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III. Ablauf eines Forschungsprojekts
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Eine empirische Untersuchung kann in Konzipierungs-, Durchführungs- und Auswertungsphase eingeteilt werden. In der Konzipierungsphase wird festgelegt, was erforscht wird und wie dies passieren soll. Hierfür wird eine Forschungsfrage formuliert und eine Forschungsstrategie entwickelt.105 Dabei reflektieren die Forschenden idealerweise auch ihre ontologischen und erkenntnistheoretischen Positionen. Ontologische Positionen betreffen die eigenen Vorstellungen über die „Natur“ der Wirklichkeit, erkenntnistheoretische die Frage nach der „Natur“ von Wissen und die Zugänglichkeit der Wirklichkeit. Hierbei lassen sich zwei Grundpositionen unterscheiden: Eine konstruktivistische, die Wirklichkeit als soziales Konstrukt versteht, das nur subjektiv erfassbar ist, und eine positivistische, die die Wirklichkeit als unabhängig existierenden und objektiv erfassbaren Gegenstand auffasst, der erklärt werden kann (→ § 2 Rn 6 ff.).106 Ebenfalls entscheidend sind die eigenen Vorannahmen über den Forschungsgegenstand Kriminalität. Dieser kann eher aus einer ätiologisch-erklärenden Perspektive oder aus einer interaktionistischen Perspektive untersucht werden, wobei bei letzterer die Kriminalisierung das primäre Erkenntnisinteresse ausmacht.
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[72] Auf dieser Basis wird dann das Forschungsdesign entwickelt. Hier ist zu klären, welche Daten mit welchen Methoden wie erhoben und ausgewertet werden sollen, um die jeweilige Fragestellung möglichst optimal zu untersuchen.107 Dabei kann zwischen Längsschnitt- und Querschnitt-Design unterschieden werden. Bei Längsschnitt-Studien gibt es wiederholte Erhebungen zu mindestens zwei unterschiedlichen Zeitpunkten, um so prozesshafte Entwicklungen nachzuzeichnen. Die wiederholten Erhebungen können entweder bei unterschiedlichen Stichproben (Trenddesign) oder bei ein und derselben Stichprobe erfolgen (Paneldesign). Bei Querschnitt-Forschungen werden hingegen nur einmalig Daten erhoben, sodass keine Aussagen über Veränderungen im Zeitverlauf möglich sind.108
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Generelle theoretische Kategorien und Konzepte wie Kriminalität oder das Klima einer Strafanstalt können mit den beschriebenen Methoden nicht direkt gemessen werden. Sie müssen hierfür operationalisiert, also die Operationen beschrieben werden, die zur Messung des jeweiligen Konzepts erforderlich sind.109 Dies bedeutet, Kriterien zu entwickeln, anhand derer die jeweilige Kategorie bzw. das Konzept mit den gewählten Methoden messbar ist. Um z. B. Kriminalität zu messen, muss festgelegt werden, anhand welcher messbaren Kriterien bestimmt werden soll, was als Kriminalität im Sinne des Forschungsprojektes gilt, beispielsweise ein angezeigter Fall oder verurteilte Tatverdächtige.
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Bei der Datenerhebung muss zunächst über deren Umfang entschieden werden. Dies ist bei quantitativen Methoden von besonderer Relevanz. Da eine Totalerhebung, bei der die interessierenden Aspekte der Wirklichkeit umfassend untersucht werden, nur selten möglich und ökonomisch sinnvoll ist, wird in der Regel eine Teilerhebung vorgenommen. Um z. B. Aussagen über eine Großstadt treffen zu können, müssen nicht all deren Einwohner:innen befragt werden, sondern es genügt die Befragung eines Teils der Bevölkerung – sogenannte Stichprobe –, um Aussagen über die Gesamtbevölkerung der Stadt treffen zu können. Damit die Aussagen über die Stichprobe auf die Gesamtheit übertragen werden können, ist es wesentlich, dass die Stichprobe (sample) repräsentativ ist. Dies erfolgt in Form einer Zufallsstichprobe und damit in der Weise, dass alle Einheiten der Grundgesamtheit die gleiche Wahrscheinlichkeit haben, Teil der Stichprobe zu werden.110 Allerdings sind die Stichproben nicht bei allen empirischen [73] Untersuchungen repräsentativ. Vielmehr gibt es auch viele quantitative Studien, die nicht repräsentativ sind, etwa weil es methodisch nicht möglich oder zu teuer wäre, eine repräsentative Stichprobe zu bilden. Auch solche Untersuchungen erbringen wissenschaftliche Erkenntnis. Ihre Ergebnisse können aber nicht einfach verallgemeinert und auf die Grundgesamtheit bezogen werden.
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Auf die Konzipierung folgt die Durchführungsphase, in der die Datenerhebung vorgenommen wird. In der daran anschließenden Auswertungsphase werden die erhobenen Daten eingehend analysiert und bewertet, um das so gewonnene Wissen mit den Ausgangshypothesen abzugleichen. Dabei lassen sich quantitative Daten statistisch auswerten. Auf diesem Weg sind Aussagen über die Häufigkeitsverteilung bestimmter Merkmale in einer Gruppe oder über Beziehungen (Korrelationen) zwischen zwei oder mehreren Variablen möglich.111 So kann in einer Studie z. B. untersucht werden, ob die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Straftat zu werden, gleichmäßig nach Geschlecht, Alter oder ethnischer Zugehörigkeit verteilt ist oder ob zwischen den Variablen Alter und strafrechtliche Registrierung eine Korrelation besteht. Qualitative Verfahren erfordern hingegen andere Auswertungsmethoden, die je nach dem gewählten Forschungsdesign variieren. Neben freieren Formen der Interpretation ist die Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring112 mit einer systematischen Vorgehensweise eine häufig genutzte Methode.113
1 Garofalo 1885.
2 Lautmann 2014.
3 In Deutschland bestehen solche Dienste beim Bundeskriminalamt (BKA), beim Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) sowie bei der Kriminologischen Zentralstelle (KrimZ). Daneben sind in den Landesjustizministerien sogenannte Kriminologische Dienste eingerichtet.
4 So etwa Sack 1990, 15.
5 „Unified body of knowledge“, so Fattah 1997, 173; ähnlich Göppinger 2008, § 1 Rn. 5, § 3 Rn. 13 ff.; Schneider 1993, 3.
6 Zur Frage der Eigenständigkeit der Kriminologie s. Kunz 2014.
7 Walter 1982.
8 Rusche/Kirchheimer 1981.
9 Platt 1984, 153; skeptisch Steinert/Treiber 1978.
10 Melossi 1976, 29; Wächter 1984, 168.
11 Sutherland 1983.
12 Pearce 1976.
13 Foucault 1976b; zum Stellenwert von Foucault in der Kriminologie Althoff/Leppelt 1991; Krasmann/Volkmer 2007.
14 Foucault 1976b, 328.
15 Taylor/Walton/Young 1975, 26.
16 Mathiesen 1979.
17 Christie 1986, 84 ff., 134 ff.
18 Cremer-Schäfer 2015.
19 Sessar 1986, 381.
20 Michalowski 2016.
21 Ferrell 2009; Hayward/Young 2012.
22 Fabricius 2015, 117 ff.; Göppinger 2008, § 1 Rn. 6.
23 Zur Kritik am legalistischen Verbrechensbegriff Lamnek 2018, 49 f.
24 Insofern differenzierend Fabricius 2015, 119 ff.
25 Dazu auch Lamnek 2018, 52 ff.
26 Weber 1905.
27 Weber 1976, 1. Teil Kap. III.
28 Kunz 2013.
29 Jakobs 2003.
30 Bauman 2009.
31 Sutherland/Cressey 1978, 21.
32 Einen genaueren Überblick bietet Kinzig 2020.
33 Ausführlich Eisenberg/Kölbel 2017, § 1 Rn. 4 f.
34 Comte 1975.
35 Habermas 1967.
36 Sellars 1997, 117, sect. 63: „The myth of the given“.
37 Reckwitz 2012, 15, 32.
38 Göppinger 2008, § 4 Rn. 4 ff.
39 Sack 1968, 469.
40 Ferrell/Hayward/Young 2015, 1 ff.
41 So das „interpretative Paradigma” in der Sozialforschung, das Interaktion als interpretativen Prozess versteht,s. Lamnek/Krell 2016, 46; ausführlich Keller 2012.
42 Giddens 1984, 199.
43 Giddens 1984, 199.
44 Ferrell/Hayward/Young 2015, 209 ff.
45 Diekmann 2020, 531 ff.; Flick 2019; Mayring 2016.
46 Sack 2003, 87.
47 Sack 1996, 297 ff.
48 Feyerabend 1986.
49 Nagel 1986.
50 Bauman/May 2019, 16 f.
51 Popper 1971, 257.
52 Giddens 1984, 16 f.
53 Kaiser 1997, 1.
54 Kaiser 1997, 9.
55 Killias 2007, 315, 329.
56 Foucault 1976a, 41.
57 Kunz 1990, 92.
58 Sartre 1952, 545: „Durch ihre wissenschaftliche Wahrnehmung gewinnt die Gesellschaft von selbst ein reflexives Bewusstsein: sie beobachtet sich, sie beschreibt sich, sie erkennt im Dieb eines ihrer unzähligen Werke; sie erklärt sich durch generelle Umstände. Wenn sie ihre Arbeit beendet hat, bleibt von ihm nichts mehr übrig.“ Diese brillante Analyse aus dem Standpunkt eines „Zuchthäuslers“ war ursprünglich als Einführung zu den gesammelten Werken des wegen Raubes und Päderastie mehrfach inhaftierten Dichters Jean Genet gedacht.
59 Vgl. den Bildband Schild 1985.
60 Dazu Ruggiero 2003.
61 Dostojewskij 1994; Genet 1982.
62 Baudelaire 1979.
63 Sling (alias Paul Schlesinger) 1929.
64 Gramsci 1988; Havel 1984.
65 Morus/Campanella/Bacon 1960.
66 Zitiert nach Alff 1989, 85 f.
67 Deimling 1989, 171.
68 Foucault 1976b, 93 ff.; Newburn 2017, 126.
69 Becker 2002, 11 ff.
70 Sinngemäß: „Jede Gesellschaft hat die Kriminellen, die sie verdient“.
71 Lavater 1775-1779, 490.
72 Gall/Spurzheim 1809.
73 Garland 2002, 8 f.
74 Quételet 1914; Quételet 1921.
75 Quételet 1914, 104 f., 107.
76 Crews 2009.
77 Debuyst u. a. 2008.
78 Lombroso 1887.
79 Lombroso 1902, 326 f.
80 Kürzinger 1977.
81 Strasser 2005, 47.
82 Goring bei Vold 1958, 58.
83 Gebhardt/Heinz/Knöbl 1996.
84 von Liszt 1905, 65.
85 von Liszt 1883.
86 Bock 2019, Rn. 56 ff.
87 Fuchs/Hofinger/Pilgram 2016.
88 S. Bohnsack 2014, 13 ff.
89 Dazu Flick 2019, 28 f., 95; Meier 2021, § 4 Rn. 7 f.
90 S. Eisenberg/Kölbel 2017, § 13 Rn. 5.
91 Wincup 2013, 103.
92 Bock 2019, Rn. 74; Neubacher/Oelsner/Schmidt 2013, 675.
93 Wittenberg 2014, 96 ff.
94 Newburn 2017, 996.
95 Wincup 2013, 104.
96 Eisenberg/Kölbel 2017, § 13 Rn. 18.
97 Göppinger 2008, § 5 Rn. 32 f.; Wincup 2013, 105.
98 Eisenberg/Kölbel 2017, § 13 Rn. 20; § 16 Rn. 13.
99 Häder 2019, 285 ff.
100 Wincup 2013, 106.
101 Kromrey/Roose/Strübing 2016, 326 f.
102 Eisenberg/Kölbel 2017, § 13 Rn. 24; Schneider 2007, 226.
103 Kromrey/Roose/Strübing 2016, 359 ff.
104 Schneider 2007, 219; ebenso Meier 2021, § 4 Rn. 19.
105 Eisenberg/Kölbel 2017, § 13 Rn. 1; Meier 2021, § 4 Rn. 10 ff.
106 Coomber u. a. 2014, 35.
107 Kromrey/Roose/Strübing 2016, 77 ff.
108 Häder 2019, 117 ff.; Meier 2021, § 4 Rn. 22b.
109 Meier 2021, § 4 Rn. 24; Schneider 2007, 231 f.
110 Kromrey/Roose/Strübing 2016, 375.
111 Hierzu Meier 2021, § 4 Rn. 38 ff.
112 Mayring 2016.
113 Bock 2019, Rn. 87.