Читать книгу Toter Kerl - Tim Herden - Страница 9

III

Оглавление

Damp hatte die Beine vom Tisch genommen und das Sudoku aus der „Ostseezeitung“ zur Seite gelegt. „Der Neue macht wieder Stress“, sprach er zu sich selbst. Für ihn war Stefan Rieder immer noch „der Neue“, obwohl sie nun schon seit fast sechs Monaten das Revier in Vitte teilten. Die Hiddenseer würden sagen, „der Zugereiste“, und der Tonfall des Wortes würde den Verdacht nahelegen, Zugereiste seien – gelinde gesagt – nicht willkommen. Eins allerdings musste Damp seinem Kollegen zugestehen: Er hatte sich auf der Insel schon gut eingelebt. Schuld daran war aus seiner Sicht Rieders Nachbar Malte Fittkau. Er hatte Rieder bei den Autoritäten der Insel die Türen geöffnet: beim Hafenmeister, beim Wirt der „Fischerklause“ in Vitte, in der nur die Insulaner verkehrten, bei den Fischern, wo Rieder jetzt schon wie jeder Eingeborene einen deutlichen Rabatt auf Zander und Dorsch bekam. Das war Damp in den vergangenen zehn Jahren nicht gelungen. Fragte er mal einen Fischer nach frischem Fisch, so war der Fang schon ausverkauft oder anderen versprochen. Der Hafenmeister grüßte ihn nicht. Betrat er die „Fischerklause“, machte sich sofort ein ungastliches Schweigen breit.

Damp hatte Fittkau auch in Verdacht, für den einen oder anderen Streich verantwortlich zu sein, der ihm auf der Insel gespielt wurde. Als Rieder vor drei Wochen ein paar Tage nach Berlin gefahren war, meldete eines Morgens der Verkehrsfunk von Radio Mecklenburg-Vorpommern, dass es nach Angaben des Inselpolizisten Ole Damp an diesem Tag möglich sei, die autofreie Insel Hiddensee einmal mit dem Pkw zu besuchen. Kurz darauf bildete sich an der Fähre in Schaprode eine Warteschlange. Dutzende Autofahrer bestanden beim überraschten Fährpersonal darauf, mit dem Auto nach Hiddensee zu fahren. Damp war noch gar nicht im Revier, als ihn der aufgebrachte Kapitän der Fähre „Vitte“ anrief und zur Schnecke machte. Gleich darauf meldete sich Polizeichef Bökemüller aus Stralsund und fragte, was das für ein Schwachsinn sei. Damp schwor, nichts mit der Sache zu tun zu haben, fand aber bei seinem Chef keinen Glauben. Auf Rügen hatten seine Kollegen vom Revier Bergen alle Hände voll zu tun, die wartenden Autofahrer davon zu überzeugen, dass es sich um eine Falschmeldung handele und Hiddensee auch weiter autofrei bliebe.

Damp war daraufhin in den Hafen geeilt. Dort hatten sich viele Hiddenseer versammelt, die die Nachricht gehört hatten und nun auf die Fähre warteten, um das einmalige Wunder zu bestaunen. Die Fuhrleute stürmten auf Damp zu und warfen ihm vor, ihr Geschäft kaputt zu machen, andere fragten ihn, wo denn die vielen Autos parken sollten. Damp wusste gar nicht, wie ihm geschah, und beteuerte wiederholt seine Unschuld. Er lief mit durch den Hafen und rief immer wieder, die Nachricht sei falsch, es kämen keine Autos auf die Insel. Die Leute lachten oder schüttelten mit mehr, aber oft auch weniger Mitleid den Kopf über den überforderten Inselpolizisten. Erst als die Fähre wirklich ohne Pkw an Bord kam, beruhigte sich die Lage. Nur einer hatte die ganze Zeit grinsend etwas abseitsgestanden, in seiner blauen Latzhose, mit der Pfeife im Mund und seiner alten Schiffermütze auf dem Kopf, und dem Treiben gelassen zugesehen: Malte Fittkau. Damp hatte Rieder nach seiner Rückkehr gebeten, der Sache auf den Grund zu gehen und Fittkau zu überführen. Aber Rieder hatte natürlich abgewunken. Der steckte doch mit seinem Nachbarn unter einer Decke.

Nun also zerstörte ihm Rieder seine schöne Vormittagsruhe. Allerdings lächelte Damp still in sich hinein bei dem Gedanken, wie sich Rieder bei Westwind von der Seite, praller Sonne von oben und ohne Frühstück mit dem Fahrrad bis zum Enddorn gequält haben musste, während das Polizeiauto schön im kühlen Schatten des Rathauses stand.

Also auf zum Pfarrer. Damp stand auf, stopfte sein zerknittertes Uniformhemd in die Hose und versuchte mit den Fingern seinen strubbeligen Haaren so etwas wie eine Frisur zu geben. Dann stiefelte er aus dem Büro und stieg in seinen Streifenwagen, dessen Federn unter Damps Gewicht ächzten.

Eigentlich kam ihm die Sache mit dem Pfarrer ganz recht. Während der Vorbereitungen für die Preisverleihung und den Empfang hatte Schneider Damp immer von oben herab behandelt und ihn leicht belächelt, weil er viele Ehrengäste nicht kannte. Und gestern nach dem ganzen Aufstand – kein Wort des Dankes.

Zeit fürs Rückspiel. Der Pfarrer würde sich wundern. Wahrscheinlich hatte er besoffen nach der Feier sein Boot auf Grund gesetzt, war dann nach Hause getorkelt und schlief jetzt dort seinen Rausch aus. Damp würde ihn unsanft wecken.

Er parkte den Streifenwagen auf dem Parkplatz für die Pferdekutschen neben der Inselkirche in Kloster. Dann ging er zum Pfarrhaus, das sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand. Bevor er klingelte, fiel sein Blick auf den Spruch an der Häuserwand. Neben einem gemalten Segelschiff stand dort: „Gottes sind Wogen und Wind, aber Segel und Steuer sind Euer …“ Damp musste grinsen. Wie passend! Da hatte wohl der Pfarrer sich etwas zu viel auf die himmlischen Kräfte verlassen und dadurch Schiffbruch erlitten. Nach dem Läuten wurde sofort die Tür aufgerissen. Damp schaute in das entgeisterte Gesicht von Birgit Thurow. Drei Tage die Woche arbeitete sie als Küsterin im Hiddenseer Pfarramt.

Wie in Zeitlupe löste sich ihre Erstarrung. „Was wollen Sie hier?“

„Kann ich Herrn Schneider sprechen?“, fragte Damp und verwendete ganz bewusst nicht die Bezeichnung Pfarrer, denn hier ging es nicht um die Amtsperson, sondern um den Bürger.

Birgit Thurow schnäuzte sich. Wahrscheinlich hatte sie wieder Ärger mit ihrem Mann, dachte sich der Polizist. Manfred Thurow war Fischer, einer der letzten auf Hiddensee. Er galt als Eigenbrötler und seinen Frust über geringen Fang und niedrige Preise ließ er nicht selten an seiner Frau aus. Jedenfalls berichtete der Inselfunk regelmäßig über lauten Streit.

Birgit Thurow war auf Hiddensee geboren, aber nach der Schule nach Rügen gezogen. Sie hatte dort als Restauratorin gearbeitet. Als ihre Eltern Pflege brauchten, war sie nach Vitte zurückgekommen. In dieser Zeit waren sie und Thurow ein Paar geworden. Er war ihr Nachbar, alleinstehend und wohnte in einem alten Fischerhaus. Nach dem Tod der Eltern hatten sie geheiratet und sie war zu ihm gezogen. Ihr Elternhaus in Vitte hatten sie zu einem Ferienhaus umbauen lassen, um mit der Vermietung das Familien­einkommen aufzubessern. Doch da die Zinsen für den Baukredit kaum von den Einnahmen gedeckt wurden, musste sie sich auf der Insel eine Arbeit suchen. So hatte sie im Pfarramt als Küsterin angefangen, drei Tage die Woche. Für sie war es ein Glücksfall, denn die alte denkmalgeschützte Kirche gab ihr Gelegenheit, ihr Fachwissen als Restauratorin einzubringen und zu nutzen.

Birgit Thurow war eine der Wenigen auf der Insel, die Damp grüßten. Und so war ihm auch die Veränderung aufgefallen, die scheinbar ohne jeden äußeren Anlass mit Birgit Thurow passiert war. Bis vor einem Jahr galt sie eher als graue Maus. Frisur war ein Fremdwort für ihre Haare. Sie trug weite Pullover, formlose Jeans, Turnschuhe oder Gummistiefel, je nach Wetterlage. Doch in letzter Zeit hatten ihre langen braunen Haare die Bekanntschaft mit Lockenwicklern gemacht und wallten jetzt über ihre Schultern. Neben der transparenten weißen Bluse, durch die Damp jetzt einen Blick auf die Spitze ihres BHs werfen konnte, war für ein Pfarramt in jedem Fall die mangelnde Länge des eng geschnittenen grauen Rockes, der knapp über dem Knie endete, etwas gewagt. Ihre Füße steckten in hochhackigen Pumps, mit denen sie sicher nicht ohne größeres Unfallrisiko über die holprigen Straßen der Insel balancierte.

Mit leicht zitternder Stimme antwortete sie dem Polizisten: „Pfarrer Schneider ist nicht da.“

Der Anblick der attraktiven, wenngleich offensichtlich verstörten Frau verwirrte Damp. „Äh …“, stotterte er, „ist er in der Kirche?“

„Nein! Ich sagte doch schon, er ist nicht da. Auch nicht in der Kirche. Auch nicht auf dem Friedhof.“ Sie putzte sich noch einmal die Nase, bevor sie nachfragte: „Geht es noch um die Feierlichkeiten? Ist da noch etwas zu regeln?“

„Nein. Sein Boot ist auf Grund gelaufen. Am Enddorn.“

„Um Gottes willen …“, stieß sie hervor.

„Und außerdem muss das Boot da weg, liegt ja mitten im Natio­nalpark.“ Damp hatte nun auch seine Fassung zurückgewonnen und wurde wieder dienstlich. „Jedenfalls ist es verboten, in diesem Gebiet mit Motorschiffen zu ankern oder anzulegen. Herr Schneider muss mit einem empfindlichen Bußgeld rechnen. Es wäre gut, wenn er sich so schnell wie möglich bei mir melden würde. Die Nummer hat er ja. Wenn Sie ihm das ausrichten würden, sobald er nach Hause kommt?“

Birgit Thurow nickte und schloss dann ohne ein weiteres Wort die Tür.

Toter Kerl

Подняться наверх