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IX

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Else Bars schnaufte. Der Rucksack mit den Farben, dem kleinen Wasserkanister und der darüber gebundenen Staffelei drückte auf ihren Rücken. Unter dem Arm trug sie eine bespannte Leinwand. Der Weg hinauf zum Swantiberg war beschwerlich. Immer wieder schlugen ihr die Äste der Ginsterbüsche ins Gesicht. Die feinen Netze der Spinnen, sorgsam gewebt in der Nacht, wenn keiner ihre Ruhe störte, verfingen sich in Elses Haaren. Sie schüttelte sich. Hin und wieder war das Summen von Fliegen und Hummeln zu hören. Vögel schreckten durch ihre Schritte aus dem Gestrüpp und flogen ihr ein Stück voraus, bis sie wieder im dichten Blätterwald und Buschwerk verschwanden. Endlich hatte sie die Anhöhe erreicht. Auf der Bank konnte sie ausruhen. Bis zum Gipfel des zweithöchsten Inselberges mit seiner doppelten Kuppe war es noch ein Stück.

Von Juni bis September war das Elses täglicher Lebensrhythmus. Kaum war die Sonne über dem Bodden blutrot aufgetaucht und hatte ihr Licht durch das kleine Dachfenster ihrer Ferienwohnung geworfen, stand sie auf. Früher war das kleine Holzhäuschen auf dem brögeschen Grundstück, rechter Hand, kurz vor Grieben, der Hühnerstall gewesen. Und schon damals, in den Achtzigerjahren, hatte Else Bars in dem kleinen Abstellraum unter dem Dach im Sommer ihren Urlaub auf Hiddensee verbracht. Die Hühner waren längst geschlachtet und Bröges hatten das Häuschen umgebaut. Unten gab es einen Raum mit kleiner Kochnische und ein paar alten Möbeln aus dem Haupthaus. Oben unterm Dach war die kleine Schlafkammer. Aufs Klo musste sie weiter zu Bröges ins Haus. Zum Waschen blieb ihr das kleine Abwaschbecken. Eine Dusche brauchte Else sowieso nicht. Dafür gab es die Ostsee. Und fünfzehn Euro pro Tag waren ein unschlagbarer Preis für Hiddenseer Verhältnisse. Doch auch die mussten erst mal verdient werden. Und für Essen und Trinken brauchte Else auch noch etwas Geld. Außerdem musste sie für den Winter ein kleines finanzielles Polster anlegen, um die kalte Jahreszeit auf den Kanaren zu verbringen. Sie hasste die Kälte in Deutschland.

So zog sie jeden Morgen los, um die Insel mit Kreide, Pastell- oder Ölfarben ins Bild zu setzen. Nachmittags baute sie einen Campingtisch in Kloster auf, neben dem Supermarkt auf der Straße zum Hafen, und versuchte ihre Bilder zu verkaufen. Der Standort war günstig, denn hier kamen alle Reisegruppen auf dem Weg zum Schiff vorbei und mancher wollte eine besondere Erinnerung an die Insel mitnehmen. Von den Inseleindrücken froh gestimmt, wurde dabei oft auch nicht lange über den Preis diskutiert. Und dann drängte auch die Zeit, das Schiff zu erreichen.

Else hatte festgestellt: Leuchtturm ging immer. Der Signalturm oberhalb des Dornbuschs war bei den Inselgästen als Motiv besonders gefragt. Else hatte sich aber einen kleinen Vorteil verschafft. Die anderen Inselmaler setzten den Leuchtturm immer mit dem Windflüchter daneben in Szene, einer Kiefer, deren Spitze vom dauernden Ostseewind fast rechtwinklig umgebogen war und wie ein Finger zum Turm zeigte. Else dagegen nahm den steilen Pfad zum Swantiberg auf sich. Von dort gesehen fügte sich der weiße Turm mit der roten Spitze harmonisch in die sanften grünen Hügel des Inselhochlandes ein. Und dieser ungewöhnliche Blick zog bei den Touristen. Heute hatte sie sich ein neues Motiv überlegt.

Else atmete noch einmal kräftig durch. Dann stand sie auf und erklomm den kleinen sandigen Pfad hinauf zur Spitze des Swantiberges. Unten in der Tiefe rauschte die Ostsee. Der Wind pfiff hier oben auch stärker. Aber das schreckte Else nicht ab. Ein paar Sandkörner auf einem Bild sah sie weniger als Verschmutzung, vielmehr als authentisches Souvenir. Der Käufer nahm dann wirklich ein Stück von der Insel mit nach Hause. Heute Morgen wollte sie aber etwas bergab in Richtung Enddorn. Dort stieg sie über den Holzzaun, der die Touristen davon abhalten sollte, die Kante des Steilufers zu betreten. Else hielt das nicht auf. Sie wollte den Leuchtturm malen mit der schroffen Steilküste im Vordergrund. Dazu musste sie fast bis an die Abbruchkante, um Leuchtturm und Steilküste auf ein Bild zu bekommen. Dort baute sie ihr kleines Freiluftatelier auf. Beim Blick in die Tiefe wurde ihr etwas schwindelig. Außerdem plagten sie heftige Kopfschmerzen. Else hatte gestern den neuen Elsässer Rotwein im „Wieseneck“ entdeckt. Aber irgendetwas stimmte auch bei nüchterner Betrachtung nicht an dem Bild. Es war dieser rote Farbfleck auf dem Felsvorsprung, gut zehn Meter unter der Felskante. Sie holte ihr altes Fernglas aus dem Rucksack und schaute in die Tiefe. Ein Schrecken durchfuhr ihre Glieder. Sie stieß einen Schrei aus. Nur mit Mühe konnte sie das Gleichgewicht halten. Der rote Fleck entpuppte sich als Jacke und gehörte zu einem leblosen Körper, der rücklings über den Felsvorsprung lag. Aus dem Ärmel der Jacke ragte eine Hand heraus und zeigte in den Himmel.

Toter Kerl

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