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IV. Einteilung kriminologischer Theorien
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Obgleich Kriminalitätstheorien zumindest derzeit nicht zu einer in sich konsistenten Globaltheorie geordnet werden können, bestehen doch zwischen den einzelnen Theorien Zusammenhänge und Abhängigkeiten. Der zunächst naheliegende Eindruck eines beziehungslosen Nebeneinanders von unterschiedlichen Beobachtungsfeldern und -perspektiven täuscht. Dies wird schon dadurch deutlich, dass die verschiedenen Theorien in Konkurrenz zueinanderstehen. Obwohl die theoretischen Deutungsmuster je einzeln eine konsistente Kriminalitätserklärung abzugeben beanspruchen, sind sie doch immer nur als Alternative zu gleichzeitig vertretenen anderen Deutungsmustern zu verstehen. Wie überzeugt man von einer bestimmten Kriminalitätserklärung auch sein mag – [86] das Bewusstsein, dass auch andere Deutungsmöglichkeiten wissenschaftlich vertretbar sind, bleibt allgegenwärtig.
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Die Konkurrenzsituation ist erklärungsbedürftig, scheint doch die Befassung mit dem einen thematischen Aspekt oder Gegenstandsbezug so legitim wie die Behandlung eines anderen. Weshalb zwischen den sich mit kriminellen Individuen befassenden Mikrotheorien und den soziale Strukturen thematisierenden Makrotheorien Brücken bestehen sollen, ist zunächst ebenso wenig einsichtig wie, weshalb den Mikrotheorien vorzuwerfen sei, dass sie die Makroperspektive vernachlässigen und umgekehrt. Indes ergeben sich Zusammenhänge daraus, dass sich einzelne Theorien in ihren Erklärungsansprüchen überschneiden, wobei die empirische Bestätigung der einen Erklärungshypothese die der anderen in Zweifel zieht. So wird die biologische Annahme der kriminellen Veranlagung bestimmter Individuen durch den Nachweis von Einflüssen des sozialen Umfeldes oder der gesellschaftlichen Struktur auf das Kriminalitätsvorkommen irritiert: denn wenn kriminelles Verhalten mit der individuellen Veranlagung zusammenhinge, müsste dieser Zusammenhang in unterschiedlichen sozialen Umfeldern und Strukturen stabil bleiben.
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Wir wollen das Theorienspektrum in seiner gesamten thematischen Bandbreite erörtern. Freilich ist angesichts der schier unendlichen Nuancierungsmöglichkeiten keine vollständige, sondern eine typisierende Darstellung angezeigt.10 Die Darstellung folgt einer systematischen Einteilung und nicht stets chronologisch der historischen Entstehung der erörterten Theorien.
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Drei Typen kriminologischer Theorien können unterschieden werden: Theorien, welche individuelle Merkmale benennen, die die Wahrscheinlichkeit kriminellen Verhaltens erhöhen. Ferner Theorien, welche Strukturmerkmale sozialer Einheiten bezeichnen, die die Häufigkeit und Verteilung des Kriminalitätsvorkommens beeinflussen. Schließlich Theorien, welche sich mit der Kontrolle der Kriminalität befassen.11 Individuenbezogene Theorien verwenden biologische, psychologische und psychiatrische Erklärungen. Diese Theorien gehen davon aus, dass die Bereitschaft zur Verübung kriminellen Verhaltens bei manchen Menschen größer als bei anderen ist, unabhängig von der sozialen Situation, in der sich diese befinden. Auf soziale Einheiten bezogene Theorien verwenden soziologische und sozialpsychologische Erklärungen. Sie nehmen [87] an, dass gewisse ungünstige Beschaffenheiten des sozialen Umfelds mit einem erhöhten Kriminalitätsvorkommen und einer bestimmten Kriminalitätsverteilung zusammenhängen, unabhängig von den Merkmalen der Individuen, die sich in diesem Umfeld befinden. Neben diesen beiden Gruppen von Kriminalitätstheorien, die also die Erklärung kriminellen Verhaltens beabsichtigen, finden sich Kriminalisierungstheorien, die auf die Kriminalitätskontrolle bezogen sind und die förmlichen Reaktionen auf Kriminalität untersuchen.
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In den folgenden Kapiteln werden zunächst individuenbezogene Theorien erläutert, welche um die Aufklärung der individuellen Ursachen des Straffälligwerdens (also ätiologisch) bemüht sind und das deterministische Verhaltenskonzept sowie das Erklärungsmodell (→ § 2 Rn 6 ff.) zugrunde legen. Wir werden diesen Theorietyp anhand von Entwicklungen der Biokriminologie (→ § 7) sowie psychologischer und psychiatrischer Persönlichkeitskonzepte (→ § 8) darstellen.
28 Bei den Theorien, die auf soziale Einheiten (z. B. das soziale Umfeld, Subkulturen, die Gesellschaft insgesamt) bezogen sind, wird Devianz mit den Strukturen und Beschaffenheit dieser Einheiten (z. B. Normen, Kriminalitätsaufkommen, Sozialstruktur) in Zusammenhang gebracht. Diese Theorien nehmen also an, dass die Bedingungen sozialer Einheiten verhaltensbestimmend sind. Solche sozialen Einheiten lassen sich auf der Mikroebene des Umfelds der Täter:innen, der Mesoebene sozialer Teilsysteme und der Makroebene gesamtgesellschaftlicher Strukturen lokalisieren. Auch diese Theorien sind (im Sinne statistischer Wahrscheinlichkeit) deterministisch, erklärend und ätiologisch. Wir werden diesen Theorietyp an Beispielen sozialstruktureller Konzepte (→ § 9) und der Sozialisation im sozialen Nahbereich (→ § 10) studieren. Die anschließend zu erörternden Kontrolltheorien (→ § 11) beruhen im Kern auf der Annahme von kriminalitätsbegünstigenden Kontrolldefiziten und lassen sich ebenfalls dem Typ der Kriminalitätserklärung aus Abnormitäten sozialer Einheiten zuordnen. Bei den aktuellen spätmodernen Theorien (→ § 12) ist eine eindeutige Typisierung nicht möglich. Während die ökonomische Kriminalitätstheorie eine von sozialen Einflüssen freie, also indeterministische Verhaltenswahl behauptet (→ § 12 Rn 12 ff.), geht die allgemeine Theorie von Gottfredson und Hirschi (→ § 12 Rn 43 ff.) von einer frühkindlichen, lebenslang erhalten bleibenden Verhaltensprägung durch Bezugspersonen aus.
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Als auf die Kriminalitätskontrolle bezogene Theorie ist der Labeling Approach (→ § 13 Rn 7 ff.) bekannt. Dieser befasst sich mit den Bedingungen der Vergabe der Eigenschaft „kriminell“ durch den Gesetzgeber und die Instanzen der [88] Strafrechtsanwendung. Um die Verbindung des Labeling Approach mit dem Verstehensmodell (→ § 2 Rn 11 ff.) deutlich zu machen und die fortwährende Bedeutung dieses Modells auch nach dem inzwischen eingetretenen Bedeutungsverlust des Labeling Approach zu begründen, wird Kriminalität in den Zusammenhang mit sozialer Interaktion gerückt und das interpretative Paradigma (→ § 13 Rn 1 ff.) als Leitidee präsentiert. Schließlich wird die soziale Konstruktion der Geschlechterrollen von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ in der Genderforschung als allgemeiner Deutungsrahmen für das Verständnis der Kriminalitätskontrolle und als Anwendungsbeispiel des interpretativen Paradigmas herausgearbeitet (→ § 9 Rn 36 ff.).