufen ist noch nicht allzu lange erloschen. – Man meinte damit die Wahrheit zu verteidigen, die man allein zu besitzen wähnte. Ja man behauptete sogar, den grausam gequälten Opfern einen Dienst für ihr Seelenheil zu leisten! So weit hatte man sich vom Ursprung entfernt! So weit von Jesu Vorbild und Lehre, von seiner Abweisung der Herrschsucht und des Richtgeistes, von seiner Leidensbereitschaft und allumfassenden, selbstlosen Liebe, ja seiner Feindesliebe!
Mit einer solchen Haltung, die Andersdenkenden mit weltlicher Macht und Androhung von Strafen und Foltern Angst macht und mit Gewalt zu dem Glauben zwingen will, der von korrupten Menschen und Machthabern, die ihre kirchlichen Ämter mit Geld erkauft und mit Gewalt an sich gerissen haben – angeblich in der Nachfolge Petri –, erreicht die Kirche heute nichts mehr. Diese Zeiten sind – Gott sei Dank! – vorbei. In vielen Ländern schon besteht Glaubensfreiheit. Endlich ist die Zeit gekommen, da man dort ungehindert nach der Wahrheit fragen darf, und diese wird sich allmählich überall durchsetzen, wie die Sonne an jedem Morgen die Finsternis besiegt.
Doch liegt die Welt immer noch weithin im Schatten der Lüge, im Nebel unzähliger Irrtümer und Unwahrheiten, und dies gilt – wie wir sahen – gerade auch für die Christenheit! Sie aber sollte doch der Fackelträger des Lichtes sein, das uns in eine neue Zeit führt! Doch wie gelähmt liegt der christliche Glaube am Boden, aufgesplittert in Hunderte von Gemeinschaften, die unter sich im Blick auf die wichtigsten Glaubensinhalte uneins sind! Ja vielfach werden Dinge gelehrt, die der Wahrheit krass widersprechen – die den Zugang zum Reich Gottes regelrecht verstellen. Es ist nicht zu viel behauptet, wenn man feststellt, dass um die Person Christi ein solches Dornengestrüpp von Unwahrheiten entstanden ist, dass viele nicht nur resignierten, die volle Wahrheit zu erkennen, sondern auch den Glauben an Christus mit Gleichgültigkeit vertauscht haben. Wen wundert es, dass die Verkündigung der frohen Botschaft heute kaum noch Überzeugungs- und Durchschlagskraft besitzt? Dass die Gottesdienste immer schlechter, nämlich nur noch von wenigen Prozent der Christen, besucht werden? Dass immer mehr Menschen den Kirchen den Rücken kehren und Kirchengebäude leer stehen und zum Verkauf angeboten werden? Dass viele nach der Wahrheit suchen in Sekten oder andern Religionen? Der christliche Glaube ist in Europa in eine fundamentale Krise geraten. Er würde jedoch aufhören christlicher Glaube zu sein, wenn er das Vertrauen und die Hoffnung darauf aufgäbe, dass bei Christus die Macht liegt, die geistige Finsternis dieser Welt immer neu durch den Geist der Wahrheit zu besiegen und uns – wie er verheißen hat – in alle Wahrheit zu führen (Joh 16,13). Wenn wir auf den jetzigen Zustand der christlichen Glaubensgemeinschaften schauen, könnte man den Mut verlieren. Wenn wir uns aber Christus und seinen Worten zuwenden, dann wird uns bewusst: Es gibt einen Weg, der uns zur Erkenntnis der einen Wahrheit und damit zum ewigen Leben führt!
Doch dass Christus dieses Wort: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben …“ (Joh 14,6) ausgesprochen haben soll, wird – neben vielen anderen Worten Jesu, die ebenso beurteilt werden – heute gerade von den meisten Neutestamentlern bestritten. Der Zugang zu der von Christus offenbarten Wahrheit ist heute durch ein undurchdringliches Dickicht von wissenschaftlichen Halbwahrheiten, menschlichen Theorien, Hypothesen, Vorurteilen, Dogmen usw. versperrt. Das ist sicher nicht im Sinne Christi!
Wie konnte es denn dazu kommen? Man kann die uns von Gott offenbarte Wahrheit vergleichen mit dem frischen, lebendigen, köstlichen, kristallklaren Wasser, das aus einer reinen Quelle hervorkommt: Auf seinem Weg durch diese Welt wird das reine Wasser durch allerlei Zuflüsse getrübt. Diese Verunreinigungen sind oft so massiv, dass alle Fische daran sterben. So wird der Strom immer breiter, träger und schmutziger, bis er schließlich völlig ungenießbar wird. Die Sichtweite darin beträgt dann oft nur noch wenige Zentimeter! Das Trinken dieses Wassers und das Baden darin muss verboten werden! Dies alles aber hat nicht Gott, sondern der Mensch verschuldet.
Gott schenkt uns vom Himmel her immer wieder reines Wasser und führt uns zu Quellen lebendigen, frischen Wassers, um unsere Seele zu erquicken. Christus war eine solche reine Quelle (Joh 4,13 f.; 7,37 f.). Ja, wo könnten wir eine reinere, stärkere und heilkräftigere Quelle finden als in ihm? Welcher Mensch war in so vollkommener Weise mit Gott verbunden wie er, der von sich sagen konnte: „Der Vater und ich sind eins?“ (Joh 10,30) Er gab Worte ewigen Lebens (Joh 6,68). Bei ihm waren die Jünger wirklich an der Quelle. Sie konnten aus Jesu Mund das reine, unverfälschte Wort Gottes, die Wahrheit, vernehmen wie auch die Samariterin am Brunnen, zu der Jesus sprach: „Jeder, der von diesem Wasser [des Brunnens] trinkt, wird wieder dürsten; wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zu einer Quelle von Wasser werden, das sprudelt, um ewiges Leben zu spenden.“ (Joh 4, 13 f.) Darum heißt Christus in der Bibel auch „das Wort“ (Joh 1,1.3; 1,14), nämlich „Das Wort Gottes“ (Offb 19,13).
Doch schon Jesu eigene Jünger haben ihren hohen Meister nicht immer verstanden. Dies betont zum Beispiel Markus mit dem für ihn typischen Motiv des Jüngerunverständnisses.[1] Johannes unterstreicht in ähnlicher Weise das Missverstehen der Jünger[2], und beim letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern stellt Jesus fest: „Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könntet es jetzt nicht tragen.“ (Joh 16,12) Dies ist ganz verständlich, denn die Jünger waren ja ganz einfache Menschen. Schulbildung konnte man sich damals überhaupt nur in gehobenen Kreisen leisten. Lesen und schreiben konnten die wenigsten. Den Jüngern fehlten einfach oft noch die Begriffe, um zu verstehen, was Jesus meinte. Schließlich ist unser menschliches Erkennen im Blick auf die vollumfängliche Wahrheit überhaupt nur Stückwerk, das uns zur Bescheidenheit mahnt. So wundert es uns nicht, dass die Jünger von ihrem jüdischen Vorverständnis her bis zuletzt von einem irdischen Königreich Jesu träumten – dass sie Jesu Ankündigungen seines Leidens gar nicht verstehen wollten! Denn sie liebten doch ihren Meister! Ein leidender Messias war ihnen nicht begreiflich. So erhofften sie nach Ostern, Christus werde bald wiederkommen, und zwar in Herrlichkeit vom Himmel her. Auch Paulus teilte zunächst diese Erwartung, er werde diese Wiederkunft Christi noch erleben; es würden bis dahin nicht alle sterben (l Kor 15,51). Die an Christus Glaubenden, die zu dem Zeitpunkt der Wiederkunft noch auf Erden lebten, würden dann dem erscheinenden Herrn entgegen entrückt (1 Thess 4,17). Diese Erwartung hatte sich offenbar nicht erfüllt. Die Apostel starben, und man fragte sich: „Wo ist die Verheißung seiner Wiederkunft? Seitdem die Väter entschlafen sind, bleibt ja alles so [wie] von Anfang der Schöpfung an.“ (2 Petr 3,4) Diese im Urchristentum verbreitete Naherwartung der Wiederkunft Christi beruhte tatsächlich auf einem Missverständnis entsprechender Worte Jesu, wie wir noch sehen werden.
Jesus sah es wohl, dass die Jünger manches nicht verstehen konnten, was er ihnen erklärte und obwohl er es ihnen so klar und verständlich wie nur möglich darlegte. Doch deshalb war er nicht besorgt, dass seine Lehre einmal völlig entstellt würde oder dass seine Worte untergehen und sich die Wahrheit der Unwahrheit beugen müsste: Himmel und Erde würden vergehen, aber seine Worte nicht! Er kündigte den Jüngern an, dass Gott auf seine Bitte hin und in seinem Namen den Jüngern einen Beistand senden werde, den heiligen Geist, den Geist der Wahrheit. Er werde sie an alles erinnern, was Jesus sie gelehrt hatte, und dieser Geist der Wahrheit werde ihnen alles erklären. Er werde sie in die ganze Wahrheit führen! (Joh 14,16–17,26; 16,13)
An Pfingsten erlebten die Jünger, dass Jesus sein Wort wahr gemacht hatte. In diesem gewaltigen Geschehen gingen auch die Verheißungen der alttestamentlichen Propheten in Erfüllung, dass Gott seinen Geist zu den Menschen senden und über sie ausgießen werde wie Regen über durstiges Land.[3] Nachdem die großen Propheten des Alten Testamentes über Jahrhunderte geschwiegen hatten, konnte nun endlich wieder das Wort Gottes verkündet werden – das lebendige, aktuell an den Menschen ergehende, prophetisch empfangene Wort der Wahrheit, das der Mensch sich nie selbst nehmen kann. Über die Urgemeinde war der Heilige Geist in fast verschwenderischer Fülle ausgegossen worden. Nicht nur die Apostel waren in hohem Masse geistbegabt. In den einzelnen Gemeinden erweckte sich Christus, der erhöhte Herr, viele Menschen zu Propheten, also zu medial hochbegabten Menschen, die gewürdigt wurden, das Wort Gottes zu empfangen und medial zu vermitteln und zu verkünden.[4] Es waren Menschen, die als ganze Werkzeug (Medium) Gottes waren, indem sie ihren Körper mit seinen Sprechwerkzeugen den heiligen Boten Gottes direkt zur Verfügung stellten, während ihr vom Körper gelöster Geist in souveräner Freiheit stets die bewusste Kontrolle über das Offenbarungsgeschehen behielt (1 Kor 14,32 f.). So dienten sie in freiwilligem Gehorsam gegen Gottes Willen als reine Sprechwerkzeuge oder Sprachrohre in Gottes Hand – wie die Propheten des Alten Testamentes.[5] Alle Gemeinden waren durch solche Propheten oder Medien direkt mit dem Reich Gottes und dem erhöhten Herrn verbunden. Sie hatten sozusagen alle – auch unabhängig von den Aposteln – einen ‚heißen Draht‘ nach oben. Der Geist der Wahrheit konnte sich den Gemeinden direkt mitteilen. Alle Glaubensfragen konnten von Gott her der Wahrheit gemäß beantwortet werden, und solange man auf diesen Geist zu hören bereit war, war auch die Einheit der Kirche, des Leibes Christi, gewährleistet, weil alle Streitfragen immer wieder durch das Wort Gottes entschieden werden konnten.[6]
Aber dieser überaus segensreiche Zustand währte leider nicht lange. Denn jeder, der nur ein wenig von geistigen Dingen versteht, wird wissen, dass da, wo sich das Gute regt, sich sofort auch das Böse meldet und auf den Plan tritt. Dies ist überall da, wo eine neue Religion mit neuen – oder alten – Irrtümern auftritt, nichts Dramatisches. Wo aber die Wahrheit verkündet wird, da regt sich alsbald entschlossener Widerstand! Da wachsen Konkurrenzunternehmen wie Pilze aus dem Boden. Sie sind dem Echten zum Verwechseln ähnlich. Da geht es sehr fromm zu. Ja, da gibt man vor, dass Christus – oder gar Gott selbst – zu der Gemeinschaft spreche und sich durch Propheten offenbare! Christus warnte nicht umsonst vor diesen falschen Propheten (Mk 13,5–6 und 21–23). Sie traten schon damals reichlich auf, nicht anders als heute!
Dadurch wurden im Urchristentum sich völlig widersprechende Lehren verkündet, aber alle mit dem Anspruch, auf Gottes Wort zu beruhen. Entsprechend heftig waren die Glaubenskämpfe, die fortan in der Kirche geführt wurden. Um der Gefahr zu wehren, dass falsche Propheten in den Gemeinden auftraten, drängte man den Einfluss der Propheten immer mehr zurück, bis sie schließlich in der Gemeinde überhaupt nichts mehr zu sagen hatten. Dafür wurde das kirchliche Amt immer mächtiger, auch wenn die einzelnen Amtsträger für ihre Aufgabe und ihren schweren Dienst gar kein Talent, keine Begabung besaßen und dafür von Gott auch nicht beauftragt und berufen waren. Es genügte später, dass einer Ansehen und Einfluss unter den Mitmenschen besaß oder von hohem Range war, um automatisch höchste Ämter in einer solchen Kirche bekleiden zu können. Ja schließlich konnte man sogar – kaum verhüllt – für hohe Summen und durch Bestechung die Kardinals- und Bischofswürde kaufen, ja Papst werden! Als solcher Würdenträger war man zugleich auch ein weltlicher Fürst: Der Papst stützte sich dabei u. a. auf die gefälschte Konstantinische Schenkung und brachte seine auch weltliche Macht mit seiner dreifachen Krone zum Ausdruck.
Am Anfang lebte die Kirche vom Wort Gottes, das heißt von dem durch mediale Menschen, Apostel und Propheten, vermittelten, von heiligen Boten Gottes inspirierten Wort der Wahrheit. Darauf konnte man vertrauen wie auf einen Felsen. Dies lebendige Wort ergriff die Menschen. Es erhellte ihr Denken und durchsonnte ihr Leben. Ihnen leuchtete wahrhaftig das Licht der Welt, das mit seinem hellen Schein die Finsternis vertrieb. So blühten die Gemeinden auf und breiteten sich erstaunlich schnell und dynamisch aus.
Aber dies Wort der Wahrheit ist auch unbequem; es überführt möglicherweise den Einzelnen seiner Fehler und Vergehen, so wie zum Beispiel der Prophet Nathan dem König David seine Schuld auf den Kopf zusagte.[7] Dies hat man nicht gern. Lieber hat man es, wenn all das Dunkle in unserem Leben nicht ans Licht kommt und wir mit schmeichelnden Ehren und Titeln überhäuft werden. Da wirkt das Wort Gottes nur störend, beunruhigend, ‚gefährlich‘! So war man je länger desto weniger willens, auf das Wort der Boten Gottes zu lauschen. Schließlich hatte Gott in der Kirche nichts mehr zu sagen, dafür aber die Menschen, die Ansehen, Reichtum und Macht erstrebten und besaßen, umso mehr! Wenn sich einer in seinem Leben auch noch so sehr verschuldet hatte und das Amt mit den bedenklichsten Intrigen und Bestechungen erkauft hatte – war er einmal im Amt, so galt nur noch das Amt. So konnte man sogar Papst werden und meinte, man könne nur kraft des Amtes die Wahrheit der Glaubens- und Sittenlehre unfehlbar verkünden. Welch unglaubliche Irrlehren damit als allgemein christliche Wahrheit verkündet wurden, soll später im Einzelnen noch gezeigt werden.
Die Reformation suchte diese Entwicklung aufzuhalten und wieder zum reinen Ursprung der Kirche (ad fontes!) zurückzuführen – aber nur mit geringem Erfolg. Gewiss, das Wort Gottes wurde grundsätzlich wieder zum Fundament der Kirche erklärt, zur obersten Instanz über allen kirchlichen Lehren, Dogmen und Entscheidungen der Konzilien und Päpste. Aber: Hatte man denn das Wort Gottes überhaupt? … In der Krisenzeit der Reformation traten wieder viele falsche Propheten und Schwärmer auf, die vorgaben, den Heiligen Geist zu haben und Gottes lebendiges Wort zu verkünden. So schreckte man wieder zurück und wagte nicht, Geister Gottes reden zu lassen; denn man besaß nicht den Mut, die Sicherheit und klaren Kriterien, die Vollmacht, um die Geister zu prüfen, ob sie von Gott kommen oder nicht. Von dieser positiven Möglichkeit wagte man nicht Gebrauch zu machen und schüttete wiederum das Kind mit dem Bade aus, indem man sich auf die Bibel allein warf. Weil man die Bibel besaß, meinte man, auf das lebendige, offenbarte Wort Gottes auf alle Zeiten hinaus verzichten zu können. Die Bibel wurde von der Alten Kirche nach jahrhundertelangem Ringen über die rechtmäßige Zugehörigkeit einzelner Bücher als Kanon (Richtschnur) für den Glauben aufgestellt. In ihr meinte man nun in der Reformation das Wort Gottes als das der Kirche ein für allemal gesagte Wort zu besitzen, und so kam es, dass in der Folge die Meinung vertreten wurde, die Bibel sei von Anfang bis Ende, in all ihren Teilen, von Gott wortwörtlich inspiriert.
Diese – heute sehr weitverbreitete – fundamentalistische Auffassung verrät ein dogmatisches Vorurteil, das völlig blind dafür macht, wie die Bibel wirklich entstanden ist. Denn allein das muss man sich doch fragen, welche der zahlreichen Bibeln denn nun wortwörtlich inspiriert sein solle: eine der vielen deutschen, der englischen, der französischen Übersetzungen oder welche? Es sind doch immer nur Übersetzungen, und die weichen erheblich voneinander ab! Vor allem aber enthalten unsere heutigen Bibeln in Bezug auf die Worte Jesu Übersetzungen von Texten, die selbst schon Übersetzungen sind! Denn Jesus sprach Aramäisch. Seine Worte wurden zunächst ins Griechische, dann ins Lateinische und bald in viele andere Sprachen übersetzt und schließlich in unsere modernen Sprachen.
Wir besitzen kein einziges echtes, schriftliches, aramäisch abgefasstes Dokument, das uns die Worte Jesu in ihrem ursprünglichen Wortlaut überliefert. Nur wenn wir solche Dokumente hätten und der damals gesprochenen aramäischen Sprache perfekt mächtig wären, könnten wir feststellen, ob unsere heutigen Übersetzungen den ursprünglichen Sinn der Worte Jesu sachgemäß wiedergeben. Aber auch wenn wir aramäische Handschriften besäßen: Wer sagt uns denn, dass ihr Wortlaut genau mit dem der Worte Jesu übereinstimmt? Wenn hier nicht wieder Willkür regieren sollte, dann müsste uns dies durch Offenbarung vonseiten Gottes ausdrücklich bestätigt werden!
Aber wir besitzen keine solchen Dokumente, sondern müssen uns an die Übersetzungen halten. Die wichtigste ist zweifellos die griechische; denn die neutestamentlichen Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes haben ihre Evangelien – soweit wir wissen – von Anfang an in Griechisch abgefasst; das war ja die Sprache der Gebildeten, die solche Bücher überhaupt lesen konnten. Dies gilt für die Juden in Palästina, mehr noch für die außerhalb Palästinas und vor allem für die Nichtjuden im damaligen Römerreich.
Nun haben wir aber auch von diesen griechischen Evangelien in keinem Fall die Originale – die alle verloren gegangen sind –, sondern nur Abschriften, und diese Abschriften weisen untereinander Hunderte, ja Tausende von kleineren und größeren Abweichungen auf! Wie kommt das? Man kann hier zwischen bewussten und unbewussten Änderungen unterscheiden.[8]
Dass es zu unbewussten Fehlern beim Abschreiben einer Handschrift kommen konnte, versteht man sehr leicht, wenn man bedenkt, dass die ältesten griechischen Handschriften des Neuen Testamentes und der Evangelien nur mit großen Buchstaben, sogenannten Majuskeln, geschrieben wurden, und zwar so, dass Wort für Wort, Satz für Satz ohne Unterbrechung und im Allgemeinen ohne Satzzeichen aneinandergereiht wurde. Da konnten sehr leicht Buchstaben des einen Wortes beim Lesen zum andern gezogen werden. Ebenso konnte man ganze Worte verschiedenen Sätzen zuteilen. Und schon änderte sich der Sinn. Oder wenn es zum Beispiel kein Fragezeichen gibt: Wer sagt einem im Zweifelsfall, ob der bestimmte Satz eine Frage oder eine Feststellung sein soll?
Beim Abschreiben von Hand konnte es sehr leicht geschehen, dass ein Buchstabe nicht deutlich genug geschrieben wurde, um ihn von einem ähnlich aussehenden sicher unterscheiden zu können. Auch durch diese Buchstabenverwechslungen sind Fehler entstanden. Manchmal haben die Schreiber versehentlich einen oder mehrere Buchstaben oder eine Silbe entweder doppelt geschrieben oder ausgelassen. Auch sie waren nur Menschen und wurden beim stundenlangen Abschreiben trotz aller Sorgfalt müde.
Dann konnte es auch geschehen, dass das Auge des ermüdeten Schreibers bei Sätzen mit gleichem Anfang oder Ende überspringend von einem zum andern glitt und dabei Text ausließ!
In manchen Schreibstuben wurden auch mehrere Handschriften gleichzeitig hergestellt, indem man den Text vorlas und mehrere Schreiber zugleich an der Arbeit waren. Dann schlichen sich bisweilen Hörfehler ein, indem man ein Wort mit einem ähnlichen verwechselte … usw.
Unsere Evangelienhandschriften weisen aber auch zahlreiche bewusste Änderungen auf, so, wenn stilistisch harte Formulierungen geglättet oder in ein gehobeneres Griechisch gebracht wurden oder wenn Worte Jesu, die man von einem anderen Evangelium her im Ohr hatte, bewusst an die bekannte Formulierung angepasst wurden. Solche Harmonisierungen konnten schon deshalb geschehen, weil man Unstimmigkeiten in Bezug auf ein bestimmtes Wort Jesu ausräumen und dem Wortlaut, den man für den richtigen hielt, den Vorzug geben wollte.
Manche Stellen weisen offensichtlich Schreibfehler oder Fehler in Rechtschreibung und Grammatik auf. So korrigierte man sie. Oder man stellte falsche Zeit- oder Ortsangaben richtig. Aber man stieß sich auch an Aussagen, die man theologisch für gefährlich oder falsch hielt, und so zögerte man oft nicht, solche Stellen zu korrigieren, zu ergänzen oder ganz auszulassen! Hier ist die Grenze zur bewussten Fälschung fließend. Es gab damals wie heute bewusste Fälscher mit den verschiedensten, nicht immer schlechten Motiven. Wurde zum Beispiel eine Lehre auf einem Konzil als für die Kirche verbindlich erklärt, dann mussten alle biblischen Stellen, die ihr widersprachen, Anstoß erregen, und so wurden Korrektoren aktiv, um die Handschriften im Sinne der kirchlichen Lehre – auf der anderen Seite auch im Sinne der Lehre von Splittergruppen – anzugleichen. Manche Handschriften weisen die Spuren mehrerer Korrektoren auf! Die Änderungen im Wortlaut einzelner Evangelien konnten sehr einschneidend sein. So hat zum Beispiel Marcion um die Mitte des 2. Jahrhunderts in seinen Exemplaren des Lukasevangeliums alle Hinweise auf den jüdischen Hintergrund Jesu gestrichen, ähnlich wie der libysche Staatschef Gaddafi aus dem Koran, dem heiligen Buch des Islams, alle Hinweise auf Ägypten streichen lassen wollte.
Angesichts des unbestrittenen Tatbestandes, dass wir Jesu Worte in ihrem ursprünglichen Wortlaut auf Aramäisch nicht mehr besitzen, dass wir also in jedem Fall auf Übersetzungen angewiesen sind und zudem die Originalhandschriften der Evangelisten verloren gegangen sind, wobei die Abschriften davon – wie sie uns in den ältesten erreichbaren Handschriften vorliegen – in vielen Hunderten von Fällen voneinander abweichen, ohne dass wir den Urtext mit letzter Sicherheit wiederherzustellen in der Lage wären, so ist die Behauptung, die Bibel in den uns heute vorliegenden verschiedenen Übersetzungen sei das wortwörtlich inspirierte Wort Gottes, als unhaltbar und in die Irre führend zu bezeichnen.
Damit soll freilich nicht verkannt werden, dass die Evangelisten mit der Sammlung und schriftlichen Fixierung der Jesus-Überlieferungen uns einen unschätzbaren Dienst erwiesen haben. Denn solange eine Überlieferung nur mündlich weitergegeben wird, ist sie in noch unkontrollierbarerem Maße Einflüssen und Veränderungen ausgesetzt, die den ursprünglichen Sinn eines Wortes total unerkennbar werden lassen können, was oft schon allein durch Hinzufügen oder Weglassen eines einzigen Wortes möglich wird!
Da die Abfassung der vier neutestamentlichen Evangelien, wie heute von der entsprechenden Wissenschaft allgemein anerkannt wird, noch in das 1. Jahrhundert fällt – genauer: in die Jahre von etwa 70 n. Chr. bis in die Neunzigerjahre –, ist der Abstand vom Tode Jesu im Jahre 28 n. Chr.[9] bis zur Abfassung des ältesten Evangeliums, nämlich des Markusevangeliums, ungefähr im Jahre 70 n. Chr., verhältnismäßig klein, und viele der Zeitgenossen Jesu, die ihn erlebt, die seine Lehre gehört hatten oder von ihm geheilt wurden, werden noch gelebt haben und zum Teil Gemeindeglieder gewesen sein. Auch einige der Jünger Jesu, vor allem Johannes, haben noch bis in die Zeit der Abfassung der Evangelien gelebt, sodass deren Zuverlässigkeit nicht überkritisch unterschätzt werden darf. Zweifellos finden wir in vielen Worten Jesu alte, ursprüngliche Überlieferung, auch wenn wir dies wissenschaftlich nur selten und oft nur unzureichend nachweisen können.
In jedem Fall aber haben die Evangelisten eine für die Erhaltung der Jesus-Überlieferung – und damit für die Entfaltung des Christentums – hochbedeutsame Arbeit geleistet, die zweifellos von Geistern Gottes unterstützt wurde; denn an der bestmöglichen Erhaltung und Überlieferung der Worte und Taten Jesu musste die Gotteswelt größtes Interesse haben. So werden die alten Maler wohl grundsätzlich richtig gesehen haben, wenn sie die Evangelisten bei ihrer Arbeit so malten, dass sie unsichtbar von himmlischen Boten beschattet und inspiriert waren – ohne dass wir uns dabei vorstellen dürfen, dass ihnen der Wortlaut der Evangelien Satz für Satz eingegeben wurde. Dass Letzteres nicht der Fall war, zeigt sich auch daran, dass Lukas am Anfang seines Evangeliums darauf hinweist, dass er Kenntnis von schriftlichen Evangelien oder Sammlungen von Worten beziehungsweise Taten Jesu hatte, die schon vor ihm abgefasst worden waren, und dass er der Überlieferung von vorne an genau nachgegangen war, indem er insbesondere Augenzeugen und ‚Diener des Wortes‘ als Tradenten seiner Überlieferung berücksichtigte. In diesem Bemühen um Zuverlässigkeit wurden die Evangelisten sicher von oben unterstützt und geleitet. Das erklärt die erstaunliche Übereinstimmung der Evangelien im Großen und Ganzen und den Umstand, wie sie sich häufig aufs Schönste ergänzen. Doch zeigt der sorgfältige Vergleich derjenigen Worte Jesu, die in mehreren Evangelien zugleich überliefert werden, dass doch auch gewisse Unterschiede im Wortlaut vorliegen, die nicht vorhanden wären, wenn den Evangelisten der Wortlaut der Aussprüche Jesu wortwörtlich eingegeben worden wäre. Man denke nur z. B. an den Wortlaut des Vaterunsers in der Form, wie sie von Matthäus (6,9–13) und Lukas (11,2–4) überliefert wird.
Auch sei darauf hingewiesen, dass die Gestalt des Johannesevangeliums in der Form, wie sie uns nun vorliegt, eine teilweise Unordnung erkennen lässt und damit ein höchst menschliches Bemühen, die einzelnen Überlieferungen in eine sinnvolle Ordnung zu bringen, auch wenn dies nicht immer ganz gelungen ist. Offenbar hat Johannes, der sogenannte Lieblingsjünger Jesu, in seinem hohen Alter am Ende des 1. Jahrhunderts sein Evangelium nicht selbst abschließen können, sondern seine im 21. Kapitel des Johannesevangeliums erkennbaren Schüler[10] haben das kostbare Material des Lieblingsjüngers Jesu nach seinem Tod zu der jetzigen Gestalt des 4. Evangeliums zusammengefügt. So werden einzelne Widersprüche und Ungereimtheiten im Johannesevangelium, wie sie von Einleitungen in das Neue Testament[11] ausführlich beschrieben werden, am besten verständlich.
Ja, wir müssen sogar sagen: Auch wenn wir im Besitz der Originalhandschriften der Evangelisten wären, ließe sich auch noch aus weiteren wichtigen Gründen der Wortlaut der Lehren Jesu nicht mit letzter Sicherheit ermitteln, weil nämlich die Evangelisten ganz verschiedene Persönlichkeiten mit ganz eigenen ‚theologischen‘ Vorstellungen waren. Dies blieb nicht nur in Bezug auf den Wortlaut der einzelnen Aussprüche Jesu, sondern auch auf deren Anordnung im Gesamtgefüge der Evangelien nicht ohne Einfluss!
So steht zum Beispiel die hochbedeutsame Tempelreinigung im Johannesevangelium schon in Kapitel 2, ganz am Anfang der öffentlichen Wirksamkeit Jesu, während sie sich bei Markus erst in Kapitel 11, nach dem Einzug Jesu in Jerusalem wenige Tage vor seinem Leiden, findet. Markus rahmt diese Tat Jesu zudem noch bedeutungsschwer mit der Geschichte von der Verfluchung des Feigenbaumes ein (Mk 11,12–14.20 f.), während Matthäus diese Feigenbaumgeschichte insgesamt erst auf den auf die Tempelreinigung folgenden Tag datiert (Mt 21,18 ff.) und Lukas diese Verfluchungsgeschichte gar nicht erwähnt, obwohl er sie sicher gekannt hat! Markus gibt als Wort Jesu bei der Tempelreinigung an: „Steht nicht geschrieben: ‚Mein Haus soll ein Bethaus heißen für alle Völker‘? Ihr aber habt es zu einer Räuberhöhle gemacht.“ (Mk 11,17) Johannes dagegen überliefert uns das Wort: „Macht nicht das Haus meines Vaters zu einem Kaufhaus!“ (Joh 2,16) Wer bietet uns das Wort, welches Jesus wirklich gesprochen hat? Oder sprach er beide Worte? Wer hat uns die geschichtlich zutreffende Abfolge der Ereignisse bewahrt? Wenn überhaupt, dann bietet sie nur einer der Evangelisten; aber welcher?
Hinzu kommt, dass die Evangelisten – ebenso wie die Jünger – Jesus nicht immer richtig verstanden in dem, was er lehrte. Bei ihnen, und vor allem bei Lukas, lässt sich zwar erkennen, dass sie die Wiederkunft Christi nicht mehr in allernächster Zeit erwarteten; doch hielten alle Evangelisten grundsätzlich an dieser Erwartung fest. Diese sogenannte Parusieerwartung hat nicht wenige Worte Jesu in ihrem wahren Sinn ganz entstellt. (Dies wird an Beispielen noch deutlich werden.) So wichtig und kostbar die Evangelien trotz aller Mängel sind, können wir uns nicht einfach blind auf sie verlassen, um in Jesu Lehre das reine Licht zu erkennen, das in diese Welt gekommen ist.
Auf die Überlieferung der Jünger hat sich ja auch Paulus, dem die späteren Evangelien zudem noch unbekannt waren, nicht verlassen; denn er überliefert uns bekanntlich nur sehr wenige Worte des historischen Jesus. Paulus war auf sie auch nicht so angewiesen; denn für ihn wie für die Urchristen überhaupt war Jesus nicht eine vergangene, am Kreuz gestorbene Gestalt, von der man nur durch mündliche Überlieferung oder schriftliche Zeugnisse die Wahrheit erfuhr, sondern vielmehr der auferstandene, erhöhte, lebendige Herr. Er war Paulus in machtvoller, lichtvoller Gestalt als der Lebendige begegnet. Mit ihm war der Apostel in höchst intensiver Beziehung verbunden, wie ein Glied an dem Leibe, dessen Haupt Christus ist. Von diesem lebendigen, gegenwärtigen Herrn erwartete und empfing Paulus die Belehrungen und Offenbarungen, die das Fundament seiner Verkündigung darstellten, wie er vor allem im Galaterbrief, Kapitel 1 und 2 leidenschaftlich betont: „Ich tue euch nämlich kund, ihr Brüder, dass das von mir verkündete Evangelium nicht von menschlicher Art ist; denn ich habe es auch nicht von einem Menschen empfangen noch gelernt, sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi.“ (Gal 1,11 f.) Paulus hat uns wohl das mächtigste urchristliche Zeugnis dafür hinterlassen, dass christlicher Glaube, Kirche, Christentum nur dann in der Wahrheit gründen, wenn sie auf dem unerschütterlichen Felsen des geoffenbarten Wortes Gottes aufbauen. Nur da, wo wir uns unbedingt unter den Willen und das lebendige Wort des Herrn stellen und bereit sind, ihn – durch den Geist der Wahrheit – reden zu lassen, ihm nicht das Wort abzuschneiden, sondern wirklich auf ihn zu hören, nur da ist der Leib der Kirche stark genug, jedwede Krankheitsstoffe auszuscheiden oder abzuwehren.
Aber die jetzigen christlichen Gemeinschaften sind bereits so stark erkrankt, dass sie meist zu schwach geworden sind, um sich noch wirklich gegen die eingedrungenen Krankheitserreger zu wehren, das heißt, sich grundlegend zu erneuern und zu gesunden. Man sieht sich in einem breiten, schmutzigen Strom schwimmen, der immer mächtiger auf einen Wasserfall, einen Abgrund zuströmt. Haben wir den point of no return schon hinter uns, sodass es nicht mehr möglich ist, das rettende Ufer zu erreichen? – Es fehlt uns in den Kirchen weithin die Kraft zu wirklicher Umkehr. Sind doch diese Krankheitserreger in Form von falschen Lehren schon viel zu lange und sehr früh in den Leib des Christentums eingedrungen!
Daran konnte auch die Aufstellung des neutestamentlichen Kanons als Richtschnur für den rechten christlichen Glauben kaum etwas ändern; denn mithilfe einzelner Bibelstellen kann man alle möglichen Lehren aufstellen, wie ja schon Matthäus 4,5 f. beweist, wo der Versucher Jesus in der Wüste mit einem Zitat aus der Bibel (5. Mose 8,3) in die Irre führen will. – Aber wie sollte man nun die aufbrechenden Glaubensstreitigkeiten lösen, nachdem man sich in der Kirche selbst der Möglichkeit beraubt hatte, sich durch den Geist der Wahrheit belehren zu lassen?
Man versuchte, die in einzelne, sich erbittert bekämpfende Parteien auseinanderfallende Einheit der Kirche dadurch wieder zu kitten, dass man die Wahrheit des Glaubens auf allgemeinen Konzilien festzustellen beziehungsweise festzulegen suchte. Aber was waren das für Konzilien! Das wirkungsgeschichtlich wichtigste, nämlich das erste vom Jahre 325 in Nizäa, wurde von Kaiser Konstantin einberufen. Er war damals noch ungetauft. Unter dem Druck des die Kirche nicht mehr verfolgenden, sondern fördernden, aber theologisch ungebildeten Kaisers ließen sich die versammelten Bischöfe, die praktisch nur einen Teil des Ostens der Kirche vertraten, gegen den Willen ihrer überwiegenden Mehrheit dazu drängen, die Wesensidentität des Sohnes mit dem Vater zu behaupten.[12] Damit wurde die vom Neuen Testament und der Alten Kirche bis ins 3. Jahrhundert hinein mehrheitlich gelehrte Unterordnung des Sohnes Gottes unter Gott aufgegeben! Von nun an sollte also in der Kirche etwas Neues, qualitativ anderes gelehrt werden! Dies war eine Entscheidung, die so viel Explosionsstoff in sich trug, dass sie zu weiteren Streitigkeiten und Konzilien führen musste. Denn wenn Jesus, der Sohn Gottes, mit dem Vater wesensidentisch ist, dann kann es nicht zwei göttliche Personen geben – den Vater und den Sohn. Muss man aber beide unterscheiden und wird dennoch vorausgesetzt, dass sie dasselbe Wesen besitzen, dann muss es ja notwendig zwei einander vollkommen ebenbürtige Götter geben – was aber in sich unmöglich ist und dem Gebot „Du sollst keine andern Götter neben mir haben“ in krasser und zutiefst heidnischer Denkweise widerspricht. Konstantin selbst verwarf später seine Entscheidung von 325 – nicht so jedoch die Kirche. Sie meinte, auf diesem Wege fortfahren zu müssen und auf weiteren Konzilien, auf denen es zum Teil noch bedenklicher zuging mit unglaublichen Intrigen, Machenschaften und sogar Gewaltanwendung, die Wahrheit des christlichen Glaubens finden und für alle verbindlich erklären zu können.
Lässt sich aber die Wahrheit überhaupt durch einen Mehrheitsbeschluss feststellen? Man hätte sich in dieser Hinsicht am alten Gottesvolk Israel orientieren können. Wie oft standen die großen Gottesmänner, Propheten wie Elia, Amos, Micha, Jeremia und andere, auf völlig einsamem Posten! Hätte man eine Abstimmung unter all denen vorgenommen, die sich als Propheten Gottes ausgegeben haben, so wäre die Wahrheit verraten und verkauft gewesen, und das Gottesvolk hätte zu existieren aufgehört! Denn nicht selten waren es Hunderte von falschen Propheten, die alles andere als Gottes Wort und die Wahrheit verkündeten; und ihnen stand nur ein einziger wahrer Prophet gegenüber! Wenn seinerzeit die Mehrheit im Synedrium darüber zu befinden gehabt hätte, wer die Wahrheit lehrt, so wäre Jesus ja ganz zu Recht zum Tode verurteilt worden – dann hätte es das Christentum gar nicht geben dürfen! Wahrheitsfindung durch Mehrheitsbeschluss scheidet also grundsätzlich als Möglichkeit aus. Für solche Mehrheitsentscheide den heiligen Geist in Anspruch zu nehmen, schlägt der Wahrheit ins Gesicht.
Aber kann dann nicht wenigstens der Papst die Wahrheit des christlichen Glaubens feststellen? Lehrt er nicht unfehlbar, wenn er ‚ex cathedra‘ spricht? Nein, denn der Geist Gottes weht, wo er will (Joh 3,8). Die Erkenntnis der Wahrheit ist nicht an einen bestimmten Lehrstuhl gebunden, auch nicht an den Lehrstuhl dessen, der sich für den Nachfolger Petri hält; denn auch Petrus – dem Paulus in Antiochia ‚ins Angesicht widerstand‘ (Gal 2,11) und zu dem Paulus nach seiner Berufung auch nicht sogleich hinging, um sich mit ihm zu beraten (Gal 1,16 f.) – auch ein Petrus war nicht unfehlbar. Er war es nur dann, wenn er sich nicht auf Fleisch und Blut verließ und nicht auf das hörte, was die Kirche schon immer und in ihrer Mehrheit (!) glaubte. Unfehlbar war Petrus in der Tat nur dann, wenn er allein dafür offen war, was ihm vom Vater Jesu Christi, vom Himmel her, offenbart wurde (Mt 16,17)! Nicht der Mensch Petrus, der seinen Herrn, Jesus Christus, den Messias, bevor der Hahn krähte, dreimal verleugnete, sondern dieser auf der Offenbarung des Wortes Gottes gründende Glaube ist der Fels, auf dem Christus seine, die wahre Kirche aufbaut. Dieser Glaube und diese Kirche sind unerschütterlich und unüberwindbar, denn sie gründen in der Wahrheit, in Christus, in Gott. Und – wie Paulus sagt – „einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“ (1 Kor 3,11) Auf diesen, durch niemanden zu ersetzenden Fels, auf dieses von Gott gelegte Fundament muss die Christenheit wieder gestellt werden, wenn sie wahre Kirche und ein Segen für die ganze Menschheit sein will, was zu sein ihre Verheißung von Abraham her ist (1 Mose 12,1–3).
Die Dringlichkeit und Unabweisbarkeit dieser Forderung wird schließlich vollends deutlich, wenn wir den letzten Versuch betrachten, das Licht der Wahrheit, wie es von Jesus offenbart wurde, ohne die Möglichkeit der Offenbarung zu erkennen, allein durch die methodische Anwendung kritischer Vernunft, nämlich durch die moderne Bibelwissenschaft. Seit über 200 Jahren, also seit der Aufklärung, hat die theologische Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament sich in einer beispiellosen wissenschaftlichen Anstrengung bemüht, Klarheit zu bringen in die Fragen nach der Entstehung der Bibel, der einzelnen Bücher, deren Echtheit, Sammlung und Kanonisierung zu dem einen Buch der Bibel. Dieses Großaufgebot historisch-kritischer Forschung hat sich insbesondere den Evangelien zugewandt. Wer hat sie geschrieben? Stammen das Matthäus- und das Johannesevangelium von Jüngern Jesu? Welches ist das älteste, welches das jüngste? Gibt es gegenseitige Abhängigkeit zwischen den einzelnen Evangelien? Kannte zum Beispiel Johannes die drei anderen oder nicht? Jeder Abschnitt, jeder Satz, jedes Wort wurde bis ins kleinste immer und immer wieder untersucht mit einem ungeheuren Aufwand von wissenschaftlichen Hilfsmitteln und Methoden, Kommentaren und Spezialuntersuchungen.
Und was ist nun das Ergebnis dieses ganze Bibliotheken füllenden wissenschaftlichen Großunternehmens? Wissen wir nun, von wem das Johannesevangelium stammt? Welche Quellen die Evangelisten benutzten? Welche Worte wirklich von Jesus gesprochen wurden und welche nicht? Wissen wir nun, wie Jesus sich selbst verstanden hat? Was für eine Aufgabe oder Sendung er hatte? Ob er seinen Tod und seine Auferstehung voraussah? Welchen Sinn er diesem Geschehen beimaß? Wie und wann sollte das Weltgericht stattfinden? Welche Rolle würde Jesus dabei spielen? Worin besteht das Heil der Welt? Was versteht Jesus unter dem Reich Gottes? Gibt es seiner Meinung nach himmlische und höllische geistige Wesen, und welche Bedeutung haben sie für den Menschen? Wie verhalten sich in Jesu Sicht Leben nach dem Tod und Auferstehung zueinander? Wissen wir über all diese und viele andere wichtige Fragen nun Bescheid? Hat die theologische Wissenschaft in Bezug auf diese Fragen auch nur einen einzigen Punkt sicher geklärt und hieb- und stichfest bewiesene Antworten geliefert?
Diese Frage muss bei aller Hochachtung vor der riesigen hier geleisteten Arbeit und bei allem Wohlwollen und bei aller Anerkennung des hier unter Beweis gestellten guten Willens und redlichen Bemühens mit einem klaren Nein beantwortet werden. Zu diesem Ergebnis ist im Grunde schon Albert Schweitzer in seinem monumentalen Werk „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ gelangt.[13] So viele verschiedene Forscher sich an die Arbeit machten, um durch alle späteren theologischen, dogmatischen Übermalungen hindurch ein zutreffendes, zuverlässiges Bild von dem historischen Jesus zu gewinnen, wie er wirklich gelebt, gelehrt, gehandelt und gelitten hat, so viele voneinander verschiedene Ergebnisse wurden erzielt. So wie die Maler hatte jeder Forscher am Ende ein verschiedenes Bild von Jesus vorzuweisen; denn jeder sah Jesus mit einer verschiedenen Brille an, je nach den innersten erkenntnismäßigen, glaubensmäßigen, philosophischen, theologischen, dogmatischen Überzeugungen von dem, was historisch wahr sein kann und was nicht. Dabei hat sich unser modernes materialistisches, rationalistisches, mechanisches Weltbild als ein schier unüberwindbares, scheinbar unfehlbares, aber selbst von der Naturwissenschaft schon längst überholtes und widerlegtes Dogma erwiesen, das größten Schaden angerichtet hat.
Denn heraus kam auch bei den fähigsten, gewissenhaftesten Theologen ein Jesus, der sich in entscheidenden Punkten als ein gefährlich naiver Träumer und falscher Prophet darbot. Mehr als ein großer prophetischer Wahrheitslehrer, der für seine Überzeugung in den Tod ging, war Jesus da meist nicht. Weithin wird abgelehnt, dass Jesus sich selbst als Messias, als Gottes- und Menschensohn verstand und diese Titel für sich in Anspruch nahm. Wer er selbst war und welche Aufgaben er auf Erden hatte, wusste Jesus demnach nicht. Ja viele nehmen an, Jesus habe auf eine von ihm verschiedene, zukünftige Gestalt, den Menschensohn, hingewiesen, der in naher oder nächster Zukunft zum Weltgericht erscheinen werde. Jesus habe das baldige, mit diesem Gericht verbundene Weltende angekündigt. Dann sollte Gottes Herrschaft weltweit offenbar werden und den Sieg über alles Böse davontragen. In diesen Vorstellungen sei Jesus von einem zeitbedingten Weltbild befangen gewesen, das für uns nicht mehr verbindlich sei. Die Geschichte habe ja gezeigt, dass Jesus sich in diesen Erwartungen und Vorstellungen getäuscht habe. Man nimmt dies Jesus großzügig und tolerant nicht übel; aber man nimmt dafür freilich in Kauf, dass er damit im Grunde als falscher Prophet bloßgestellt würde, der im alten Israel die Todesstrafe verdient hätte, wobei man im alten Israel die falschen Propheten gewöhnlich leben ließ und die wahren umbrachte!
Man wähnt sich also in verschiedener Hinsicht Jesus, dem Sohne Gottes, der zur Rechten Gottes sitzt, dem König der Wahrheit, überlegen! … Ein Paulus ist nach der Begegnung mit dem auferstandenen, erhöhten Herrn tagelang äußerlich blind gewesen – weil er Christus, das Licht der Welt, erkannte. Könnte es nicht sein, dass wir schon seit Jahrhunderten innerlich blind sind und Christus deshalb nicht erkennen? Könnte es nicht sein, dass wir die großartigen Erkenntnisse der Naturwissenschaften in Bezug auf die materielle Welt in falscher Weise absolut gesetzt und dadurch den Blick für das Ganze, das Lebendige, das Geistige, das Ewige, verloren haben? Könnte es nicht sein, dass Jesus uns bezüglich der Erkenntnis Gottes, seines Reiches und der geistigen Dimensionen dieses Universums himmelhoch überlegen ist – dass wir einmal erschrecken werden, über wen wir uns so erhaben glaubten? … Sollte man in der theologischen Wissenschaft nicht ein wenig bescheidener werden angesichts der Tatsache, dass es kein einziges Wort, keine einzige Tat Jesu und kein einziges Ereignis in seinem Leben gibt, über dessen Echtheit oder Bedeutung man mit Sicherheit einer Meinung wäre? Der Zugang zu der wahren Gestalt Jesu Christi ist durch die moderne Bibelwissenschaft nicht erleichtert, sondern wie durch ein undurchdringliches Dornengestrüpp erschwert, ja wie durch einen hundertfachen Stacheldrahtverhau verunmöglicht worden. Nicht dass der kritische Gebrauch unseres Verstandes abzulehnen wäre – im Gegenteil! Die Wahrheit muss den Verstand nicht fürchten. Das eigene, selbstständige, selbstkritische, bescheidene Nachdenken und das geordnete, methodische Suchen und Forschen ist sehr zu begrüßen, ja zu fördern; denn wir haben die Verheißung: „Suchet, so werdet ihr finden!“ (Mt 7,7; Lk 11,9 f.) Aber wir müssen recht suchen!
Wie wollen wir Geistiges finden, wenn wir uns nur nach außen wenden und nur das untersuchen, was wir sehen, anfassen, messen können? Können wir erkennen, was ein Schmetterling ist, wenn wir ihn mit einer Nadel in einem Glaskasten aufspießen? Gehört zu einer Erkenntnis, die das eigentliche Wesen eines solchen Geschöpfes erfassen will, nicht eine grundsätzlich andere, umfassendere Einstellung, die nicht weniger sorgfältig beobachtet, aber liebevoll staunend wahrnimmt, dass hier eine hässliche Raupe verwandelt wird in ein ganz neues Wesen: Auf Flügeln getragen, schwebt es frei in leuchtenden Farben, im Lichte der Sonne, von Blüte zu Blüte! … „Eine Sache wird nur so weit erkannt, als sie geliebt wird“, meinte Augustinus. Die Liebe schließt uns das innerste, tiefste Wesen nicht nur des Menschen, sondern des Lebendigen, Geistigen schlechthin auf. „Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist Liebe.“ (1 Joh 4,8) Liebe und Erkenntnis sind es also, die uns den Himmel aufschließen. Die Liebe verwandelt den hab- und herrschsüchtigen Verstand, der alles an sich reißen, in den Griff bekommen und zerpflücken will, in die behutsam vernehmende, ehrfürchtig wahrnehmende, weise erkennende Vernunft.
Was also ist denn das letzte, entscheidende Kriterium, das wir anführen könnten, um zu sagen, dieses Weltbild sei das richtige, jenes nicht; dieses Bild vom historischen Jesus sei das zutreffende, jenes nicht? Darauf können uns unsere Wissenschaftler keine Antwort geben. Denn Wissenschaft ist und bleibt immer menschliches und deshalb unvollkommenes Bemühen. Sie kann nur Ergebnisse mit einer mehr oder weniger großen Wahrscheinlichkeit liefern. Darum darf sich der Glaube auch nie voll auf wissenschaftliche Ergebnisse verlassen – sonst ist er verlassen.
Das Lebendige, Geistige, Göttliche, die Wahrheit, kann die Wissenschaft mit ihren bisherigen, offenbarungsblinden Methoden nicht erfassen. Sie kann die Wahrheit nur ergreifen, wenn sie sich selbst von der Wahrheit, von Gott ergreifen lassen will – wenn sie bereit ist, sich von Gott in seinem Wort das letzte Kriterium, den entscheidenden Schlüssel zur Erkenntnis aller Wahrheit, geben zu lassen. „Denn das Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und hindurchdringend bis zur Scheidung von Gelenken und Mark der Seele und des Geistes und ein Richter der Gedanken und der Gesinnung des Herzens; und kein Geschöpf ist vor ihm unsichtbar, vielmehr ist alles entblößt und aufgedeckt vor seinen Augen, dem wir Rede zu stehen haben.“ (Hebr 4,12 f.) Dieses lebendige Wort Gottes zu hören, waren die verweltlichten Kirchen über Jahrhunderte hinweg nicht bereit. Das hatte für die Christenheit und Menschheit verheerende Folgen: Der Überlieferungsstrom der von Jesus in die Welt gebrachten Wahrheit wurde immer schmutziger, bis er schließlich ungenießbar und krankheitserregend wurde.
So wichtig es ist, dass wir die Bibel lesen und Gott dabei bitten, dass er uns die Augen für die Wahrheit öffnet, so sehr wird uns dabei klar, dass die Bibel immer wieder über sich selbst hinausweist auf den von den Propheten und Christus verheißenen Geist der Wahrheit, der uns in alle Wahrheit führen wird (Joh 14,26: 16,13; Apg 2,15 ff.) Auf ihn gilt es zu hören! Davon hängt unser Heil und Leben ab, nicht nur persönlich, sondern auch im Blick auf die Kirche. Denn – wie Jesus sagt: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das aus dem Munde Gottes hervorgeht.“ (Mt 4,4) Wir sollen uns also nicht an den Buchstaben klammern, sondern an das lebendige Wort Gottes, an den, welchen es bezeugt: Christus. Mit ihm als dem Haupt sollen wir, die wir an ihn glauben, in Tat und Wahrheit als lebendige Glieder und Gemeinschaft der Heiligen im Himmel und auf Erden in einem Leib aufs Schönste verbunden und eins sein. Das ist wahre, lebendige Kirche!
Um es mit Paulus auf einen Nenner zu bringen: „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.“ (2 Kor 3,6) Er war ja vor seiner Bekehrung durch Christus selber Pharisäer und Schriftgelehrter. Er kannte sie. Und was machten sie, die ja lesen konnten und den Buchstaben, die heiligen Schriften, so gut kannten? Haben sie an Jesus als den Messias geglaubt? Sie haben ihn verurteilt, verworfen und ans Kreuz ausgeliefert! Auch Paulus hat zuerst die Christen verfolgt! Ja, der Buchstabe tötet!
Und was haben die einfachen, bescheidenen Hirten auf dem Feld zu Bethlehem, diese Menschen guten Willens, die nicht einmal lesen konnten, gemacht? – Ihnen hat sich der Himmel aufgetan! Ihnen ist der Engel erschienen! Und dies ist keine Legende, wie uns die Gotteswelt belehrt![14] Die Hirten sind wohl erschrocken, aber sie haben auf den Engel gehört, auf das lebendige Wort Gottes. Sie haben gehört und waren gehorsam. Sie taten, was der Engel ihnen gebot. Und das an sie ergehende Wort Gottes hat sich als wahr erwiesen! Sie fanden alles genauso, wie es ihnen der Gottesbote verkündet hatte. Ja, sie fanden das Größte, was sie finden konnten: das Christuskind, den Messias, der allen, die an ihn glauben, wahres, ewiges Leben schenkt! Darüber priesen und lobten sie Gott!
Wer hatte also das bessere Teil erwählt? Die Schriftgelehrten oder die Hirten? – Diese Engel Gottes, diese himmlischen Heerscharen, wie sie die Hirten im Lichtglanz der Herrlichkeit des Herrn erlebt hatten, sind heilige Geistwesen. Sie dienen Gott und Christus. Sie verkünden Gottes Wort, die Wahrheit. Sie führen uns zu ihm, dem Licht der Welt, das wahres Leben spendet. Ja, der Buchstabe tötet, der Geist aber ist’s, der lebendig macht! Wenn wir Theologen und Schriftgelehrten wieder so demütig, ehrlich, gehorsam, guten Willens und offen für das lebendige Wort Gottes werden wie jene Hirten auf dem Feld zu Bethlehem, dann werden wir wahre Pastoren, welche dem guten Hirten Christus aufs Schönste dienen zum Segen für seine große Herde.
Eine solche grundlegende Wandlung für die Theologen, Pfarrer und die Christenheit erhoffte sich auch Philipp Jakob Spener (1635–1705), der große Vater des Pietismus, der mit seinem 1675 in Frankfurt am Main geschriebenen Buch „Pia desideria“ eine Welle der geistlichen Erneuerung der evangelischen Christenheit bewirkte. Er beklagte: „Doch das Allerbetrüblichste ist, dass bei so vielen Predigern ihr Leben und der Mangel an Glaubensfrüchten anzeigt, dass es ihnen selbst an dem Glauben mangelt. Und dasjenige, was sie für Glauben halten und aus dem heraus sie lehren, ist durchaus nicht der rechte Glaube, der aus des Heiligen Geistes Erleuchtung, Zeugnis und Versiegelung durch das göttliche Wort geweckt ist, sondern eine menschliche Einbildung. Da sie aus der Schrift aber allein deren Buchstaben ohne Wirkung des Heiligen Geistes, also aus menschlichem Fleiß (wie andere in anderen Studien durchaus etwas lernen) haben, sind sie von dem wahren himmlischen Licht und Glaubensleben ganz entfernt.“[15] Und wer „den Sünden nachhängt, kann keine Wohnung des Heiligen Geistes werden.“ (a. a. O., S. 70) „Denn die Theologie wird im Licht des Heiligen Geistes allein erlernt.“ (a. a. O., S. 71)
Als Musterbeispiel für eine solche grundlegende Wandlung betrachten wir den Schriftgelehrten Saulus, der sie als Christenverfolger durch die Begegnung mit dem auferstandenen, erhöhten Herrn an sich selbst erfuhr und dadurch zum Paulus, zum größten Apostel für die Heiden geworden war. Er war ein Tempel des Heiligen Geistes und eine Quelle des lebendigen Wortes Gottes. Damit ist er uns allen als leuchtendes und ermutigendes Beispiel für die Erneuerung der Kirche als des einen, unteilbaren Leibes Christi vorausgegangen.
Nach dieser durch Christus und den Heiligen Geist vermittelten reinen, befreienden, lebendig und froh machenden Wahrheit sehnen sich im Grunde so viele Menschen! Gott will unsern Durst löschen und uns reines, lebendiges, erquickendes Wasser geben, so wie es Jesus der Samariterin am Brunnen und mit ihr uns allen verheißen hat. Ja, wenn wir es in der Christenheit wieder lernen, von diesem lebendigen Wasser zu trinken, das uns Christus durch den Geist der Wahrheit geben will, werden wir in Ewigkeit nicht dürsten und selbst zu einer Quelle lebendigen Wassers, der Wahrheit, des Segen, des Friedens und Heils werden, ja schon hier auf Erden in Christus auferstehen zum wahren, ewigen Leben (Joh 4,14).
Und – was man mit Posaunen in die Welt hinausrufen möchte! – eine solche Quelle wurde uns auch in dieser, unserer Zeit aufgetan! Denn das lebendige Wort Gottes erging seit 1948 über 35 Jahre hinweg in der Geistigen Loge Zürich in reinster Form, die auch der kritischsten Prüfung standhält! Denn die hier durch das Medium Beatrice Brunner empfangenen Offenbarungen, die in die Tausende gehen, sind alle in sich widerspruchsfrei, was – soweit ich sehe – ein in diesem Umfang bis dahin einmaliges Phänomen ist. Es verdient nicht nur vonseiten der Kirchen, sondern von allen Menschen, die sich danach sehnen, die Wahrheit zu erkennen, das größte Interesse. In vielen Lehrvorträgen der geistigen Lehrer dieser Gemeinschaft werden die wichtigsten Fragen über Gott und die Welt, unser Woher und Wohin, den Sinn der ganzen sichtbaren und unsichtbaren Schöpfung, über Christus und sein Erlösungswerk in klarer, allgemeinverständlicher Sprache beantwortet und insbesondere auch der ursprüngliche Wortlaut und Sinn der Worte Jesu erklärt. So wird uns hier in einmaliger Weise die Möglichkeit geboten, zur reinen Quelle der Wahrheit vorzustoßen und die Worte Jesu, des Lichtes der Welt, wieder richtig zu verstehen! Es bedarf keiner Betonung, dass diese Möglichkeit für die Erneuerung des christlichen Glaubens und der Christenheit von höchster Bedeutung ist.
Da aber dem heutigen Menschen die Tatsache, dass Gott uns durch Offenbarungen die Wahrheit mitteilen kann, weithin unbekannt oder fremd ist, soll im Folgenden dem Leser zunächst ein allgemeinverständlicher Zugang zu dieser optimalen Erkenntnisquelle ermöglicht werden, bevor wir zur Beantwortung der genannten Sachfragen und zur Erklärung einzelner, wichtiger Worte Jesu schreiten. Für den Zweck einer Einführung genügt eine sinnvolle Auswahl aus allen uns bekannten Worten Jesu. Ich habe diejenigen Worte ausgewählt, die uns den großen Zusammenhang im Schöpfungs- und Heilsplans erkennen lassen. Besonderes Interesse soll dabei dem biblischen Hintergrund der Worte und Lehren Jesu geschenkt werden, denn mit dem uns in der Geistigen Loge Zürich mitgeteilten Wissen beginnt man die Bibel mit ganz neuen Augen zu lesen. Es geht einem ein Licht nach dem andern auf. Möchte doch aber vielen Menschen vor allem das eine herrliche Licht aufgehen, das Gott in die Welt gesandt hat: Jesus Christus! Heißt es doch in Johannes 17,3: „Das aber ist das ewige Leben, dass sie dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen.“ Darum – wie Gott seinem Volk und uns durch seinen Propheten zurief: „Mache dich auf, werde licht! Denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des Herrn strahlt auf über dir. Denn siehe, Finsternis bedeckt die Erde und Dunkel die Völker; doch über dir strahlt auf der Herr, und seine Herrlichkeit erscheint über dir.“ (Jes 60,1 f.)
So soll denn am Anfang unseres Weges die Erkenntnis Gottes stehen und wie er uns sein Wort mitteilt, die Wahrheit offenbart.
[1] Jesus fragt die Jünger in Markus 4,13: „Ihr versteht dieses Gleichnis nicht, und wie wollt ihr alle Gleichnisse begreifen?“, in Markus 4,40: „Warum seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?“, in Markus 8,17 f.: „Versteht ihr noch nicht und begreift ihr nicht? Ist euer Herz verhärtet? Augen habt ihr und seht nicht, und Ohren habt ihr und hört nicht? …“ Vgl. ferner Markus 6,52; 8,33; 9,32; 10,32; 14,37–1 und öfters.
[2] Vgl. Joh 2,19–22; 4,27; 6,60–65; 11,16; 12,16; 13,7 und 36–38; 14,4–9 und öfters.
[3] 4 Mose 11,29; Jes 32,15 ff.; Jes 44,1–5; Ez 11,19 f.; Ez 36,25 ff.; Ez 39;29; Joel 2,28 ff.; Sach 4,6; Sach 12,10.
[4] Vgl. dazu Apg 11,27 f.; 13,1; 15,32; 21,10; 1 Kor 12,28 f.; 14, 29–33 und 37–40; Eph 3,5; 4,11.
[5] Vgl. dazu auch unten Kapitel 2. „Offenbarung“.
[6] Dies setzt Paulus in Phil 3,15 z. B. selbstverständlich voraus.
[7] Vgl. 2 Sam 11 f.
[8] Vgl. zum Folgenden die aufschlussreichen Ausführungen von Kurt Aland, Der Text des Neuen Testaments (Stuttgart 1982), S. 282 ff., der mit vielen Beispielen belegt, wie leicht sich Fehler in die Überlieferung des Textes einschleichen konnten.
[9] Vgl. GW 1985, S. 19.
[10] Vgl. Joh 21,23 und 24.
[11] Vgl. z. B. Werner Georg Kümmel, Einleitung in das Neue Testament (Heidelberg 1973, 17. Aufl.), S. 170 f.
[12] Der entscheidende Begriff, um den es hier geht, das ‚homousios‘ bedeutet nach Kurt Aland, Geschichte der Christenheit (Gütersloh 1980), Bd. I, S. 190, genau genommen: wesensidentisch. „Das homousios ist jedem theologisch denkenden Menschen jener Zeit ein unüberwindlicher Anstoß. … Nur Konstantin selbst war in der Lage, die Synode dazu zu bringen, etwas zu beschließen, wovon sie vorher nichts wusste und was ihr beim Auseinandergehen schon zum größten Ärgernis wurde.“ Und Karl Heussi bemerkt in seinem „Kompendium der Kirchengeschichte“ (Tübingen 1960, 12. Auflage), S. 97: Der Beschluss von Nizäa … „war eine Vergewaltigung der Majorität der Orientalen.“
[13] Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (München/Hamburg 1966).
[14] Vgl. Walther Hinz, Neue Erkenntnisse zu Leben und Wirken Jesu (ABZ Verlag, 1984, S. 73 ff.)
[15] Philipp Jakob Spener, Pia desideria. Programm des Pietismus (In neuer Bearbeitung herausgegeben von Erich Beyreuther. Aussaat Vlg., Wuppertal, 1964), S. 26.