Читать книгу Toter Kerl - Tim Herden - Страница 6

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Die Dämonen kamen im Morgengrauen. Langsam schlichen sie sich in seine Träume. Sie krochen durch die Windungen seines Hirns und erschienen hinter seinen geschlossenen Lidern. Er konnte sie dort stehen sehen. Sie waren durchscheinend wie Geister und trugen Gesichter, die er schon lange zu vergessen wünschte. Wenn er sich dann hin und her wälzte, um sie abzuschütteln, erwiesen sie sich als erstaunlich anhänglich. Sie schienen ihn zu rufen, auch wenn er sie nicht hören konnte. Dann sah er sich selbst zwischen ihnen. Sah sich aus einem Auto stürmen, hinein in die nahe Kirche. Er hatte Mühe, die schwere Tür aufzudrücken. Als der Spalt groß genug war für seinen schmalen Körper, hechtete er hinein. Mit einem Knall fiel die Tür wieder ins Schloss. Atemlos rannte er taumelnd zur Turmtür. Sie war nicht verschlossen. Stufe um Stufe kletterte er nach oben auf den Turm der Kirche. Plötzlich hörte er dumpf durch die dicken Mauern das Geheul eines Martinshorns. Wenig später lautes Knallen. Einmal. Zweimal. Dreimal.

Meist wurde ihm jetzt der Zustand zwischen Halbschlaf und Traum unerträglich. Er schrak aus dem Bett. Die strähnigen Haare hingen ihm feucht über die Stirn. Um den Traumbildern zu entkommen, stand er auf, trat an das kleine Dachfenster. Die Pappeln vor dem Haus wiegten sich sanft im Wind. Der Bodden glitzerte im Schein des tief stehenden Mondes. Vereinzelt blinkten die Lichter der Bojen an der Fahrrinne nach Schaprode oder Wiek.

Er stieg die schmale Treppe hinab und versuchte dabei die knarrenden Holzstufen zu meiden, obwohl außer ihm niemand im Haus war. Aber er fürchtete, ein Geräusch könnte die Traumgestalten wieder zum Leben erwecken. Leise öffnete er die Tür zu seinem Arbeitszimmer. Erschöpft setzte er sich an seinen Schreibtisch, zog die Lade auf und nahm einen weißen Umschlag heraus, auf dem außer seinem Namen und seiner Adresse nichts stand. Keine Briefmarke, kein Poststempel. Sie wussten also, wo sie ihn fanden. Nicht nur im Schlaf. Er nahm das weiße Stück Papier heraus mit den wenigen Worten, die er schon so oft gelesen, gesprochen, gepredigt hatte, ohne sie zu fühlen. „Da ging hin der Zwölfen einer, mit Namen Judas Ischariot, zu den Hohenpriestern und sprach: Was wollt ihr mir geben? Ich will ihn euch verraten. Und sie boten ihm dreißig Silberlinge.“

Die Buchstaben begannen vor seinen Augen zu tanzen. Sie fügten sich zu einem Mosaik, das ihn wieder zurück in den Kirchturm führte: das Turmfenster. Er sah sich, wie er sich an der Wand neben dem Fenster entlangdrückte, langsam den Kopf drehte und versuchte einen Blick auf den Platz vor der Kirche zu erhaschen. Er sah sich herausschauen und zurückschrecken vor den blitzenden blauen Rundumleuchten der Polizeifahrzeuge und eines Krankenwagens, auf dessen Dach ein breites rotes Kreuz prangte. Daneben sein Auto, immer noch mit der geöffneten Tür. Eine Menschenmenge wogte hin und her, mit Not zurückgehalten von Männern mit grünen Schirmmützen und in Uniform. Zwei Männer brachten eine Trage. Darauf ein Mann. Auch in Uniform. Ein Kind stürmte aus der Masse hervor, auf den Verletzten zu und wurde im letzten Moment von einem Polizisten zurückgerissen. Der Schrei des Jungen drang durch die Mauern in sein Ohr, verfing sich in seinem Gehirn.

Er ließ das weiße Blatt sinken.

Toter Kerl

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