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XII

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Bökemüller, Behm, Rieder und Damp betraten das „Godewind“. Das Hotel mit dem gläsernen Vorbau galt in Vitte mit seinem Restaurant als erstes Haus am Platze. Der Gastraum war rustikal eingerichtet, mit dunklen Tischen und Stühlen. Jetzt, zu Mittag, saßen die meisten Gäste draußen, auf dem kleinen Rasenstück zur Straße und genossen ihr Essen in der warmen Mittagssonne. Beim Betreten des Restaurants waren Rieder zwei Herren aufgefallen, die so gar nicht nach Hiddensee passten. Sie trugen dunkle Anzüge mit weißen Hemden und Krawatte. Die beiden waren gerade beim Mittagessen. Rieder hatte beobachtet, dass Bökemüller ihnen kurz zugenickt hatte. Die Kellnerin zeigte den Polizisten den Weg in einen Nebenraum. Der war hell und fast schon festlich zu nennen. Auf den Tischen lagen weiße Tischdecken, die Polsterstühle waren mit feinem Stoff bespannt. Rieder wusste, dass dieser Raum oft an Hochzeitsgesellschaften vermietet wurde. Die Kellnerin zeigte auf einen großen runden Tisch, eingedeckt mit Gläsern, Besteck und Tellern für eine Vorspeise.

„Ich dachte eher an einen schlichten Beratungsraum“, meldete sich Bökemüller.

Doch es gab nur diesen Raum. Die vier Polizisten nahmen um den Tisch Platz und wirkten dabei etwas verloren. Da kamen auch die beiden Herren aus dem Gastraum dazu. Bökemüller sprang auf. „Darf ich Ihnen vorstellen, Dr. Riel und Herr Kubicki vom Innenministerium in Schwerin. Dr. Riel leitet dort ein Referat, das sich mit Terrorismusbekämpfung im weitesten Sinne beschäftigt. Herr Kubicki ist sein persönlicher Referent.“ Die beiden Herren griffen simultan in die Brusttaschen ihrer Anzugjacken, holten Visitenkarten heraus und reichten sie Rieder und Damp. Rieder blickte erstaunt auf die weißen Pappkärtchen. Dr. Sebastian Riel, Referatsleiter Innenministerium. Markus Kubicki, Referent. Dazu eine ganze Reihe von Telefonnummern. Die Herren schienen wichtig zu sein. Aber hatte Bökemüller den Fall nicht vorerst unter der Decke halten wollen? Damp wirkte verunsichert, nachdem er die Kärtchen studiert und eingesteckt hatte. Er versuchte, seine Uniform, möglichst unbemerkt von den anderen, in Ordnung und mit seinem massigen Körper in Einklang zu bringen. Behm schien dagegen schon mehr zu wissen als die beiden Inselpolizisten, denn er nickte den beiden Landesbeamten freundlich zu und bekam auch keine Visitenkarten.

„Meine Herren“, begann Bökemüller, als sich alle wieder gesetzt hatten, „ich begrüße Sie zu diesem kleinen Brainstorming.“ Er hatte Rieders und Damps verwunderte Blicke registriert. „Keine Bange. Ich werde die Anwesenheit von Dr. Riel und Herrn Kubicki gleich aufklären, aber vielleicht fasst Kollege Rieder kurz den Stand der Dinge zusammen, damit wir alle auf der Höhe sind.“

Rieder erntete von Damp noch einen verächtlichen Blick, bevor er begann. Dann berichtete er über die Erkenntnisse, die Damp, Behm und er seit dem Auffinden des gestrandeten Boots des Pfarrers am Enddorn bis zum Fund seiner Leiche am Toten Kerl gesammelt hatten. Riel und Kubicki folgten stumm den Ausführungen und machten sich Notizen.

Nachdem Rieder geendet hatte, herrschte Stille am Tisch. Dann schaute Dr. Riel auf, schlug kurz mit beiden Händen auf die Tischkante und meinte: „Gut so weit, oder auch nicht.“ Das war das Zeichen für Referent Kubicki. Der stand auf, hob einen schwarzen Pilotenkoffer auf den Tisch. Geräuschvoll ließ er die Schlösser aufschnappen, klappte die beiden Deckel zur Seite, zog eine schwarze Mappe heraus und legte sie mitten auf den Tisch. Dann setzte er sich wieder.

„Gestern Nachmittag gab es einen Zugriffsversuch auf die Daten einer besonders geschützten Person von einem Computer des Polizeireviers der Insel Hiddensee“, erklärte Riel. Er zog sich die Mappe heran, klappte sie auf und nahm ein paar Papiere heraus. Dann setzte er seinen Vortrag in schönem Amtsdeutsch fort. „Wie wir feststellen mussten, versuchten sowohl die Beamten Damp als auch Rieder, in die personenbezogenen Dateien des Bürgers Jens-Uwe Schneider einzudringen. Unser Überwachungssystem im Landeskriminalamt gab daraufhin Alarm. Nach der Identifizierung der beiden Nutzer nahmen wir Kontakt zum Leiter der Polizeidirektion Stralsund, Herrn Bökemüller, auf und baten ihn, uns gegenüber diese Zugriffsversuche zu rechtfertigen …“ Da platzte Rieder der Kragen. Diese Bürohengste hatte er schon zu seiner Berliner Zeit gefressen. Schon ihr Auftauchen sorgte bei ihm für einen deutlichen Adrenalinschub. „Was soll das heißen, eindringen, rechtfertigen … wir hatten eine vermisste Person …“ Bökemüller versuchte mit Handbewegungen, Rieder zu beruhigen. Riel hatte den Polizisten mit starrem Blick fixiert. „Vielleicht könnte Hauptkommissar Rieder etwas mehr Geduld aufbringen“, meinte er mit ruhiger Stimme. Damp hatte die Arme vor der mächtigen Brust verschränkt, Behm spielte mit seinem Bleistift und versuchte wegzuschauen.

„Kann ich fortfahren?“ Als kein Widerspruch erfolgte, berichtete Riel, dass er in diesem Telefongespräch von Bökemüller erfahren habe, dass Pfarrer Jens-Uwe Schneider verschwunden sei. „Es ist Ihnen doch sicher klar, dass uns das nicht ganz kaltlassen kann. Immerhin war unser Minister persönlich am Sonntag hier, bei der Preisverleihung für Herrn Schneider alias Jean Jacques Hoffstede.“ Riel und Kubicki waren deshalb am Morgen nach Stralsund gefahren, um sich bei Bökemüller über die Situation zu informieren. „Tja, doch dann wurden wir von den Ereignissen überrollt, meine Herren.“ Sie waren gerade in der Polizeidirektion angekommen, als Bökemüller und Behm nach Hiddensee aufbrechen wollten, um den Fundort der Leiche Schneiders aufzusuchen, und entschlossen sich, auch gleich nach Hiddensee zu fahren. „Warum stand Jens-Uwe Schneider unter unserem besonderen Schutz?“ Riel schaute wie ein Schullehrer nacheinander jeden am Tisch an, als erwarte er von ihnen eine Antwort, die er dann aber selbst gab. „Jens-Uwe Schneider, geboren 1955 in Hessisch-Oldendorf bei Hameln, Vater Pfarrer, Mutter Hausfrau, ist 1981 von, wie heißt es hier im Osten noch immer so schön, von der BRD in die DDR übergesiedelt. Zuvor hatte er an den Vorbereitungen eines Banküberfalls durch Angehörige der Roten Armee Fraktion und Unterstützer dieser Gruppe teilgenommen. Kurz vor der Tat hat er sich den Behörden offenbart, man könnte auch sagen, er hat kalte Füße bekommen. Jedenfalls hat er mitgeholfen, seine beiden Komplizen, darunter einen lang gesuchten Terroristen, auf frischer Tat zu überführen. Leider kam es bei dem Überfall, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, zu einem Schusswechsel, bei dem ein Polizist so schwer verletzt wurde, dass er später im Krankenhaus starb. Schneider wurde zwar Straffreiheit zugesichert, aber er wurde nicht in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Er ist deshalb dann in die DDR gegangen. Das erschien ihm offensichtlich der sicherste Weg, um einer möglichen Racheaktion zu entgehen. Seit 1985, aber das wissen Sie ja alle selbst, war Schneider hier Pfarrer.“

Rieder, Damp und nun auch Behm waren sprachlos. Bökemüller dagegen wirkte wenig überrascht. „Sie wussten das“, fragte ihn Rieder.

„Seit gestern Abend.“

„Aber da hätten Sie doch mal …“

„Hätte er nicht“, mischte sich Riel ein. „Ich habe ihren Chef um Stillschweigen gebeten, und darum muss ich Sie alle nun auch bitten.

„For eyes only“, bemerkte vielleicht etwas unpassend Bökemüller.

Da meldete sich Behm. „Das hätte doch ganz schön schiefgehen können, denn einige RAF-Leute waren doch in der DDR?“

„Es war Schneiders Entscheidung und, auch wenn das von vielen in Zweifel gezogen wird, damals wusste man im Westen und also wohl auch Schneider noch nicht, dass sich viele RAF-Aussteiger in der DDR aufhielten.“

„Und die DDR hat ohne zu fragen Schneider Tür und Tor geöffnet“, warf Rieder ein. „Das glauben Sie doch selbst nicht, oder? Die Staatssicherheit wird ihn doch überprüft haben?“

„Darüber kann ich nichts sagen“, erklärte Riel. „Jedenfalls wurden durch das Landesinnenministerium nie Recherchen bei der Stasiunterlagenbehörde über Schneider angestellt.“

„Und das soll ich Ihnen glauben?“, bohrte Rieder weiter. „Seine Vergangenheit ist Ihnen bekannt, der Minister kommt zu seiner Preisverleihung und Sie wollen nicht nachgefragt haben, ob Schneider nicht ein paar Leichen im Keller hatte, vielleicht sogar Zuträger der Staatssicherheit gewesen war?“ Doch er erntete nur ein vielsagendes Schweigen der beiden Beamten.

„Aber wieso stand Schneider unter Ihrem Schutz? Und warum waren seine Daten nicht zugänglich? Ich denke, er fiel nicht unter das Zeugenschutzprogramm?“, fragte Behm.

„Schneider wandte sich nach der Enttarnung der RAF-Aussteiger in der damaligen DDR an die Behörden in Niedersachsen. Da sein Wohnsitz nun in Mecklenburg war, wurde die Angelegenheit an uns weitergeleitet. Es gab ein Gespräch Schneiders mit dem damaligen Referatsleiter. Er bat ihn um einen gewissen Schutz, vielleicht auch um Unterstützung, das Land zu verlassen. Versprochen wurde ihm aber nur, seine Daten vor fremdem Zugriff zu schützen.“

„… und uns dann zu kümmern, wenn es wirklich mal Probleme geben sollte“, ergänzte Kubicki.

„Hat er Sie denn nochmals um Ihre Hilfe gebeten?“, fragte Rieder nach. „Vielleicht in der letzten Zeit.“ Er dachte dabei an den anonymen Brief mit dem Bibelzitat, das auf den Verrat Schneiders hinweisen könnte.

„Hat er nicht“, antwortete Riel. „Außerdem hatte er sich äußerlich so verändert, dass kaum noch eine Ähnlichkeit mit Bildern aus seiner Studentenzeit zu erkennen war.“

Zum Beweis zog Kubicki diensteifrig Fotos aus der Mappe und reichte sie herum. „Das sind Bilder von Schneider aus den späten Siebziger-, frühen Achtzigerjahren.“

„Und auch seine Legende, dass er in Lateinamerika aufwuchs, war gut. Seine Eltern sind tot. Es gibt keine Verwandten. Wenn da einer graben würde, wäre wenig zu finden“, fügte Riel hinzu.

Die Polizisten beugten sich über die Bilder. Der Mann darauf schien keine Ähnlichkeit mit Schneider zu haben. Volles langes Haar, das sich in Locken bis auf die Schultern wellte. Vollbart. Der Mann war nicht dick, aber schon etwas übergewichtig. Kein Vergleich mit dem schmalen, hageren Schneider, den Rieder kennengelernt hatte.

„Das wäre alles, was wir Ihnen zu sagen haben“, meinte Riel und Kubicki schlug die Mappe zu.

Rieder zweifelte weiter. „Und das haben Sie alles gestern Nachmittag recherchiert? Zufällig lag auch die Akte Schneider obenauf im Archiv des Ministeriums. Sie mussten nur hingehen und zugreifen.“

„Herr Rieder, ich kann Ihnen nicht vorschreiben, was Sie denken“, erklärte Riel, „ich kann Ihnen nur Informationen geben.“

„Tja, meine Herren“, mischte sich Bökemüller ein, der einen Streit zwischen Rieder und den Beamten befürchtete, „vielleicht ergeben sich damit für uns ein paar Ermittlungsansätze.“

„Für uns?“, fragte Behm ungläubig. „Das ist doch wohl eher ein Fall für das LKA oder BKA.“

Bökemüller gestikulierte sofort mit den Händen, als wollte er den Chef der Stralsunder Spurensicherung bitten, leiser zu reden. Doch bevor er etwas sagen konnte, erklärte Riel: „Wir wären weiter sehr daran interessiert, die Angelegenheit um Schneiders Vergangenheit nicht an die große Glocke zu hängen. Sie können uns sicher verstehen, da bleibt, wenn es bekannt werden würde, immer etwas hängen.“

„Deshalb haben wir“, Bökemüller bezog mit einer Handbewegung Riel und Kubicki mit ein, „natürlich nicht ohne Rücksprache mit dem Minister entschieden, dass nur eine kleine Ermittlungsgruppe den Tod von Pfarrer Schneider untersuchen sollte. Denn wenn jetzt hier auf der Insel ein Haufen LKA-Beamte anrücken, Fragen stellen und Staub aufwirbeln, können schnell Dinge an die Oberfläche kommen …“

„… die die beiden Herren lieber weiter vertuschen wollen“, ergänzte Rieder.

„Ich wüsste nicht, was es zu vertuschen gäbe“, widersprach ­Kubicki aufgeregt.

„Mensch Rieder“, echauffierte sich dessen Chef nun doch lautstark, „seien Sie doch nicht naiv!“ Sofort senkte er wieder die Stimme. „Außerdem ist es noch gar nicht geklärt, ob Schneider einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist oder nur durch einen tragischen Unfall zu Tode kam.“

„Da sprechen aber der anonyme Brief und die beiden frischen Einschüsse in sein Boot eine andere Sprache“, unterstützte nun Behm die Einwände seines Kollegen von der Insel. „Das riecht doch alles, wenn ich den Inhalt des Briefes richtig deute, sehr nach Rache seiner alten Kumpane. Die werden doch nicht mehr hinter Schloss und Riegel sitzen, über ein Vierteljahrhundert nach diesem ominösen Banküberfall?“

Riel zuckte mit den Schultern. „Das müssen Sie herausfinden.“

„Ich möchte jedenfalls, dass eine kleine Ermittlungsgruppe erst mal die Fakten sammelt“, beharrte Bökemüller. „Sie drei, Rieder, Damp und Behm, werden an dem Fall arbeiten. Gebauer mit seinem Boot und seiner Mannschaft überlasse ich Ihnen zur logistischen Unterstützung. Neue Informationen nur an mich, face to face.“ Bökemüllers Ton ließ eigentlich keinen Widerspruch zu. Überraschend kam er von Damp, der zuletzt mit halb gesenkten Lidern und vor der Brust verschränkten Armen dem Bericht der Herren vom Ministerium und den Anweisungen seines Chefs zugehört hatte. „Ich bin nicht zuständig für die Jagd auf Terroristen, und darum könnte es doch gehen, oder?“ Alle drehten sich zu ihm um. Im gleichen Moment stand Damp auf, zwängte sich um den Tisch, verließ den Raum und knallte die Tür hinter sich zu. Bökemüller blickte dem Inselpolizisten mit offenem Mund hinterher.

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