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§ 7 Entwicklungen der Biokriminologie
ОглавлениеLektüreempfehlung: Laue, Christian (2010): Evolution, Kultur und Kriminalität. Berlin/ Heidelberg, 17-58; Wilson, Edward O. (1975): Sociobiology: The New Synthesis. Cambridge.
Nützliche Webseiten: http://www.geneticsandsociety.org/article.php?id=4713.
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Biologische Erklärungen besitzen gemeinsame Funktionen: Sie verbinden biologische mit sozialer Abweichung, markieren schwer überwindbare Grenzen zwischen Normalität und sozialer Abweichung, stehen in einem besonderen Näheverhältnis zur staatlichen Strafverfolgung, reproduzieren und legitimieren deren Praxis der Exklusion von Schwer- und Karrierekriminellen und rechtfertigen die Selektivität der Strafverfolgung durch Abgrenzung der „Unverbesserlichen“ von Gelegenheitstäter:innen.12
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Heute ist nur ein Teil der Erklärungen anlagebezogen; andere Erklärungen stützen sich auf biochemische Einflüsse der Umwelt, die durch die Nahrung, die Luft, durch Unfälle oder Krankheiten die Psyche in kriminogener Weise verändern können sollen. Die uns heute skurril anmutende Erkennbarkeit der Verbrecherpersönlichkeit an leicht erkennbaren äußerlichen Merkmalen wird nicht mehr vertreten. Vor allem nicht evidente, nur noch der Fachperson durch aufwendige wissenschaftliche Prozeduren erkennbare, zumeist genetische, Merkmale werden in einen Zusammenhang mit Kriminalität gebracht.
3 [89] Zudem wird der bereits von Lombroso als bloß typisch, jedoch nicht zwingend angenommene Zusammenhang zwischen bestimmten Anlagen und Kriminalität weiter gelockert. Der Anlageneinfluss wird nur noch im Sinne einer biologischen Prädisponiertheit und eines Risikofaktors für antisoziales Verhalten verstanden. Schon Lavater hat diese Einsicht weitsichtig formuliert:
„Keiner muss ein Bösewicht aus Anlage werden, aber alle können‘s. Die Übeltat kann nicht stehenden Fußes sich dem Schädel einprägen – sowenig so und so ein Schädel diese oder jene Übeltat begehen muss.“13
4 Biosoziale Theorien rechnen mit einem Zusammenwirken von Anlagen- und Umwelteinflüssen. Durch die moderne Soziobiologie14 inspiriert, wird Umwelteinflüssen eine intermediäre, doch prinzipiell nachrangige Bedeutung zugestanden.15 Anstelle einer kurzschlüssigen Verknüpfung von ungünstiger Anlage und Kriminalität nach dem simplen Muster „Böses gebiert Böses“ wird angenommen, dass die biologische Prädisposition bei gegenläufigen Umwelteinflüssen latent bleibe und kompensiert werden könne. Dementsprechend ist der Begriff der kriminellen Anlage im Sinne einer anlagebedingten Aggressionsbereitschaft bestimmter Menschentypen zu verstehen, deren Entwicklung je nach Umwelteinfluss auch in nicht kriminellen Bahnen verlaufen kann. Ein Beispiel bilden Zwillingsbrüder, von denen der eine die Karriere eines Gewaltverbrechers, der andere die eines Rausschmeißers in einem Nachtlokal einschlägt. Der biologische Genotyp eines Individuums bestimmt nach dieser Vorstellung die Grenzen seiner möglichen Phänotypen, deren konkrete Gestalt freilich durch Umwelteinflüsse konturiert wird. Bündig ausgedrückt: Die Anlage disponiert Möglichkeiten, welche die Umwelt ausschöpft.
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Dies bedeutet einen Schritt hin zu einer integrativen Betrachtung der Täter:innenpersönlichkeit (→ § 10 Rn 24 ff.), die mit einem Zusammenwirken von Anlage- und Umwelteinflüssen rechnet. Dem Anliegen der spätmodernen Kontrollgesellschaft entsprechend (→ §§ 19 Rn 67 ff.; § 20 Rn 53 ff.; § 21 Rn 24 ff.; § 22; § 24) richtet sich das Interesse weniger auf Einzelne und ihre Disziplinierung als auf die (möglichst frühe) Prävention.16