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III. Hirnforschung

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Lektüreempfehlung: Hallmann, Amina (2017): Wie ernst muss die Kriminologie die Neurowissenschaften nehmen? – Zum möglichen Aufkommen einer neuen Biokriminologie. NK 29, 3-14; Heinemann, Torsten (2014): Gefährliche Gehirne: Verdachtsgewinnung mittels neurobiologischer Risikoanalysen. KrimJ 46, 184-199; Kunz, Karl-Ludwig (2010a): Lebenswissenschaft und Biorenaissance in der Kriminologie. In: Böllinger, Lorenz. u. a. (Hrsg.): Gefährliche Menschenbilder. Baden-Baden, 124-137; Strasser, Peter (2013): Brains and Would-be Brains. KrimJ 45, 58-68.

Nützliche Webseiten: http://www.gehirn-und-geist.de/artikel/852357&_z=798884.

15 Die neuronale Hirnforschung gilt als eines der zukunftsträchtigsten und spektakulärsten Forschungsgebiete. Dabei zeigt sich, dass das Gehirn ein höchst komplexes biologisches System ist, in dem bestimmte Hirnregionen – besonders solche des limbischen Systems – arbeitsteilig spezifische Aufgaben der Verhaltenssteuerung wahrnehmen. Das untere, über den Augen liegende Stirnhirn, der präfrontale Cortex, funktioniert als Kontrollinstanz, welche die in limbischen Hirnbereichen entstehenden Gefühle und Impulse im Zaum hält. Beobachtungen an erwachsenen Patient:innen mit frontalen Hirnverletzungen durch Schädel-Hirn-Traumata belegen, dass sich diese Verletzungen häufig in erhöhter Reizbarkeit niederschlagen. Nach retrospektiven Untersuchungen an Gewalttäter:innen soll der präfrontale Cortex bei aggressiven Erwachsenen deutliche Auffälligkeiten aufweisen, welche entweder durch Verletzungen hervorgerufen oder angeboren und genetisch bedingt seien. Gewalttätiges Verhalten hänge ferner mit männlichem Geschlecht, Alter und persönlichen Gewalterfahrungen in der Kindheit zusammen. Zusätzlich wird eine Abhängigkeit der Gewalt von einem hohen Testosteron- und niedrigen Serotoninspiegel angenommen. Hirnanomalien sollen vor allem dann zu Gewalt führen, wenn sie von Kindheit an bestehen und psychosoziale Risikofaktoren wie massive Störungen der frühen [94] Mutter-Kind-Beziehung, inkonsequente Erziehung, Misshandlung und Missbrauch im Kindesalter hinzukommen.32

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Über diese Fälle beobachtbarer Auffälligkeiten und Defekte des präfrontalen Cortex hinaus zeigt die Hirnforschung, dass geistig-psychische Zustände nicht jenseits der physikalisch-physiologischen Materie des Gehirns angesiedelt sind, sondern sich innerhalb dieser Materie vollziehen. Damit ist die auf René Descartes (1596-1650) zurückgehende Annahme einer substantiellen Verschiedenheit von menschlichem Körper und Geist widerlegt. Bewusstseinszustände, Gedanken und Gefühle werden durch körperliche Gehirnprozesse verursacht; das Mentale ist vom Gehirnsystem biologisch produziert.

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Als einer der bekanntesten Belege dafür gilt das Libet-Experiment33, welches nach der Interpretation seines Erfinders zeigt, dass die Gehirnaktivität, welche zu einer Handbewegung führte, vor dem Moment einsetzte, in welchem sich die Person zu der Bewegung entschloss. Aufgrund solcher experimentell erlangter Befunde bezweifeln zahlreiche Hirnforscher:innen die Möglichkeit menschlicher Willensfreiheit: Was man als vermeintlich autonome Willensentscheidung wahrnehme, sei tatsächlich das Ergebnis sich unwillentlich vollziehender Gehirnaktivitäten. Damit werden angeblich auch der strafrechtliche Schuldvorwurf und die Legitimität der staatlichen Strafe infrage gestellt: Da der Entschluss zum Rechtsbruch neuronal gesteuert werde, könne das strafbare Verhalten nicht zum Vorwurf gemacht werden. Anstatt Strafen seien demnach nur rein präventive, also auf die Sicherung oder Besserung der Täter:innen abzielende, Maßnahmen der sozialen Verteidigung zulässig.34

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Mit Hinweisen auf Zusammenhänge zwischen Aggressionsneigungen und pathologischen Auffälligkeiten der Struktur bzw. der Aktivitäten des präfrontalen Cortex behauptet die neuronale Hirnforschung eine biologische – und damit moralisch standpunktfreie – Bestimmbarkeit des Bösen in der Anlage. Von humanistischen Ansprüchen befreit, wird das Individuum in einem naturwissenschaftlichen Rigorismus ohne Wahlfreiheit konzipiert.35 Insofern führt der Fortschritt der Biowissenschaften zu einer Rückkehr zu kriminologischen Positionen, die seit Lombroso in dieser Ungeschminktheit nicht mehr eingenommen [95] wurden: Es scheint demzufolge „gefährliche“ Menschen zu geben, die sich naturwissenschaftlich nachweisbar in ihrer individuellen biologischen Ausstattung von Ungefährlichen und Gesetzestreuen unterscheiden sollen.36

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Mit der Anzweiflung der Willensfreiheit beansprucht die neuronale Hirnforschung, das über Jahrhunderte in der Philosophie des Geistes umstrittene Verhältnis von menschlichem Körper und Geist geklärt zu haben. Die neuronale Hirnforschung präsentiert sich damit wie die Evolutionstheorie von Charles Darwin als universelle Leitwissenschaft, die grundlegende bislang umstrittene Fragen der menschlichen Existenz beantwortet.37 Wie zu Zeiten Darwins wird das Zusammenspiel von Körper und Geist naturwissenschaftlich monistisch gedeutet und auf Körperfunktionen zurückgeführt: In Verwerfung des Cartesianischen Dualismus wird das Geistige als mit den Aktivitäten der Physis des Gehirns identisch begriffen.

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Die Zusammenhänge von neuronalen Hirnaktivitäten und menschlichem Verhalten sind vielfach und sorgfältig belegt. Es erscheint auch plausibel, dass menschliches Verhalten durch die biologische Befindlichkeit des jeweiligen Individuums beeinflusst werden kann, speziell, wenn diese Befindlichkeit ungewöhnlich oder gar pathologisch auffällig ist. Entscheidend ist, was solche Zusammenhänge bedeuten: Folgt daraus wirklich, dass menschliches Verhalten durch Gehirnprozesse kausalgesetzlich determiniert wird? Dass sich menschliche Subjektivität auf neurobiologische Prozesse reduzieren lässt?

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Dies wird häufig mit großer Vereinfachung und in reißerischer Sprache behauptet. „Tatort Gehirn“38, „Die Gene des Bösen“39, „Das Verbrechergehirn“40 und ähnlich lauten durchaus seriös gemeinte Schlagzeilen und Buchtitel. Der dem zugrunde liegende Reduktionismus, wonach alle Manifestationen unseres Geistes ausschließlich eine Konsequenz der Aktivität physiologischer Prozesse im Gehirn seien, beruht auf einer unzutreffenden Überinterpretation empirischer Befunde. In eigentümlicher Verdrehung wird dabei das Gehirn zum Subjekt erklärt, das den Menschen als ausführendes Werkzeug benutzt, die neuronalen Prozesse zur Quelle von Gedanken. Nur durch diese Redeweise wird der [96] Eindruck eines die Eigenheit des Mentalen verdrängenden biologischen Determinismus erweckt.41 Was die Hirnforschung als neuronale Prozesse benennt, sind im Alltagsverständnis schlicht unsere Gedanken, und die vermeintliche Subjektstellung des Gehirns schrumpft in diesem Verständnis zu der Annahme, dass wir davon zumeist unbewusst und unwillentlich Gebrauch machen. Die Annahme, dass „das“ (nicht etwa unser!) Gehirn unser Verhalten steuert42, lässt sich schwerlich dahin erweitern, dass das Gehirn seine neuronalen Prozesse selbst neuronal steuert. Also muss der eigentlich bekämpfte Freiheitsgedanke wiedererweckt und nun dem Gehirn zugeschrieben werden, das als autonomes Subjekt nicht anders kann, als „seine Freiheit“43 wahrzunehmen.

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In ähnlicher Weise wie bei der Hypostasierung des Gehirns als steuerndes Subjekt wird bei der Antwort auf die klassische kriminalitätstheoretische Frage nach den Ursachen des Verbrechens die in genetischen und neurobiologischen Strukturen und Funktionen ausgedrückte menschliche Natur zur Produktionsstätte des gewalttätigen kriminellen Verhaltens stilisiert.44 Kriminelle mögen durch ihre veranlagten Triebe gesteuert sein – aber was sind ihre Triebe anderes als sie selbst?

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